Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 25

Оглавление

Dr. Daniel Norden war gerade dabei, noch einmal die Krankengeschichte des Patienten zu studieren, dem er vor wenigen Minuten die Empfehlung gegeben hatte, sich einer längeren Kur zu unterziehen, als Helga Moll das Sprechzimmer betrat.

Das Anklopfen hatte Dr. Norden wieder einmal überhört, aber eigentlich war es auch nicht nötig, denn Molly wusste genau, wann sie nicht stören durfte.

Dr. Norden sah auf. Seine Gedanken waren noch bei dem Patienten mit dem eigenartigen Krankheitsbild.

»Also«, sagte Molly schnaufend, »so was ist mir nun doch noch nicht passiert, dass sich ein Patient gleich mit der Visitenkarte vorstellt. Ein feiner Mann, Chef, aber mit dem Reden scheint er es nicht zu haben.«

Molly war sichtlich beeindruckt, dazu bedurfte es keiner besonderen Menschenkenntnis.

Um aber den Mann zu durchschauen, der dann kurz darauf das Sprechzimmer betrat, musste man schon über ganz besondere Menschenkenntnis verfügen. Die besaß Daniel Norden zwar, aber in diesem Fall ließ sie auch ihn im Stich.

Dr. Björn Reuwen hieß der Mann. Daniel hatte es auf der Visitenkarte gelesen, und diese betrachtete er jetzt noch einmal. Rechtsanwalt war der Fremde, auch das ging aus der Karte hervor.

»Ich komme nicht als Patient zu Ihnen«, sagte Dr. Björn Reuwen nun mit tiefer, wohlklingender Stimme.

Dr. Norden sah ihn wieder an, mitten hinein in zwei tiefliegende graue Augen, die kein Lächeln zu kennen schienen. Um den herbgeschnittenen Mund lief ein kurzes Zucken, eine sehr schmale Hand fuhr durch das dichte Haar, das mehr grau als blond war.

»Ja?«, fragte Daniel Norden irritiert. »Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Dr. Reuwen setzte sich. »Ich komme in einer ganz besonderen Angelegenheit«, begann er. »Meine Mutter war in ihrer Jugendzeit mit Ihrem Vater befreundet.«

Was soll das, dachte Daniel überrascht, aber da fuhr Dr. Reuwen schon fort.

»Meine Mutter hat den Werdegang Ihres Vaters immer verfolgt. Sie hat ihn Jahre vor seinem Tod auch einmal wiedergetroffen. Er erzählte ihr von seinem Plan, ein Sanatorium zu gründen.«

»Die Insel der Hoffnung«, sagte Daniel. »Es wurde gegründet.«

Dr. Reuwen nickte. »Nach dem Tode Ihres Vaters, ich weiß. Auch meine Mutter erlebte diesen Tag nicht mehr. Doch ich komme heute zu Ihnen, weil ich in einem ganz besonderen Fall alle Hoffnungen auf diese Insel setze.« Ein tiefer, schwerer Atemzug folgte. »Das war eine lange Einleitung, doch ich muss Ihnen eine Erklärung geben, warum ich mich mit meinem Anliegen ausgerechnet an Sie wende.« Wieder machte er eine kurze Pause. »Meine Mutter hieß Agnete von Tandris. Vielleicht ist Ihnen der Name doch bekannt, Dr. Norden?«

Daniel war überrascht. »Gewiss«, erwiderte er. »Die berühmte Sängerin! Mein Vater hat oft von ihr gesprochen.«

»Sie verbrachte die letzten sechs Jahre ihres Lebens im Rollstuhl. Ihr guter Freund Friedrich Norden konnte ihr nicht mehr helfen.« Dr. Reuwens Stimme wurde immer leiser. »Aber ich erbitte Ihre Hilfe für eine andere Frau. Sie darf nur nicht erfahren, dass ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt habe.«

Spannungsgeladene Stille herrschte eine Minute zwischen ihnen, dann endlich kam Dr. Reuwen zur Sache.

*

Felicitas Norden, die bezaubernde junge Frau des Arztes, musste an diesem Tage wieder lange warten, bis ihr Mann zum Mittagessen erschien. Sie hatte das gute Lenchen, das murrend erklärt hatte, der Lendenbraten würde steinhart werden, immer wieder beruhigen müssen.

»Sie haben doch gesagt, dass er gleich kommt«, meinte Lenchen zum wiederholten Male.

»Ich habe nicht geahnt, dass er so lange aufgehalten wird«, erwiderte Fee sanft. »Es ist bestimmt ein ganz dringender Fall, Lenchen. Sie wissen doch, wie gern er Lendenbraten isst.«

Lenchen schüttelte empört den Kopf.

»Immer sind es dringende Fälle. Die Grippewelle ist endlich vorbei, und es kehrt doch keine Ruhe ein.«

Doch da schlug der Gong an. Fee eilte zur Tür. »Endlich«, empfing sie aufseufzend ihren Mann.

Daniel küsste sie auf die Nasenspitze. »Ich konnte Dr. Reuwen nicht wegschicken, Liebling«, erklärte er. »Ich habe selbst gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist.«

»Worum ging es denn?«, fragte Fee interessiert.

»Kann jetzt endlich gegessen werden?«, fragte Lenchen energisch.

Daniel nickte. »Ich erzähle es dir später, Fee. Jetzt habe ich einen Mordshunger.«

»Also wenigstens ein Fall, bei dem dir der Appetit nicht vergangen ist«, meinte sie lächelnd.

»Augenblicklich ist es noch gar kein Fall für mich.« Er blinzelte ihr zu. »Bereite dich darauf vor, dass wir morgen Nachmittag zum Tee eingeladen sind, mein Schatz.«

»Bei wem?«, fragte Fee überrascht.

»Bei Dr. jur. Björn Reuwen.«

»Du schließt doch sonst nicht so schnell Freundschaften, Daniel, und außerdem hätten wir wahrhaft genug alte Freunde, um die wir uns aus Zeitnot nicht kümmern können.«

Fee sagte es sehr kritisch und sogar ein bisschen aggressiv.

»Nicht gleich fauchen, Kätzchen«, sagte Daniel zärtlich. »Reuwens Mutter war Agnete von Tandris und eine Jugendfreundin meines Vaters.«

»Die berühmte Sängerin, von der Paps auch noch uralte Platten hat?«, fragte Fee staunend.

»Genau die, aber sie ist tot. Es geht dabei um eine andere Frau, und wenn ich dir die Geschichte erzähle, wirst du auch gespannt sein und nichts mehr dagegen einzuwenden haben, wenn wir ihr helfen.« Daniel sah seine Frau kurz an.

»Wobei?«, fragte Fee.

»Zu gesunden«, erwiderte Daniel.

»Erzähle«, bat Fee, schon wieder weichgestimmt.

*

Zur gleichen Zeit betrat Dr. Björn Reuwen sein Haus am Isarhang. Auch auf ihn war mit dem Essen gewartet worden. Allerdings bekam er von der schlanken Frau, die ihm die Tür öffnete, nicht die Andeutung eines Vorwurfs zu hören.

»Guten Tag, Christina«,?sagte er. »Verzeih bitte, dass ich so spät komme. Ich hatte noch eine wichtige Besprechung.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Björn«, erwiderte Christina. »Du bist zu rücksichtsvoll. Es bedrückt mich.«

Monoton klang ihre Stimme. Starr war das zarte Antlitz, das von schönem Haar umrahmt war, durch das sich über der Stirn eine breite weiße Strähne zog.

Sie ging ihm voraus, schleppend, wie eine Marionette an zu langen Fäden. Immer wieder krampfte sich ihm das Herz zusammen, wenn er dies sah.

Sie setzten sich an den geschmackvoll gedeckten Tisch. Katinka brachte das Essen. Sie war klein und rundlich, aber flink auf den Füßen. In Niederbayern war sie geboren, und für Christina war es anfangs schwer gewesen, sie überhaupt zu verstehen. Aber kochen konnte sie, das musste man ihr lassen, wenn sie sonst auch manchmal ihre Mucken hatte.

Hier wurde bei Tisch nicht gesprochen, und so zuckte Christina erschrocken zusammen, als Björn seine Serviette zusammenlegte und sagte: »Ich habe einen guten Freund wiedergetroffen. Er kommt morgen nachmittag mit seiner Frau zum Tee, und ich bitte dich sehr herzlich, uns Gesellschaft zu leisten.«

»Ich würde doch nur stören«, sagte Christina.

»Ich wüsste wirklich nicht, wieso«, sagte er und erhob sich. »Ich bitte dich eindringlich, Christina. Es liegt mir sehr viel daran, dass du Daniel Norden kennenlernst. Meine Mutter war mit seinem Vater sehr befreundet.«

Demütig senkte sie den Kopf. »Wenn du es wünschst, werde ich selbstverständlich zugegen sein«, sagte sie leise.

Björn machte einen Schritt auf sie zu. Er hob die Hände, als wolle er nach ihr greifen, aber resigniert ließ er sie wieder sinken, als sie schnell zum Fenster ging.

»So kann es doch nicht weitergehen, Christina«, sagte er heiser. »Du lebst. Du kannst nicht so dahinvegetieren.«

»Ich lebe? Wie lebe ich denn? Soll ich froh sein, dass ich am Leben geblieben bin?« Sie warf den Kopf herum, und seit langer Zeit sah er wieder Leben in ihrem Blick. Doch er wusste nicht, was er auf ihre Worte erwidern sollte.

»Bob ist tot«, sagte Christina. »Er war dein Bruder. Wie kannst du dich nur so leicht über seinen Tod hinwegsetzen?«

So leicht? Hatte sie eine Ahnung, was ihn peinigte? Nein, sie hatte keine, nicht die geringste Ahnung hatte sie. Und er war es doch gewesen, der alles getan hatte, damit sie die ganze Wahrheit nie erfahren sollte. Aber damit hatte er ihr wohl mehr geschadet als genützt, und das war es, was ihn von Tag zu Tag mehr quälte.

Sie ging an ihm vorbei, und er machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Er ging in sein Zimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Was er so lange von sich geschoben hatte, forderte er nun heraus. Er rief sich jenen Tag vor zwölf Monaten ins Gedächtnis, als in einer Dorfkirche in der Nähe von Kopenhagen die Hochzeitsglocken für seinen Bruder Bob Reuwen und für Christina Hammerdonk läuteten.

Sie läuteten umsonst. Niemals hatte das Brautpaar die Kirche betreten. Niemals war Christina Bobs Frau geworden.

Doch das wusste sie nicht. Sie wusste so vieles nicht, was Björn seit zwölf Monaten peinigte und ihn oftmals an den Rand völliger Verzweiflung gebracht hatte.

*

Fee sah ihren Mann fassungslos an. »Dann denkt diese Christina, dass sie verheiratet sei?«, fragte sie.

»Verheiratet gewesen, mein Liebes«, berichtigte Daniel sie nachsichtig. »Sie wurde schwer verletzt bei dem Unglück und lag sechs Monate in einem Krankenhaus. Ihr Zustand muss ziemlich hoffnungslos gewesen sein.«

»Und deshalb hat sich dieser verhinderte Ehemann abgesetzt? Wie schrecklich«, flüsterte Fee.

»Ich blicke da nicht richtig durch«, sagte Daniel nachdenklich. »Dr. Reuwen hat sich, was seinen Bruder anbetrifft, sehr vorsichtig ausgedrückt. Das Unglück passierte jedenfalls auf dem Wege zur Kirche.« Daniel machte eine kleine Pause.

»Und Christina Hammerdonk saß mit ihrem Vater allein im Wagen«, fiel ihm Fee ins Wort.

»Und mit dem Chauffeur. Ihr Vater war auf der Stelle tot, als sie von dem Lastwagen überrollt wurden, der Chauffeur starb noch an der Unfallstelle, und Christina kam, lebensgefährlich verletzt, in das Krankenhaus. So hat Dr. Reuwen es mir erzählt.«

»Und Bob Reuwen?«, fragte Fee voller Spannung.

Daniel zuckte die Schultern. »Darüber hat sich Dr. Reuwen nicht geäußert. Er hat mich gebeten, keine Fragen nach seinem Bruder zu stellen. Er will nur, dass Christina wieder ganz gesund wird. Nach seinen Schilderungen scheint sie gemütskrank zu sein.«

Fee sah ihren Mann nachdenklich an. »Nach allem, was du mir erzählt hast, grenzt es an ein Wunder, dass sie noch lebt. Wenn ein Mensch solche Verletzungen übersteht, kann man kaum erwarten, dass er von heute auf morgen wieder so wie früher ist.«

»Sie ist vor einem halben Jahr als geheilt aus dem Krankenhaus entlassen worden, Fee. Dr. Reuwen hat sie in eine völlig neue Umgebung gebracht und tut allem Anschein nach alles, um sie in ein normales Leben zurückzuführen. Er möchte, dass wir sie dazu bewegen, auf die Insel der Hoffnung zu gehen, da er das Gefühl hat, dass sie das tägliche Zusammensein mit ihm zusätzlich belaste.«

Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen.

»Das alles ist sehr merkwürdig«, sagte Fee schließlich. »Warum nimmt er sich ihrer so an? Er hat doch keine Verpflichtung. Anscheinend hat sich doch sein Bruder vor einer Verantwortung gedrückt.«

»So sieht es aus. Ich kann es nicht beurteilen, mein Liebes. Was weiß ich, was da alles mitspielt. Mich interessiert der Fall als solcher. Es geschieht recht oft, dass ein Mensch sein Erinnerungsvermögen infolge eines Unfalls, eines Schocks oder harten Schicksalsschlägen verliert, dass er sich aber an etwas erinnert, was nicht geschah, habe ich noch nicht erlebt. Christina Hammerdonk fühlt sich als Frau Reuwen.«

»Sie wollte es sein«, fiel ihm Fee ins Wort. »Es war ihr Wunsch, und so wurde es zu einer Wahnidee, zu einer fixen Idee.«

»Sie trauert um ihren toten Mann, der gar nicht ihr Mann und auch nicht tot ist«, sagte Daniel sinnend.

»Und warum hat ihr niemand die Wahrheit gesagt?«, fragte Fee.

»Das eben ist das Rätsel, das ich gern lösen möchte«, murmelte Daniel.

»Seit wir verheiratet sind, haben wir schon eine ganze Anzahl von Rätseln gelöst, aber wenn dich der Fall so interessiert, gehen wir eben zum Tee zu Dr. Reuwen.«

Daniel lächelte flüchtig. »Du bist ja auch schon neugierig geworden, Feelein«, sagte er hintergründig, und das stimmte.

*

Der Stil des Hauses, vor dem sie am nächsten Tag aus dem Wagen stiegen, war der Landschaft angepasst. Es war ein altes Haus, das schon einige Generationen überdauert hatte. In die Gartenmauer war eine Kupferplatte eingelassen, in die in verschnörkelten Buchstaben der Name von Tandris?eingraviert war.

Ein Herrenhaus war es, im ländlichen Stil und mit so viel Behutsamkeit renoviert worden, dass dieser nicht zerstört wurde.

Dr. Reuwen kam ihnen entgegen. Er trug einen dunkelgrünen Trachtenanzug. Sein Gesicht war so verschlossen wie gestern, aber in seinen grauen Augen war ein heller Schein, der seine Erleichterung ausdrückte.

Er neigte sich über Fees Hand. »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er leise, um dann schnell hinzuzufügen: »Bitte, wundern Sie sich nicht, wenn Christina überhaupt nicht spricht.«

Hatte Fee sich von diesem Dr. Reuwen schon eine ganz andere Vorstellung gemacht, so war sie restlos verblüfft, als sie nun Christina kennenlernte. Sie trug ein dunkelgraues Kleid ohne jeden Schmuck. Es war ihr zu weit und ließ die Zierlichkeit des so verhüllten Körpers kaum ahnen.

Ein heißes Mitgefühl durchströmte Fee, als sie in das starre, ausdruckslose Gesicht blickte, in glanzlose rehbraune Augen.

Dennoch war es ein sehr junges Gesicht. Fee hatte nicht vermutet, ein noch so junges Mädchen kennenzulernen.

»Christina«, sagte Dr. Reuwen leise und mit einem mahnenden Unterton, nachdem er Fee und Daniel vorgestellt hatte.

Christina richtete ihren Blick jetzt auf Fee, und nun zeigte ihr Gesicht doch eine Regung.

»Ich bin Christina Reuwen«, sagte sie monoton. »Ich heiße Sie willkommen.« Dann sah sie Björn an. »War es so richtig?«, fragte sie.

Ihm stieg das Blut in die Stirn. Fee und Daniel tauschten einen kurzen Blick.

»Sie wohnen sehr schön«, sagte Daniel, um sich erst einmal von der Beklemmung zu befreien.

»Meine Mutter ist in diesem Hause aufgewachsen«, erklärte Björn.

»Es war nicht nur deine Mutter, es war auch Bobs Mutter«, sagte Christina. Diesmal war ein aggressiver Unterton in ihrer Stimme.

»Gewiss, Christina«, sagte Björn rau.

»Ich bin gern hier, weil Bob dieses Haus liebte«, erklärte Christina. »Es stimmt doch, Björn?«

»Ja, es stimmt.« Man sah Björn an, wie hilflos er sich fühlte. Nun, immerhin ist sie nicht stumm, dachte Daniel. Ob es Björn Reuwen nicht lieber gewesen wäre, wenn ihr Mund verschlossen bliebe? Dem Mienenspiel des andern war nur Überraschung zu entnehmen.

Sie nahmen nun an einem runden Tisch Platz, und Daniel überlegte krampfhaft, wie man ein Gespräch in Gang bringen könnte. Er trank einen Schluck Tee und hätte sich fast daran verschluckt, als Fee sagte: »Ich

kann mich nicht erinnern, wann Bob das letzte Mal hier war.«

Klirrend stellte Björn seine Tasse auf den Tisch zurück. Sie warf ihm einen Blick zu, der bittend und warnend zugleich war.

»Sie kennen Bob?«, fragte Christina so überrascht, dass die Starre von ihrem Gesicht abfiel.

Fee nickte ohne Gewissensbisse. »Es ist ziemlich lange her, dass wir uns trafen«, sagte sie.

»Bob ist tot«, murmelte Christina. »Hast du deinen Freunden nicht gesagt, dass Bob tot ist, Björn?«

Atemberaubende Stille herrschte in dem Raum. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Fee, »Bob war auf der Insel der Hoffnung, als wir uns das letzte Mal trafen.«

»Auf der Insel der Hoffnung?«, fragte Christina stockend. »Davon hat er nie gesprochen.«

»Sie werden es vergessen haben, Christina«, sagte Fee. »Sie waren lange krank.«

Daniel trat ihr unter dem Tisch ganz leicht auf die Fußspitze, aber Fee blieb beherrscht.

»Ja, ich habe viel vergessen«, sagte Christina schleppend. »Ich war lange krank. Wo ist die Insel, von der Sie sprachen? Insel der Hoffnung … Ein eigenartiger Name.«

»Ein bedeutungsvoller«, sagte Fee betont. »Bob liebte die Insel. Er wollte Sie dorthin bringen, Christina.«

Guter Gott, ist Fee ganz und gar verrückt, schoss es Daniel durch den Sinn. Wie kann sie nur dieses Spiel so weit treiben?

Doch Fee schien die richtige Intuition gehabt zu haben.

»Bob wollte mich dorthin bringen?«, fragte Christina mehr sich selbst, aber ihre Stimme hatte viel mehr Klang als zuvor. »Er hat mir gesagt, dass das Ziel unserer Hochzeitsreise eine Überraschung für mich sein solle. Die Insel der Hoffnung!« Sie machte eine kleine Pause. »Warum hast du mich nicht dorthin gebracht, Björn?«, fragte sie aggressiv.

»Ich dachte nicht an die Insel«, erwiderte er tonlos und mit erstarrtem Gesicht.

»Du wolltest nur, dass ich Bob vergesse«, sagte Christina erregt. »Du wolltest, dass ich alles vergesse.« Ein zitternder Seufzer folgte. »Dabei muss ich mich doch erst wiederfinden. Ich erinnere mich doch nur an Bob, nur an Bob.«

Sie schluchzte laut auf und lief dann schnell aus dem Zimmer.

»Es war ein bisschen viel, Fee«, sagte Daniel mit sanftem Vorwurf.

»Die einzige Möglichkeit, sie aufzurütteln«, erklärte Fee darauf.

»Ich bewundere Sie, gnädige Frau«, sagte Björn.

»Wollen wir der Einfachheit halber doch nicht so formell sein«, meinte Fee. »Es ist auch besser, wenn Christina uns für gute Freunde hält. Sie müssen uns sehr viel von Ihrem Bruder erzählen, damit die Lüge glaubwürdig wird.«

»Wie bist du nur darauf gekommen, Fee?«, fragte Daniel, der sich von seiner Verblüffung allmählich erholte.

»Weiß ich selbst nicht. Es war eine Eingebung. Ich denke jetzt, dass eine Frau sie besser versteht als ein Mann. Wo ist ihr Zimmer?«

»Himmel, riskiere nicht zu viel«, sagte Daniel warnend.

»Es war das erste Mal, dass Christina wie ein lebendiges Wesen reagierte«, erklärte Björn. »Schlimmer, noch schlimmer kann es doch gar nicht mehr werden. Ich vertraue Ihrer Frau, Daniel Norden. So, wie meine Mutter Ihrem Vater vertraute.«

»Dann kapituliere ich«, sagte Daniel.

*

Fee stand vor der Zimmertür, zu der Björn sie geführt hatte. Sie vernahm ein erschütterndes Schluchzen, das ihr sehr zu Herzen ging. Aber jetzt gab es für sie kein Zurück mehr. Sie hatte A gesagt, nun musste sie auch B sagen. Bevor sie die Klinke niederdrückte, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel.

Das Zimmer war hell und luftig. Christina lag auf einem breiten Bett, das mit einer zartgrünen Decke bedeckt war. Zartgrün waren auch die Vorhänge, weiß und flauschig der Teppich. Es war ein bezauberndes Jungmädchenzimmer, und nun wurde es Fee erst so richtig bewusst, dass dieses schluchzende Geschöpf noch ein halbes Kind war.

Sie setzte sich auf den Bettrand und legte sanft die Hand auf den schmalen Rücken. Christina zuckte zusammen, aber sie wehrte die streichelnde Hand nicht ab.

Es dauerte lange, bis das Schluchzen verebbte, aber Fee sprach nicht auf Christina ein, sondern streichelte nur ihr Haar, das unter ihren Fingern knisterte.

»Sie haben Bob auch gerngehabt, nicht wahr?«, fragte Christina bebend.

»Dazu kannten wir uns zu wenig«, erwiderte Fee ausweichend und, wie sie hoffte, diplomatisch genug, um nicht widersprüchliche Empfindungen in Christina zu wecken.

»Man musste ihn doch gernhaben. Jeder hatte ihn gern«, flüsterte das Mädchen. »Alle haben mich beneidet. Ich wollte glücklich mit ihm sein.«

Fee horchte auf. Sie wollte glücklich mit ihm sein – eine eigenartige Formulierung. Hätte Christina nicht eigentlich sagen müssen: ›Ich war mit ihm glücklich?‹

»Wir können über Bob sprechen, Christina«, sagte sie behutsam.

»Ich möchte zu der Insel der Hoffnung. Das ist mein einziger Wunsch, aber Björn wird es verhindern. Er will nicht, dass ich an Bob denke.«

Fee sah Christina an und schüttelte leicht den Kopf.

»Er meint es gut mit Ihnen und wird Ihnen diesen Wunsch bestimmt erfüllen«, sagte Fee.

»Er hasst Bob«, schluchzte Christina erneut auf. »Ich fühle es doch. Er ist sein Bruder, aber er hasst ihn.«

Und wenn das stimmt, dann hasst er ihn, weil er dieses Kind aus seinem Leben gestrichen hat, ging es Fee durch den Sinn. Das konnte bedeuten, dass er sich nicht nur verantwortlich für Christina fühlte, sondern dass er sie liebte!

Guter Gott, wohin verirrten sich ihre Gedanken? Ihre Phantasie ging wieder einmal mit ihr durch … Es konnte auch ganz andere Gründe haben, dass Björn Reuwen seinen Bruder hasste, wenn Christinas Vermutung überhaupt Bedeutung beizumessen war.

Aber jetzt lebte dieses Mädchen. Es war keine Marionette mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Mensch, der etwas wünschte.

»Wir werden Sie zur Insel der Hoffnung bringen, Christina«, sagte Fee.

»Gegen Björns Willen?«, fragte das Mädchen.

»Er wird nicht widersprechen.«

Christina wandte ihr nun das Gesicht zu und blickte sie aus tränenvollen Augen an. »Sie kennen Björn nicht«, sagte sie leise. »Er hat Bob nie gemocht. Und Bob hat es gewusst!«

»Wir werden sehen, was Björn sagt«, erklärte Fee ruhig. »Sollte er widersprechen, werden wir Sie auch gegen seinen Willen auf die Insel bringen. Das verspreche ich Ihnen, Christina.«

Sie konnte sicher sein, dass Björn Reuwen nicht widersprechen würde. Er war es ja, der Christina dorthin bringen wollte. Es war sein Ziel gewesen. Deshalb war er zu Daniel gekommen. Björn hatte nur gefürchtet, dass Christina nicht einverstanden sein würde.

Zwei Menschen wohnten unter einem Dach, die aneinander vorbeilebten. Oder lebte Christina nur an Björn vorbei, weil sie ihn als Bobs Feind betrachtete?

Gewaltsam schob Fee ihre Grübeleien beiseite.

»So, jetzt werden die Tränen getrocknet«, sagte sie sehr bestimmt. »Dann gehen wir hinunter und sagen es Björn, dass Sie zur Insel der Hoffnung wollen. Wir können morgen früh fahren.«

Christina richtete sich auf. Lange sah sie Fee an, ohne etwas zu sagen.

»Sie bekommen ein Baby«, flüsterte sie schließlich. »Warum bekomme ich keines? Wenn man heiratet, bekommt man doch auch ein Kind. Wenn ich doch wenigstens ein Kind hätte!«

Armes kleines Mädchen, dachte Fee, nichts, aber auch gar nichts hast du gewusst, als du als Braut an der Seite deines Vaters zur Kirche fuhrst, alles war nur ein Traum. Nein, kein Traum, ein Trauma war es. Es war höchste Zeit, dass Christina sich ihres wirklichen Lebens bewusst wurde.

*

Mit schweren Schritten ging Björn indessen im Zimmer auf und ab.

»Es dauert lange, entsetzlich lange«, murmelte er. Dann blieb er stehen und lauschte. Er vernahm Schritte und sah Daniel mit unsicherem Blick an.

»Sie kommen beide«, sagte Daniel. »Nehmen Sie sich jetzt zusammen, Björn.«

Sie hatten ein langes gutes Gespräch miteinander geführt. So manches hatte Daniel über Bob und auch über Björn Reuwens ganz persönliche Einstellung erfahren. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass dieser Mann genauso Hilfe brauchte wie Christina, für die er sie erbeten hatte.

Fee und Christina kamen zur Tür herein. Fee hatte den Arm um das Mädchen gelegt.

»Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Björn«, erklärte Fee, die sich diese Einleitung schon überlegt hatte, während Christina ihr Gesicht kühlte. »Christina möchte so bald wie möglich zur Insel der Hoffnung. Ich habe vorgeschlagen, dass wir sie morgen dorthin bringen könnten.«

Starr war Christinas Blick jetzt auf den Mann gerichtet, der mitten im Zimmer stand.

»Würdest du mir gestatten, dass ich dich zur Insel bringe, Christina?«, fragte Björn heiser.

»Du?«, fragte sie staunend. Ihre kleine, kalte Hand umschloss fast schmerzhaft Fees Handgelenk. »Du hast nichts dagegen, Björn?«

»Ich freue mich, dass du diesen Entschluss gefasst hast, Christina. Wir könnten auch heute noch fahren, wenn du möchtest.«

»Heute noch«, wiederholte sie mechanisch. »Ja, heute noch. Dann wirst du befreit sein.«

Ein Aufstöhnen kam von Björn.

Daniel griff schnell nach seiner Hand, drückte sie fest und verhinderte eine Erwiderung, indem er überstürzt erklärte, dass die Insel schnell zu erreichen sei.

»Wenn du mich hinbringen willst, Björn?«, meinte Christina zögernd.

*

Zehn Minuten später traten Daniel und Fee den Heimweg an.

»Das war dein Meisterstück, Fee«, sagte Daniel.

»Abwarten«, erwiderte sie gedankenverloren. »Man kann es erst sagen, wenn es vollendet ist. Ich komme mir vor wie eine Modezeichnerin, die ein Kleid entworfen hat, von dem sie noch nicht weiß, ob sich die geeignete Trägerin dafür finden wird.«

Daniel sah sie von der Seite an.

»Aber es ist möglich, dass Christina in dieses Kleid hineinschlüpft und es ihr passt.«

»Ich muss sofort mit Paps telefonieren«, sagte Fee. »Ich nehme doch an, dass du auch einiges über Bob Reuwen in Erfahrung gebracht hast.«

»Björn ist sehr zurückhaltend. Ich vermute, dass sich vor diesem dramatischen Hochzeitstag einiges abgespielt hat, was durchaus nicht den Vorstellungen entsprach, die Christina sich machte«, sagte Daniel.

Fee warf ihm einen schrägen Blick zu. »Nennen wir es besser Erwartungen. Sie ist sehr jung.«

»Ein wohlbehütetes Mädchen aus bester, sehr vermögender Familie. Einzige Tochter. Die Mutter verstarb vor drei Jahren.«

»Eines natürlichen Todes?«, fragte Fee.

Daniel pfiff durch die Zähne. »Was dir alles durch den Kopf geht«, murmelte er.

»Es war nur eine Frage.«

»Wie kommst du auf solche Gedanken?«, fragte Daniel und sah Fee von der Seite an.

»Meine blühende Phantasie, weißt du.«

»Das ist keine Phantasie. Worüber hast du nachgedacht?« Seine Stimme klang jetzt eindringlich.

»Dass Christina schon früher einen Knacks bekommen hat.«

»Und woraus schließt du das?«

»Aus einer Bemerkung.«

»Was für eine Bemerkung?«

»Sie hat gemerkt, dass ich ein Baby erwarte. Mich wundert, dass sie es überhaupt zur Kenntnis genommen hat«, erwiderte Fee.

»Man kann es schon ziemlich deutlich sehen«, sagte Daniel zärtlich.

»Christina sagte: ›Warum bekomme ich kein Baby? Wenn man heiratet, bekommt man doch ein Kind.‹«

»Doch nicht mit der Heiratsurkunde frei Haus«, sagte Daniel sarkastisch. »So viel wird sie doch wohl wissen.«

Fee schaute einen Augenblick gedankenverloren vor sich hin.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, dass man bei ihr mehrere Komplexe ausräumen muss, damit sie ein vollwertiger Mensch wird. Man müsste wissen, wie sie vorher war.«

»Doch wohl ein normales junges Mädchen. Sonst wäre Bob Reuwen kaum auf den Gedanken gekommen, sie heiraten zu wollen.«

»Er hat sie nicht geheiratet, darin liegt der erste Haken. Er hat sie im Stich gelassen, das ist der zweite. Niemand wagte es ihr zu sagen, und wie es scheint, konnte sein Bruder ihn nicht bewegen, diesem armen Geschöpf zu helfen. – Oder hat er das gar nicht versucht?«

Daniel zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, Fee. Über diesen Punkt schweigt Björn Reuwen sich aus. Er hat mir nur gesagt, dass er jetzt tatsächlich nicht wüsste, ob sein Bruder noch lebt.«

»Wieso das?«

»Er hat seit drei Monaten keinerlei Nachricht mehr über ihn bekommen, oder, besser gesagt, nichts in Erfahrung bringen können.«

»Hat er dir eigentlich genau erzählt, was an jenem imaginären Hochzeitstag vor sich gegangen ist?«, fragte Fee.

»Nein.«

»Welchen Eindruck hast du von ihm gewonnen?«

»Dass er nicht sehr mitteilsam ist, mein Schatz.«

Fee überlegte einen Augenblick.

»Hat er Hassgefühle gegen seinen Bruder geäußert?«

»Nein. Er weicht nur jeder Frage aus.«

»Er schweigt, anstatt sie mit der Wahrheit wachzurütteln«, sagte Fee.

»Wir kennen die Wahrheit nicht, mein Liebes. Es mag sein, dass sie dem Mädchen einen Schock bereiten würde, von dem sie sich nicht mehr erholen würde. Eins scheint mir gewiss, Reuwen will Christina schonen.«

Eine Weile schwieg Fee.

»Christinas Vater ist bei dem Unglück ums Leben gekommen, aber von ihm spricht sie nicht. Ist das nicht auch merkwürdig, Daniel?«

Daniel nickte zustimmend.

»Alles ist merkwürdig. Ihr ganzer Zustand. Paps kann sich mal wieder als Seelendoktor betätigen.«

»Er liebt die ganz besonderen Fälle«, sagte Fee.

»Aber nur, wenn sie geheilt die Insel verlassen«, erwiderte Daniel.

»Paps wird sie nicht früher gehen lassen«, erklärte Fee.

*

Christina hatte sich sofort in ihr Zimmer zurückgezogen und begann, ihren Schrank auszuräumen. Reichhaltig war ihre Garderobe nicht.

Geistesabwesend legte sie die wenigen Kleider zusammen, dann ging sie in das kleine Schrankzimmer, um einen Koffer zu holen. Noch niemals, seit sie hier im Hause lebte, hatte sie diesen Raum betreten, und nun wich sie erschrocken zurück, als sie nach einem Lederkoffer griff, der jedoch so schwer war, dass er ihrer Hand entglitt. Sie hatte keine Kraft, sie sank in die Knie. Mit schreckensvollen Augen sah sie den neuen Koffer an.

Sie fasste sich an die Stirn, fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wolle sie ein Bild verwischen, das soeben lebendig geworden war. Mühsam erhob sie sich, stand auf schwankenden Füßen, ging in ihr Zimmer zurück und trat ans Fenster.

Der Koffer!?Sie hatte ihn gemeinsam mit Bob ausgesucht. Sie hatte sich damals zuerst für einen schwarzen entschieden, aber Bob hatte sie ausgelacht. »Diese Trauerfarbe«, hatte er gesagt. »Ich hasse schwarze Sachen. Nimm den gelben, Christina.«

Sie hatte den gelben Koffer genommen, obgleich er ihr nicht gefiel. Seit dem Tode ihrer Mutter hatte sie immer nur gedämpfte Farben für ihre Kleidungsstücke und alles Zubehör gewählt. Grau, dunkelblau, im Sommer schlichtes, schmuckloses Weiß.

Grelle Farben stünden ihr nicht, hatte ihre Mutter gesagt. Sie sei zu blass dafür.

Mit schleppenden Schritten ging Christina in das Bad und betrachtete sich in dem großen Kristallspiegel. Ja, sie war blass. Fahl war sie wie ein Geist. Nur die zwei Narben zeichneten sich jetzt scharlachrot auf ihren schmalen Wangen ab. Mit dem Zeigefinger betastete sie diese, und ein leises schmerzvolles Stöhnen kam dabei über ihre Lippen.

Warum war dieser Koffer so schwer, ging es ihr durch den Sinn. Was enthielt er wohl?

Ganz langsam ging sie in das Schrankzimmer zurück, kniete vor dem Koffer nieder und versuchte, die Schlösser zu öffnen. Sie waren verschlossen. Grübelnd stützte sie den Kopf in die Hand, dann plötzlich kam ihr blitzartig ein Gedanke. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, zog die Schublade auf und begann erregt darin zu kramen. Aus der hintersten Ecke zog sie ein schmales abgegriffenes Ledertäschchen hervor, befühlte es und öffnete dann vorsichtig den Reißverschluss, der schon beschädigt war. Dann hielt sie ein kleines Schlüsselbund in der Hand, das sie aus halbgeschlossenen Augen betrachtete. Sie vermeinte, die Stimme ihrer Mutter zu hören. »Wie ordentlich du bist, Christina. Das hast du nicht von mir«, hatte sie einmal lachend gesagt. »Aber kannst du dich gar nicht von dieser scheußlichen Tasche trennen?«

Christina fand die Tasche nicht scheußlich. Sie hatte sie selbst auf dem Markt in Taormina gekauft, während des ersten Urlaubs, den sie allein mit ihrem Vater verbrachte. Vierzehn war sie damals gewesen, ihre Mutter hatte Freunde in Kalifornien besucht.

Christina war es gar nicht bewusst, wie genau sie sich an diese Zeit so plötzlich erinnerte, eine Zeit, die wie andere Jahre auch in ihrem Gedächtnis ausgelöscht gewesen war.

Sie wurde sich auch nicht bewusst, wie sich nun Bilder an Bilder reihten, kleine, an sich nebensächliche Begebenheiten, die sich zu einem Zeitabschnitt zusammenfügten.

Wie in Trance schloss sie den Koffer auf, der gefüllt war mit zauberhaften, leichten bunten Sommerkleidern, zarter Spitzenwäsche und allem, was zu einer eleganten jungen Frau gehört.

Mit bebenden Händen nahm sie eines der Kleider heraus, hielt es sich an, stellte fest, dass es ihre Größe war. Und da entglitt es auch schon ihren Händen, und mit schreckgeweiteten Augen taumelte sie an die Wand, suchte dort nach einem Halt und glitt, diesen nicht findend, zu Boden. Sie wurde nicht ohnmächtig, sie hatte nur den Boden unter den Füßen verloren. Im nächsten Augenblick waren da auch schon ein paar kräftige Hände, die sie emporhoben.

»Was machst du hier, Christina?«, fragte Björn. »Was suchst du?«

»Einen Koffer«, erwiderte sie tonlos. »Ich suche einen Koffer!«, schrie sie dann heraus. »Wem gehört dieser Koffer?«

»Dir«, erwiderte er lakonisch.

»Nein, diese Kleider habe ich nie gesehen. Der Koffer gehört mir nicht! Ich hatte einen ähnlichen, aber …« Sie schwieg abrupt und blickte zu Boden.

»Und woher hast du die Schlüssel, wenn dieser Koffer dir nicht gehört?«, fragte Björn.

»Schlüssel? Ach ja, die Schlüssel. Mein Gott, sie passen wohl zu jedem Koffer dieser Art.« Sie warf den Kopf herum. »Es ist nicht mein Koffer, Björn. Ich bin nicht verrückt, wie du denkst. Ich habe diese Kleider nie gesehen.«

Björn sah sie einen Augenblick erstaunt an.

»Ich denke nicht, dass du verrückt bist«, erwiderte er heiser. »Wie kommst du nur auf diesen Gedanken? Du hast manches vergessen, Christina. Du hast dir damals viele neue Kleider gekauft.«

Sie legte die Hände vor das Gesicht und schluchzte lautlos auf. »Nicht diese, nicht diese«, wiederholte sie immer wieder. »Ich habe niemals so bunte Kleider getragen.«

»Bob wollte es wahrscheinlich«, sagte Björn. »Bitte, erreg dich nicht. Wir haben viele Koffer im Hause. Du brauchst diesen nicht zu nehmen.«

Sie löste sich aus seinem Griff und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Warum hast du eigentlich keine Frau?«, fragte sie. »Oder hast du eine und willst mich nur nicht mit ihr zusammenbringen? Vielleicht gehört ihr dieser Koffer mit den bunten Kleidern?«

»Nein, zum Donnerwetter, nein!«, brauste er auf. »Ich habe keine Frau, und diesen Koffer fand ich in deinem Wagen, Christina. Ich habe ihn mitgenommen, weil ich dachte, dass du die Sachen einmal brauchen würdest.«

»In meinem Wagen? In welchem Wagen?«, fragte Christina und sah ihn irritiert an.

»In dem Wagen, den dir dein Vater zur Hochzeit geschenkt hat«, sagte Björn ruhig.

Sie blickte zu ihm empor, mit einem trostlosen Blick, der ihn erschütterte.

»Mein Vater, mein Vater«, flüsterte sie, und dann brach sie in haltloses Schluchzen aus.

Er wusste selbst nicht, wie es kam. Plötzlich hielt er sie in den Armen, streichelte tröstend ihr Haar, ihren Rücken, so, wie es vorher Fee gemacht hatte, und sie stieß ihn nicht zurück, wie sie es sonst immer getan hatte, wenn er die Hand nach ihr ausstreckte.

»Wir werden jetzt deine Sachen einpacken, und dann fahren wir zur Insel der Hoffnung, Christina«, sagte Björn weich. »Dort wirst du Ruhe finden.« Noch immer hielt er sie in seinen Armen.

Er spürte, wie ihr Körper bebte, und dann fragte sie ganz leise: »War Bob wirklich gern dort? Wie wenig wusste ich doch von ihm, wie wenig.«

Ja, wie wenig, dachte Björn. Und das Wenige – nein, er wollte nicht darüber nachdenken. Christinas Genesung war wichtig, sonst nichts. Er wollte sie wieder so vor sich sehen wie an jenem Tag, als er sie kennenlernte. Ein Mädchen mit strahlenden Augen, die ihn fragend anblickten.

Ihr seht euch aber gar nicht ähnlich, hatte sie gesagt. Und später hatte sie gefragt, warum er nur so schrecklich ernst sei.

Leicht hatte Björn das Leben nie genommen, aber als er Christina sah, war ihm das Lachen restlos vergangen. Dieses heitere, unerfahrene Mädchen an Bobs Seite konnte er nicht anschauen, ohne Sorge zu empfinden.

Langsam löste sich Christina jetzt aus seinen Armen. Sie sah ihn lange und aufmerksam an und nicht mit dem abwesenden Blick, den man nicht festhalten konnte.

»Warum hast du mich eigentlich hierhergeholt, Björn? Warum, da dich doch nichts mit Bob verband?«, fragte sie schließlich sinnend.

»Immerhin waren wir Brüder«, erwiderte er mit belegter Stimme. »Es war selbstverständlich für mich, mich um dich zu kümmern.«

Er streifte das Mädchen mit einem langen Blick.

»Es ist wohl an der Zeit, dass ich meine eigenen Wege gehe«, sagte sie gedankenvoll. »Seltsam, wie dieser Tag das Leben verändert hat.«

»Schau vorwärts, Christina. Nicht zurück«, sagte Björn eindringlich.

Sie legte den Kopf in den Nacken. »Ich möchte doch erst morgen fahren, wenn es dir nichts ausmacht. Ich möchte nicht so überstürzt von hier fortgehen.«

»Es ist gut.« Mehr wusste er nicht zu sagen.

Christina war wieder allein. Sie hatte den Deckel des Koffers zugeschlagen, öffnete ihn dann aber wieder.

Einzeln nahm sie die Kleidungsstücke heraus. Alles war ihr fremd. Niemals hatte sie solche Wäsche getragen, niemals Kleider, die so extravagant waren.

Sie streifte ihr graues Gewand ab und schlüpfte in eines dieser Kleider. Es war etwas zu weit und viel zu lang, wie sie nun feststellte. Es passte überhaupt nicht zu ihr.

Wieder geriet sie ins Grübeln. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie diese Sachen ausgewählt hatte. Aber sie konnte auch keine Erklärung dafür finden, wie sie in diesen Koffer und dann in den Wagen gekommen waren, den ihr Vater ihr damals geschenkt hatte.

Auch an den Wagen konnte sie sich nicht erinnern. Es klaffte eine Lücke in ihrem Gedächtnis, eine große Lücke, die ganz leer war und doch ein Teil ihres Lebens.

Nun hatte sie die Sachen alle aus dem Koffer genommen und auf dem Boden ausgebreitet, aber da lag noch ein Umschlag. Ein weißer länglicher Fleck war es, der vor ihren Augen verschwamm.

Ihre Hand streckte sich danach aus, zuckte zurück und griff dann doch wieder danach.

Sie drehte das Kuvert um. Es war nicht zugeklebt. Auf der Rückseite entdeckte sie die Initialen B. R.

B für Bob, R für Reuwen. Oder galt das B für Björn? Gehörte dieser Koffer doch einer Frau, die ihm nahestand?

War sie berechtigt, das zu lesen, was auf dem Briefbogen stand? Sie faltete ihn mit bebenden Fingern auseinander. Es war Bobs Schrift. O ja, sie kannte diese Schrift.

Meine Geliebte,?las sie, nun werde ich bald bei Dir sein. Ich habe es geschafft. Ich habe das Geld bekommen. Der Weg ist frei für uns.

Christina konnte nicht weiterlesen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, und in ihrem Kopf herrschte eine entsetzliche Verwirrung. Benommen sank sie auf ihr Bett und schloss die Augen.

Es war doch Bobs Schrift, aber warum hatte er solche Worte an sie geschrieben? Was war damals geschehen? Sie zermarterte sich das Hirn.

Ein Klopfen an der Tür riss sie in die Wirklichkeit zurück. Katinka steckte den Kopf herein.

»Das Essen wäre angerichtet, gnädige Frau«, sagte sie höflich.

Ich leide an Wahnvorstellungen, ging es Christina durch den Sinn. Es passt nichts zusammen. Alles ist unwirklich. Ich muss mein wahres Ich suchen, wenn das Leben weitergehen soll. Und wieder dachte sie, dass es besser gewesen wäre, wenn der Tod auch sie mitgenommen hätte. Dann brauchte sie jetzt nicht mehr zu grübeln, nicht mehr diesen seltsamen, fürchterlichen Gedanken nachzuhängen, die sie manchmal überfielen und ihr Bilder vorgaukelten, die zu Albträumen wurden und einfach nicht wahr sein konnten.

Christina ging ins Esszimmer, wo Björn schon auf sie wartete.

Wieder saß sie starr und steif Björn gegenüber, sprach kein Wort, aß einen Bissen und schob dann ihren Teller zurück.

»Eigentlich möchte ich doch lieber noch heute fahren«, sagte sie tonlos. »Aber es ist wohl schon zu spät.«

Björns erstaunter Blick streifte sie einen Augenblick.

»Wir brauchen knapp zwei Stunden«, erwiderte er. Es wird besser sein, wenn sie so bald wie nur möglich in eine andere Umgebung kommt, dachte er für sich, obgleich er keine Erklärung für diesen plötzlichen Sinneswandel finden konnte.

Christina packte ihre Sachen in den gelben Koffer, die anderen ließ sie im Schrankzimmer auf dem Boden liegen. Den Brief jedoch legte sie wieder in den Koffer hinein, ohne jetzt noch einen Blick darauf zu werfen. All die Widersprüche, die schon so lange in ihr wühlten, hatten sich zu einem Chaos verstärkt. Aber sie war nicht mehr so apathisch wie in den vergangenen Monaten. Sie schob nicht alles von sich, was sich ihr aufzudrängen suchte. Jetzt wollte sie die Wahrheit finden, die ganze Wahrheit.

Katinkas Miene konnte man nicht entnehmen, ob sie erleichtert war oder betrübt, dass Christina auf die Insel der Hoffnung gehen wollte. Sie war beides, denn sie hatte ein tiefes Mitgefühl mit Christina, andererseits hatte sie sich aber auch immer gesagt, dass es so nicht weitergehen könne.

Nun saß Christina neben Björn im Wagen, schweigsam vor sich hin blickend, doch manchmal ruhte ihr Blick auf seinen Händen. Schmal, sensibel waren sie. Fest zupacken konnten sie sicher nicht so wie Bobs kraftvolle Hände, die von Wind und Wetter gebräunt waren. Er hatte jeden Sport getrieben. Aber was hatte er eigentlich sonst getan? Das Blut begann in ihren Schläfen zu hämmern.

»Ich möchte dir eine Frage stellen, Björn. Eine dumme Frage«, sagte sie plötzlich leise. »Was hatte Bob eigentlich für einen Beruf?«

Björn hielt den Atem an. Er wusste nicht gleich, was er erwidern sollte.

»Ich habe so viel vergessen«, fuhr Christina fort. »Irgendwie muss ich aus diesem Labyrinth herausfinden.«

Christina schaute ihn einen Augenblick von der Seite an.

»Bob studierte noch«, erwiderte Björn zögernd. »Er stand vor dem Examen.«

Christina verschlang die Hände ineinander. »War er nicht schon fast dreißig?«, fragte sie tonlos. »Ich glaube, ich habe auch das vergessen, oder ich bringe alles durcheinander.«

»Er hat viel Zeit verloren mit den Tennisturnieren. Erinnerst du dich nicht? Er war doch unser Champion.«

»Ach ja; und dann hat er ja auch an den Segelregatten teilgenommen. Papa hat …« Sie unterbrach sich.

Er vernahm einen zitternden Seufzer.

Christinas Blick war starr auf die Straße gerichtet.

»Was dachtest du eben?«, fragte Björn drängend.

»Nichts, nein, nichts. Es passt nicht zusammen. Ich weiß nicht, was es ist, Björn, aber ich kann keinen Gedanken zu Ende denken.«

»Du wirst Ruhe finden auf der Insel der Hoffnung«, sagte er behutsam. »Ich bin davon überzeugt, Christina.«

Eine Weile war es still zwischen ihnen.

»Ich dachte, du würdest es mir nicht erlauben, dass ich dorthin gehe.«

»Das ist doch absurd. Du bist erwachsen und kannst deine Entscheidungen allein treffen. Ich kann dir nichts verbieten und würde es auch nicht.«

»Lange Zeit konnte ich nicht selbst entscheiden«, flüsterte sie, »und ich weiß nicht, ob ich jetzt dazu fähig

bin. Ich habe alles hingenommen, was du angeordnet hast. Warum hast du

das alles für mich getan?«, fragte sie leise.

Er schöpfte tief Atem und kämpfte ein paar Sekunden mit sich.

»Ich habe dich sehr gern. Wie eine kleine Schwester«, erwiderte er rasch. »Ich hoffe, dass du mich einmal besser verstehen lernst.«

»Ich habe mich nicht dankbar gezeigt. Du beschämst mich.«

»Sag so etwas nicht, Christina.«

Wieder war es eine Zeit lang still zwischen ihnen.

»Wenn ich die Zusammenhänge selbst nicht finde, wirst du mir dann weiterhelfen?«, fragte sie.

Sein Herz begann schmerzhaft zu klopfen. Alles wollte er für sie tun, aber dieses eine nicht.

»Lerne, dich an der Gegenwart zu freuen«, sagte er. »Denk bitte nicht zurück.«

Er will mir etwas verschweigen, ging es ihr durch den Sinn. Es gibt etwas, an das ich mich nicht erinnern soll. Hing das mit Bob zusammen oder mit ihrem Vater?

»Wir sind gleich da«, sagte Björn. »Dort drüben die Lichter kommen von der Insel.«

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Insel der Hoffnung, dachte sie, aber worauf hoffe ich? Ob sie sich denn einmal wieder des Lebens würde freuen können? Gab es für sie eine Hoffnung?

*

»Nun kommen sie also doch«, hatte Dr. Cornelius vor zwei Stunden zu seiner Frau Anne gesagt, nachdem Björn Reuwen ihn kurz verständigt hatte.

»Scheint wirklich ein komplizierter Fall zu sein«, meinte Anne. »Aber so etwas reizt dich ja, mein Lieber.«

»Du könntest Katja schon ein bisschen vorbereiten. Die Mädchen sind in einem Alter, und vielleicht finden sie Kontakt zueinander.«

»Wenn nicht, wird Mario das schon besorgen«, meinte Anne Cornelius zuversichtlich.

Für Außenstehende waren die Familienverhältnisse der Cornelius’ etwas kompliziert. Dr. Johannes Cornelius war verwitwet gewesen und hatte aus seiner ersten Ehe die Tochter Felicitas, die jetzige Frau Dr. Norden. Anne hatte ihren Mann ebenfalls verloren, und aus dieser Ehe die Tochter Katja. Und den kleinen Mario, den Daniel Norden einmal vor dem Ertrinken gerettet hatte, hatten sie adoptiert.

Er schlief schon längst, als Dr. Reuwen und Christina eintrafen. Anne hatte mit ihrer Tochter Katja inzwischen über das besondere Schicksal dieses Mädchens, das sich als Witwe fühlte, gesprochen. Katja war über ihre Lebensjahre hinaus reif.?Sie hatte selbst schon schlimme Zeiten hinter sich gebracht und war lange an den Rollstuhl gefesselt gewesen. Als sie zur Insel kam, hatte man ihr keine großen Chancen eingeräumt, dass sie je wieder laufen könnte, aber die Insel der Hoffnung hatte ihr dieses Wunder beschert.

Katja war überzeugt, dass hier wundersame Kräfte wirkten, nicht nur durch die Quelle, die der kleine Mario wiederentdeckt hatte, die sie die Quelle der Liebe nannte.

Nein, für Katja war hier alles wie ein Wunder. Sie erlebte nun schon seit Monaten, wie Verzweifelte und Kranke gestärkt, verwandelt und geheilt wieder von hier fortgegangen waren, und sie hatte außerdem das Wunder ihrer ersten großen Liebe hier erlebt, die allen Unkenrufen zum Trotz keine Episode zu bleiben schien.

David Delorme, der schon berühmte junge Pianist, hatte sie gerade heute wieder angerufen. Er gab in Frankreich Konzerte, aber nächste Woche wollte er wieder für einige Tage kommen und sich von den Strapazen erholen. Katja schwebte auf rosaroten Wolken, und da sie ein mitfühlendes Herz hatte, bedauerte sie alle, die nicht so glücklich waren wie sie. –

Sie hatte das hübsche Appartement hergerichtet, das nun auf Christina Hammerdonk wartete, die auch hier als Frau Reuwen einziehen würde.

In den kleinen Häusern, die malerisch über die Insel verteilt lagen und nicht die Anmut dieser Landschaft störten, wie es ein großes Gebäude getan hätte, herrschte schon abendlicher Frieden. Jeweils vier Appartements waren in einem Haus untergebracht, und jedes von ihnen bot wohnlichen Komfort und Gemütlichkeit.

Dr. Cornelius und seine Frau Anne hatten die Ankommenden begrüßt. Umflossen vom Mondlicht stand Christina, als Katja nun auch näher kam. Ganz unbefangen streckte sie Christina die Hand entgegen. »Herzlich willkommen«, sagte sie fröhlich und reichte dann auch Dr. Reuwen die Hand.

Wenn es nicht David in Katjas Leben gäbe, wäre sie noch tiefer von Björn beeindruckt gewesen, aber schon im Augenblick war sie erschrocken, wie sehr er ihr gefiel. Das kam wohl auch daher, dass er, wenn auch älter, vom gleichen Typ wie David war. Er hatte auch eine breite Stirn, tiefliegende, melancholische Augen und eine schmale, feingliedrige Hand.

Björn dagegen dachte, wie ähnlich sich Katja und Christina vom Typ her waren. Nur war Katja eben voller Leben. Ihre Augen strahlten, ihr schöner Mund lächelte.

Björn wollte sich nicht lange auf der Insel der Hoffnung aufhalten, wollte gleich wieder zurückfahren. Es schien ihm besser so, und Christina sagte nicht, dass er bleiben solle, obgleich sie es plötzlich wünschte.

»Wirst du mich besuchen, Björn?«, fragte sie verhalten und mit gesenktem Blick.

»Wenn du es wünschst, ja«, erwiderte er.

»Ich habe dir schon so viel von deiner Zeit gestohlen«, sagte sie leise.

»Das will ich nie wieder hören.« Er griff nach ihren Händen und drückte sie an seine Brust. Sie spürte den harten Schlag seines Herzens unter ihren Fingerspitzen.

Ein Erschrecken war plötzlich in ihr. Wovor? Sie konnte es sich nicht erklären.

»Ich danke dir«, flüsterte sie und legte ihre Wange an seine Schulter. Seine Lippen berührten ihr Haar. Sie spürte es nicht, sie wusste nicht, wie gern er sie ganz fest in die Arme genommen hätte. Aber er durfte es nicht wagen.

»Lass mich wissen, wann ich dich besuchen darf«, sagte Björn.

»Immer, wenn du willst und Zeit hast.«

Seine Kehle war eng, seine Lippen trocken, als er ganz schnell ihre beiden Hände küsste.

Sie blieb wie angewurzelt stehen, während Dr. Cornelius Björn zum Wagen begleitete.

»Tun Sie alles, was nur möglich ist, für Christina«, sagte Björn. »Doch ich fürchte, es wird schrecklich werden, wenn sie sich an alles erinnert.«

»Wir werden sie nicht aus den Augen lassen«, versprach Dr. Cornelius, der von all dem Schrecklichen, was sich vor einem Jahr abgespielt hatte, nur das Wenige wusste, was Fee ihm gesagt hatte.

Aber er hatte nicht gewagt, Dr. Reuwen zu fragen. Und nun wollte er erst dafür sorgen, dass Christina eine ruhige Nacht hatte.

Katja hatte sie unterdessen schon zu ihrem Appartement begleitet.

»Wie hübsch hier alles ist«, sagte Christina. »Und diese herrliche weiche Luft!« Sie war ans Fenster getreten, atmete tief, blickte in sich versunken zum Himmel.

»Insel der Hoffnung«, sagte sie leise vor sich hin, »Insel der Hoffnung.«

»Es wird Ihnen bestimmt bei uns gefallen«, sagte Katja befangen. »Ich hole jetzt Ihren Tee.«

»Eigentlich mag ich keinen Tee«, sagte Christina.

»Den werden Sie schon mögen. Probieren Sie erst mal, bevor Sie protestieren. Probieren geht über studieren, sagt Paps.«

»Einen Augenblick, bitte«, sagte Christina, als Katja zur Tür eilte. »Kannten Sie Bob auch, Bob, meinen Mann?«

Katja war verwirrt. Davon hatte ihre Mutter nichts gesagt.

»Ich war nicht immer hier«, erwiderte sie verlegen, »und anfangs kam ich mit niemandem in Berührung. Warum, erzähle ich Ihnen ein andermal.«

Katja war froh, als Dr. Cornelius kam. Er entnahm ihrem flehenden Blick sogleich, dass er auf einiges vorbereitet sein müsse. Aber ihm stellte Christina die Frage nach Bob seltsamerweise nicht. Davon erfuhr er erst später von Katja, als sie noch beisammensaßen.

»Es war eine Idee von Fee, Christinas Interesse an der Insel so zu wecken«, erklärte er. »Bob Reuwen war niemals hier, aber davon werden wir nichts verlauten lassen. Wir müssen mit aller Vorsicht vorgehen. Kein unbedachtes Wort, Katja. Du kannst leicht ausweichen, wenn du sagst, dass dies vor deiner Zeit gewesen sein muss.«

»Habe ich gesagt, Paps«, erwiderte sie.

»Unsere gescheite Tochter«, meinte Dr. Cornelius liebevoll.

»Ich habe hier eine ganze Menge gelernt, und wir hatten es hier auch schon mit sehr schwierigen Menschen zu tun. Christina ist nur völlig verstört. Ihr Blick hat so etwas Suchendes. Was sagen wir ihr nur über Bob?«

»Darüber muss ich nachdenken, mein Kleines«, erwiderte Dr. Cornelius.

»Wir werden sie schon wieder in Ordnung bringen«, sagte Katja. »Ich bin doch ein gutes Beispiel, wie heilsam unsere Atmosphäre ist. Seltsam, wie rasch man vergisst, wenn man froh und glücklich ist. Ich weiß schon gar nicht mehr so recht, wie viel Sorgen ich euch bereitete.«

»Und das ist gut so, Kindchen«, sagte Dr. Cornelius und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

*

Christina wollte gar nicht schlafen. Sie wollte ihre Gedanken in die richtige Reihenfolge bringen, doch das gelang ihr nicht. Schnell und mit Macht kam der Schlaf und hüllte sie ein wie in eine weiche, warme Decke. So tief und traumlos hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen, und als sie am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne schon hell ins Zimmer hinein.

Sie rieb sich die Augen und musste sich erst zurechtfinden. Es dauerte Minuten, bis sie begriff, wo sie sich befand. Schnell schlüpfte sie wieder ins Bett,

als es an die Tür klopfte. Sie zog sich

die Decke bis zum Hals und schaute verschreckt Katja an, die mit einem fröhlichen Lächeln hereinspaziert kam und ihr einen guten Morgen wünschte.

»Gut geschlafen?«, fragte Katja.

»Ja, danke, sehr gut. Ich muss mich erst zurechtfinden«, erwiderte Christina scheu.

»Dazu haben wir viel Zeit. Jetzt wird ein schönes Kräuterbad genommen, danach wird sich wieder ins Bett gelegt und dort das Frühstück eingenommen.«

»Ich bin aber nicht krank. Sie brauchen sich mit mir doch nicht solche Umstände zu machen«, sagte Christina leise.

Katja lachte herzlich.

»Aber Sie können sich am ersten Tag ein bisschen verwöhnen lassen. Unter der Woche geht es dann schon strenger zu. Sie werden sich wundern, was mit Ihnen alles angestellt werden wird, Christina. Übrigens ist es hier üblich, dass wir unsere Gäste mit dem Vornamen ansprechen und sie sich untereinander auch. Das vereinfacht alles. Manche möchten nämlich sogar vergessen, wer sie sind, während sie hier weilen.«

Katja war es nicht fremd, dass Patienten so reagierten wie jetzt auch Christina, nämlich schweigsam, staunend, reserviert. Sie ging leichten Tones darüber hinweg.

Als Christina dann in dem duftenden warmen Wasser lag, entspannte sich ihr Körper. Ein wohliges Gefühl durchströmte sie. Die Beklemmungen lösten sich, auch ihr Kopf wurde freier. Sie atmete tief ein und aus, wie Katja es gesagt hatte, bis das Klingelzeichen ertönte, das sanft war und sie nicht erschreckte.

Ein wenig ermattet war sie, als sie aus der Wanne stieg und sich in den weichen Frotteemantel hüllte, aber im Bett fühlte sie sich gleich viel wohler. Wenige Minuten später schob eine junge Krankenschwester ein fahrbares Tischchen herein, das so konstruiert war, dass man es über das Bett schieben konnte, aber es war nicht einer jener üblichen Krankentische, sondern er hatte eine Platte mit kleinen bunten Punkten. Und reichlich gedeckt war er.

Die Krankenschwester hatte sich mit dem Namen Susi vorgestellt und sagte freundlich, dass Christina sich nur Zeit lassen solle. Gegen elf Uhr würde Dr. Cornelius kommen und alles mit ihr besprechen.

Christina bekam einen leichten Schrecken.

Was alles, fragte sich Christina, der es jetzt erst bewusst wurde, dass die Insel der Hoffnung ein richtiges Sanatorium war, wenngleich hier auch alles anders gehandhabt wurde als in jenem, in dem sie sich früher schon einmal acht Wochen aufgehalten hatte.

Aber was hatte Bob hier zu finden geglaubt, er, der doch nichts mit Kranken zu schaffen haben wollte?

Der Duft des Kaffees stieg ihr in die Nase, die frischen knusprigen Brötchen zogen ihre Blicke an. Es war Christina unbegreiflich, aber sie hatte solchen Heißhunger, dass kein Gedanke sie jetzt noch ablenken konnte.

Es war so, als hätte man ihren Geschmack bis ins Kleinste erraten. So sehr hatte sie ein Frühstück seit ewigen Zeiten nicht mehr genossen. Aber doch nicht deshalb, weil sie es allein einnahm? Hatte Björns Gegenwart sie denn so sehr gestört?

*

Björn fühlte sich sehr einsam an diesem Morgen. Er hatte schlecht geschlafen und wieder einmal viel nachgedacht. Ihm fehlte Christina, obgleich ihm bei ihrem Anblick das Herz oft schwer geworden war. Und Katinka fehlte sie auch.

»Ist da auch alles in Ordnung?«, hatte sie gefragt.

Es sei alles in Ordnung, hatte er erwidert, aber so ganz hatte Katinka ihm das wohl nicht geglaubt.

»Hoffentlich stellen sie ihr nicht wieder so blöde Fragen, dass sie noch mehr verwirrt ist. Der Dr. Norden hat doch einen sehr vernünftigen Eindruck gemacht und seine Frau auch. Sie hätten Christina doch behandeln können«, sagte sie und warf Björn einen schiefen Blick zu.

Jetzt, da Christina es nicht hören konnte, nannte sie auch deren Vornamen. Ihr war es sowieso ein Buch mit sieben Siegeln, warum man Christina Frau Reuwen nennen sollte. Katinka wusste Bescheid. Ihr hatte Björn reinen Wein einschenken müssen, denn möglicherweise hätte ja mal ein Fall eintreten können, der Katinkas schlichtes Gemüt auch verwirrt hätte. Bisher allerdings war dieser gefürchtete Fall glücklicherweise nicht eingetreten.

Katinka wollte eine Antwort von Björn hören, aber er sagte nur: »Es ist besser so. Christina wird sehr gut betreut werden.«

»Sie wäre längst richtig gesund, wenn ihr die Wahrheit gesagt worden wäre«, erklärte Katinka. »Ich bin nicht für solche Mätzchen. Entschuldigung, das zu sagen steht mir nicht zu, aber die gnädige Frau hätte den Humbug nicht mitgemacht, das weiß ich.«

Nein, Mama hätte es anders angefangen, dachte Björn. Oder doch nicht? Was hätte es für seine Mutter wohl bedeutet, dass alles so gekommen war? Es war ein sinnloses Unterfangen, darüber nachzudenken. Seine Mutter war tot, Christinas Vater war tot, Bob irgendwo verschollen.

Aber es war nicht auszuschließen, dass er eines Tages wiederkommen würde, dann, wenn er wieder Geld brauchte! Wovon andere ein Leben lang leben konnten, floss ihm durch die Finger wie nichts. Und nun war er schon wieder bei dem Punkt, der sein Denken lähmte.

Er zog seine Lederjacke an und eilte hinaus. Katinka lief ihm noch nach und fragte, wann er essen wolle, aber er hörte es schon gar nicht mehr.

Zuerst ging er ein Stück an der Isar entlang, aber dort begegneten ihm zu viel Menschen, die der herrliche Frühlingstag auch ins Freie gelockt hatte. Björn lockte der Tag nicht, ihm war es gleich, ob die Sonne schien oder nicht, er wollte nur allein sein, und das war er dann im Wald. Dort traf er niemanden, dort störte ihn kein Geräusch.

Es war heute auf den Tag genau zwei Jahre her, dass er mit Jennifer diesen Weg gegangen war. Ein herrlicher Frühlingstag wie dieser, und er hatte sie fragen wollen, ob sie seine Frau werden wolle.

»Müssen wir denn so lange herumlaufen?«, hatte sie gefragt. »Meine Füße tun weh.«

Er hatte nicht von seinen Gefühlen für sie gesprochen. Sie waren heimgegangen, und dort wartete Bob auf sie. Von irgendwoher war er gekommen, braungebrannt, blendend aussehend. Björn hatte sofort gewusst, dass nur ein Grund ihn zu diesem Besuch veranlassen konnte. Er war wieder einmal pleite.

Aber Jennifer war hingerissen von ihm gewesen. Welche Frau konnte Bob schon widerstehen?

Für Björn hatte jener Tag zwei bittere Erkenntnisse gebracht. Einen Streit mit seinem Bruder, der ihm bewies, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten, und den Abschied von Jennifer, die er nie mehr wiedergesehen hatte. Sie war mit Bob weggefahren, nachdem sie ihm erklärt hatte, dass er ein langweiliger, knickeriger Pedant sei.

*

Christina hatte sich angekleidet. Es war halb elf Uhr, aber sie wollte nicht im Bett liegen, wenn Dr. Cornelius kam.?Sie wäre gern auf die Terrasse hinausgegangen, aber sie traute sich nicht, denn sie hörte Stimmen. Lange Wochen waren Björn und Katinka ihre einzige Gesellschaft gewesen, und außerdem war ein Tag für sie wie der andere gewesen, ob es warm oder kalt war, ob die Sonne schien oder ob es regnete oder schneite.

Jetzt hatte sie Sehnsucht nach der Sonne, nach lichten Farben, und sie dachte an die bunten Kleider, die sie aus dem Koffer genommen hatte.

Nein, diese Kleider nicht, solche wollte sie gar nicht tragen. Aber nicht dieses triste Grau, das nicht zu dem strahlenden Frühlingstag passte.

Ihren Koffer hatte sie noch nicht ausgepackt. Schwester Susi hatte sie gefragt, ob sie ihr helfen könne, als sie den Tisch wieder hinausgerollt hatte, aber da hatte Christina abgewinkt. Das konnte sie wohl doch allein.

Langsam öffnete sie den Deckel des Koffers. Sie wusste jetzt genau, dass sie dort jenen Brief finden würde, den sie nicht zu Ende gelesen hatte. Diesen seltsamen Brief, mit dessen Inhalt sie so gar nichts anfangen konnte.

Einen kurzen Augenblick zögerte sie, dann nahm sie den Brief heraus und entfaltete ihn. Langsam begann sie zu lesen.

Ich?habe das Geld bekommen, der Weg ist frei für uns.?

Bis dahin war sie gestern schon gekommen, und nun las sie weiter.

Du fliegst nach Hamburg voraus. Ich bringe Deine Koffer mit. Übermorgen um diese Zeit werde ich bei Dir sein. Ich habe jetzt Björns schwache Stelle entdeckt. Sie heißt Christina. Ihretwegen wird er alles vertuschen. Wie er es macht, soll mir gleich sein. Sie ist so naiv, dass sie nicht einmal bemerkt, wie weit meine Gedanken von ihr entfernt sind. Aber wozu viele Worte. Bald werde ich Dich in meinen Armen halten, und wir können miteinander reden. Du verstehst doch, dass ich die Nacht nicht bei Dir verbringen konnte. Björn ist in Kopenhagen. Er könnte uns zufällig sehen, und ich weiß, dass Du ihm nicht begegnen willst. Auf bald, zauberhafteste aller Frauen, Dein Bob.

Wort für Wort hatte Christina gelesen, das Büttenpapier zwischen ihren Fingern gefühlt und genau gewusst, dass dies keine Halluzinationen waren. Bob hatte den Brief geschrieben, aber nicht an sie, sondern an eine andere Frau. Und einer anderen Frau gehörten die Kleider in dem Koffer. Aber Björn hatte doch gesagt, dass er in dem Wagen gelegen hätte, den ihr Vater ihr zur Hochzeit geschenkt hätte.

Christina überlegte krampfhaft.

Zur Hochzeit! Bob und sie hatten doch geheiratet. Es war unmöglich, dass er einer Frau so hatte schreiben können.

Was war eigentlich unmöglich? Was wusste sie denn? Woran konnte sie sich denn erinnern?

Eine schwarze Wand stand undurchdringlich vor ihr. Nicht eines von jenen Bildern, die ihr manchmal beklemmend vor Augen gestanden hatten, wurde lebendig. Aber der Brief mit Bobs Handschrift war da. Sie hielt ihn fest, knüllte ihn zusammen, legte das zerknitterte Papier auf ihre Handfläche und betrachtete es unverwandt, als warte sie darauf, dass es sich in Luft auflöse.

Und da trat Dr. Cornelius ein. Sie hörte ihn nicht. Sie starrte nur fasziniert das Papier an. Und dann, als eine warme Hand ihren Arm umschloss, schrie sie auf und glitt ohnmächtig zu Boden.

*

Fee legte den Telefonhörer auf. »Paps hat versucht, Dr. Reuwen zu erreichen«, sagte sie. »Es hat sich niemand gemeldet. Etwas ist mit Christina passiert. Sie war ohnmächtig. Ein Brief spielt dabei eine Rolle. Aus ihr ist kein Wort herauszubekommen. Er bittet uns, zu versuchen, Dr. Reuwen zu erreichen.«

Sie hatten sich in einer windstillen Ecke auf ihrer Dachterrasse gesonnt und den geruhsamen Sonntagnachmittag genossen. Um vier Uhr war es mit der Ruhe vorbei.

Abwechselnd versuchten sie nun, Dr. Reuwen zu erreichen, aber das gelang ihnen erst kurz nach sechs Uhr. Björn versprach, sofort zu ihnen zu kommen. Vierzig Minuten später war er da. Es wäre ein höllischer Verkehr gewesen, sagte er zur Entschuldigung, dass sie so lange auf ihn warten mussten.

Daniel hatte inzwischen mit seinem Schwiegervater telefoniert und etwas mehr erfahren, denn Dr. Cornelius hatte es für verantwortbar gehalten, den Brief zu lesen.

Björns Gesicht war fahl geworden, als Dr. Norden davon sprach.

»Ich hatte keine Ahnung, dass ein solcher Brief existiert«, sagte er tonlos. »Ich weiß auch nicht, wie Christina in seinen Besitz gekommen ist. Allerdings ist mir bekannt, dass eine andere Frau im Leben meines Bruders existierte. Ich konnte nicht ahnen, dass dies alles noch einmal aufgerührt werden würde.«

»Wir wollen uns nicht in Ihr Vertrauen drängen, Herr Reuwen«, sagte Fee, »aber meinen Sie nicht, dass es besser wäre, wenn Sie uns mehr von dieser Geschichte erzählen würden?«

Björn war völlig niedergeschlagen.

»Dürfte ich erst mit Dr. Cornelius telefonieren?«, fragte er deprimiert.

»Aber gewiss«, erwiderte Fee und wählte schon die Nummer.

Sie erfuhren, dass Christina jetzt schlafe und Katja bei ihr sei. Es wäre kein Grund zur Beunruhigung gegeben. Vielleicht hätte Christina sogar einen heilsamen Schock bekommen, aber es wäre wohl gut, wenn Dr. Reuwen mithelfen würde, diese Psychose zu heilen.

Björn ließ sich schwer in einen Sessel fallen. »Es ist eine abscheuliche Geschichte«, sagte er heiser. »Und manches ist auch für mich rätselhaft.«

»Was zum Beispiel?«, fragte Daniel, als Björn wieder in Schweigen versank.

»Dieser Unfall.« Björn stöhnte auf. »Und nun dieser Brief.«

»Für uns ist alles rätselhaft«, warf Fee sanft ein und schaute Björn mit einem ermunternden Blick an.

Björn nickte. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich Sie hineingezogen habe.«

»Lieber Björn Reuwen«, sagte Daniel Norden ruhig, »Sie haben keine Ahnung, was wir mit unseren Patienten schon mitgemacht haben. Von Entführung bis Mordanschlag war schon alles dabei. Und Sie ahnen wohl auch nicht, wie aufregend angeblich tägliche Vorkommnisse in einer Arztpraxis werden können. Wir könnten versuchen, gemeinsam die rätselhaften Vorgänge zu lösen.«

»Daniel hat sehr viel dafür übrig«, sagte Fee mit einem kleinen Lächeln.

Björn sah mit einem verlegenen Lächeln von einem zum anderen.

»Ich raube Ihnen nun auch noch den wohlverdienten Sonntag«, sagte er zögernd.

»Ach was, wir haben genug gefaulenzt«, meinte Daniel. »Sie tun uns jetzt nur einen Gefallen, wenn Sie uns nicht länger auf die Folter spannen.«

»Mix uns erst einen Cocktail«, bat Fee.

Das tat Daniel nebenbei, während Björn nun stockend zu erzählen begann.

»Bob rief mich eines Tages an. Er wollte mir sagen, dass seine Heirat bevorstehe, und ich sei eingeladen, falls ich mich überzeugen wolle, dass er eine gute Partie mache. Ich hatte nicht die Absicht, mich davon zu überzeugen, aber Magnus Hammerdonk lud mich persönlich ein. Sein Name war mir bekannt. Er besaß ein weltweites Unternehmen, eine Fischereiflotte, und auch sonst war er finanziell mehr als gut abgesichert. Insgeheim hoffte ich, dass Bob endlich vernünftig geworden wäre. Immerhin war anzunehmen, dass sich ein Mann von Hammerdonks Format genau über seinen zukünftigen Schwiegersohn erkundigen würde. Aber wie schon so manches Mal hatte Bob unseren guten Namen als Aushängeschild benutzt.«

»Ein Name, der Kredit verschafft«, warf Daniel ein.

Björn nickte ernst. »Sie haben es erfasst.« Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Er sah so elend aus, dass Fee es direkt mit der Angst bekam.

»Ich flog also nach Kopenhagen und lernte die Hammerdonks kennen. Bob zeigte sich von seiner besten Seite. Er konnte sehr charmant sein, und dort gab er sich ausgesprochen seriös. Es gelang ihm, auch mich zu täuschen. Allerdings war Christina so bezaubernd, dass ich meinte, sie hätte ein Wunder an ihm vollbracht. Sie war noch ein völlig unerfahrenes Mädchen, wie man es heutzutage selten findet. Ihr Vater hätte ihr wohl jeden Wunsch erfüllt, aber ich spürte schnell, dass er Bob gegenüber nicht frei von Misstrauen war, doch wohl aber zu anständig, um mich auszufragen.«

Wieder machte Björn eine kleine Pause.

»Bob zeigte sich auch mir gegenüber von seiner besten Seite. Er machte mir klar, dass er seinem Schwiegervater auch auf dem Papier gewisse Garantien bieten müsse, und bat mich darum, ihm seinen Aktienanteil aus dem Erbe unserer Eltern auszuzahlen. Christina wolle endlich fort von ihrem tyrannischen Vater, sagte er, und er könne sich an einer Schweizer Firma beteiligen. Nun muss ich leider sagen, dass Bob munter gelebt hatte und von seinem Erbe nicht mehr viel übrig war. Aber ich ließ mich von ihm beschwatzen. Ich glaubte, dass er Christina ehrlich liebe.« Er machte eine kleine Pause. »Es ist eine endlos lange Geschichte«, sagte er dann.

»Erzählen Sie nur«, forderte Daniel ihn auf.

»Ich erklärte Bob, dass jetzt ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt wäre, die Aktien abzustoßen, aber dass ich seinem Schwiegervater Garantien geben könnte. Wir stritten wieder, wie schon so oft. Bob warf mir vor, dass ich ihm immer Knüppel zwischen die Beine geworfen hätte, und noch manches andere. Es hatte oft Auseinandersetzungen zwischen uns gegeben, doch bei dieser ging es noch um einen anderen Menschen, der zu schade war für ein leichtfertiges Abenteuer.«

Daniel überlegte. Sprach da nicht

die blanke Eifersucht aus diesen Worten? Dass Björn sehr viel für Christina übrig hatte, stand außer Zweifel, doch Daniel schätzte ihn als einen Gentleman ein.

»Bob wollte Christina heiraten«, sagte Daniel betont. »Meinen Sie, dass er auch die Heirat als Abenteuer betrachtete?«

Ein herber Zug legte sich um seinen Mund.

»Christina hatte einen einflussreichen Vater und eine reiche Mitgift zu erwarten«, sagte Björn voller Bitterkeit, »und ich sollte sehr bald erfahren, dass Bob es gar nicht bis zur Heirat kommen lassen wollte.«

»Guter Gott«, entfuhr es Fee, »waren denn nicht schon alle Vorbereitungen dafür getroffen?«

»Ja, natürlich. Ich hegte auch keinen Zweifel, dass die Heirat stattfinden würde. Immerhin machte ich Bob Vorhaltungen und sagte ihm, dass er keinerlei Nachsicht von mir erwarten könne, wenn es zu einem Skandal käme. Ersparen Sie mir bitte die unerfreulichen Einzelheiten. Ich hatte mich entschlossen, wieder abzureisen.«

»Wie war Herr Hammerdonk zu dieser Heirat eingestellt?«, fragte Fee.

»Ich weiß es nicht. Er war ein sehr zurückhaltender Mann. Er liebte seine Tochter über alles und hätte ihr wohl kaum einen Wunsch abgeschlagen. Und Christina war blind verliebt. Hätte ich da als Buhmann auftreten sollen?«

»Es ist dann ja auch nicht zur Heirat gekommen«, versuchte Fee abzulenken. »Das Schicksal wollte es anders.«

Das Schicksal, dachte Björn. Ja, das Schicksal hatte sich eingemischt, aber Bob war schon über alle Berge gewesen, bevor das Unglück geschah, und das hatte Christinas Vater auch gewusst.

Darüber konnte Björn nicht sprechen. Die Nordens hatten sich als Freunde erwiesen, aber diese Vorgänge drei Tage vor der Hochzeit waren für ihn so entsetzlich deprimierend, dass er zu niemanden darüber sprechen konnte.

Daniel und Fee spürten das. Taktvoll überbrückten sie das Schweigen. Nur eine Frage stellte Daniel nach kurzem Zögern.

»War Herr Hammerdonk ein tyrannischer Vater?«

»Nein, das bestimmt nicht, sonst hätte er von vornherein ein Veto gegen diese Heirat eingelegt. Er war ein sehr korrekter und vorsichtiger Mann. Wohin immer er Christina auch an jenem Vormittag bringen wollte, als das Unglück geschah, zur Kirche gewiss nicht.«

Bestürzt sahen ihn zwei Augenpaare an. »Sie sind davon überzeugt?«, fragte Daniel.

»Herr Hammerdonk suchte mich im Hotel auf. Er sagte mir, dass er sich etwas einfallen lassen müsse, um es Christina schonend beizubringen, dass mein Bruder ein Gesinnungslump sei. Es ist demütigend, solches zu hören und nicht widersprechen zu können. Immerhin scheint Herr Hammerdonk aber bis zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht den Mut gefunden zu haben, Christina die Wahrheit zu sagen.«

»Nun aber hat sie eine Ahnung davon«, erklärte Daniel, »und jetzt wird sich erweisen, ob sie sich der Wahrheit gewachsen zeigt.«

»Und es bricht für sie auch die Welt ihrer Träume zusammen«, sagte Björn bedrückt.

»Eine irreale Welt«, sagte Fee eindringlich, »es ist wohl an der Zeit, dass sie sich in der Gegenwart zurechtfindet.«

»Wird sie das?«, fragte Björn.

Darauf konnte ihm jetzt noch niemand eine Antwort geben.

*

Mit dem schönen Wetter schien es vorerst vorbei zu sein. Der Himmel war grau und trübe, als Björn am nächsten Morgen zur Insel fuhr. Er hatte am Vorabend noch mit Dr. Cornelius telefoniert, von ihm aber erfahren, dass Christina mit Hilfe eines Beruhigungsmittels Schlaf gefunden hätte.

Während er die Fahrt in einer unruhevollen Erwartung zurücklegte, führte Fee ein langes Telefongespräch mit ihrer Freundin Isabel Guntram, der bekannten Journalistin, die jetzt allerdings bereits ihren Posten als Redakteurin aufgegeben hatte und die letzten Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit mit Dr. Jürgen Schoeller traf, der auf der Insel der Hoffnung als Arzt tätig war.

Zwischen den beiden hatte es nicht mit einer romantischen Verliebtheit begonnen. Zwei reife Menschen hatten ihre Gemeinsamkeiten entdeckt, sich lieben gelernt. Isabel, besessen von ihrem Beruf, hatte ziemlich lange gebraucht, sich für das Leben der Nur-Arztfrau zu entscheiden, und so ein bisschen nebenbei wollte sie ihren Beruf dann auch noch als Hobby pflegen. Aber sie verfügte noch immer über die besten Verbindungen, war in den Redaktionen der großen europäischen Zeitungen wohlbekannt, und fast immer gelang es ihr, das in Erfahrung zu bringen, was sie wissen wollte.

Ihren Freunden Fee und Daniel Norden hatte sie in besonderen Fällen schon mit manchen Informationen weitergeholfen, doch was den Fall Hammerdonk anbetraf, war dies nicht so einfach, wie Fee es sich anfangs vorgestellt hatte. Da musste sie sich erst an Arne Larsen wenden, was sie gar nicht so gern tat, da er zu ihren glühendsten Verehrern gehört hatte. Er zeigte sich dann auch hocherfreut, dass sie sich seiner erinnerte. Um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, verriet sie ihm nicht, dass sie kurz vor ihrer Hochzeit stand.

Arne sagte ihr am Telefon, dass er in dieser Woche sowieso nach München hatte kommen wollen und nun gleich das nächste Flugzeug nähme.

Isabel erschien am Nachmittag bei Fee, attraktiv wie eh und je, doch diesmal mit leicht erschüttertem Selbstbewusstsein.

»Wenn Jürgen einen Eifersuchtskoller bekommt, müsst ihr mir aber beistehen«, sagte sie zu Fee. »Ich dachte doch nicht, dass Arne höchstpersönlich angerückt kommt. Wenn ich ihm sage, dass ich schon so gut wie verheiratet bin, bringt er es fertig und zeigt mir die kalte Schulter. Dann ist es nichts mit den Informationen, die ihr haben wolltet. Ist das denn überhaupt so wichtig?«

»Sehr wichtig«, bestätigte Fee, »und Jürgen wird bestimmt Verständnis zeigen, denn inzwischen kennt er Christina Hammerdonk auch schon.«

»Ist sie hübsch?«, fragte Isabell schnell.

»Du bist ja auch eifersüchtig«, erwiderte Fee lächelnd. »Wegen Jürgen brauchst du dir doch wirklich keine Gedanken zu machen. Für ihn bist nur du vorhanden, andere Frauen bemerkt er gar nicht.«

»Und mir können alle anderen Männer gestohlen bleiben, aber manchmal spinnt Jürgen, und mit Arne hatte ich wirklich mal einen heißen Flirt. Allein sein möchte ich mit ihm nicht.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Fee.

»Dann kommt ihr zu uns. Das wirst du ja wohl fertigbringen«, meinte Fee gelassen.

»Dann muss ich es ganz schlau anfangen und in meiner Wohnung eine Nachricht hinterlassen, dass ich hier zu erreichen bin«, erklärte Isabel. »Sonst kann ich diesen hartnäckigen Burschen zu nichts überreden. Da habe ich mich in eine schöne Geschichte eingelassen. Dabei hätte ich so viel zu tun.«

In der Praxis gab es jetzt auch noch genug zu tun.

Isabel räumte das Feld mit dem Versprechen, gegen sechs Uhr zu kommen, da das Flugzeug aus Kopenhagen planmäßig zehn Minuten vor sechs Uhr landen würde.

Daniel grinste, als Fee ihm das sagte. »Wer hätte je gedacht, dass Isabel sich mal zu einem sanften, bürgerlichen Eheweib entwickeln würde«, meinte er. »Aber meinst du wirklich, dass wir etwas erfahren könnten, was nützlich wäre?«

»Wir werden es sehen. Was hat sich eigentlich bei Frau Billing herausgestellt?«, lenkte sie ab. »Was hat die Röntgenaufnahme erwiesen?«

»Nichts«, erwiderte Daniel.

»Nichts?«, fragte Fee betroffen. »Aber sie simuliert nicht. Sie hat etwas mit dem Magen.«

»Es muss eine rein nervöse Geschichte sein, und über solche sagt ein Röntgenbild nichts aus.«

»Sie muss behandelt werden«, sagte Fee.

»Ganz deiner Meinung, mein Schatz, aber bei ihr ist es schwierig. Sie reagiert auf die meisten Medikamente allergisch.«

»Versuchen wir es doch mit Lenchens Tee«, schlug Fee vor.

»Ich bringe unseren Berufsstand in Misskredit, Fee«, murmelte er seufzend.

Fee machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ach was, das tun wir nur, wenn wir nicht helfen können. Ich werde ihr einfach sagen, dass wir ihn von der Insel haben. Der Zweck heiligt die Mittel«, erwiderte sie bestimmt.

»Du schreckst auch vor nichts zurück«, sagte Daniel lächelnd.

Fee deutete auf den Medikamentenschrank. »Schauen wir uns doch diese Angebote mal an. Jede Woche kommen sie mit einem neuen Medikament daher, das wir an unseren Patienten erproben sollen. Man kann dabei ganz schön hereinfallen, meinst du nicht? Der Tee kann nicht schaden, aber manchmal kann der Glaube Berge versetzen. Und bedenken wir doch mal, welche Erfolge Paps schon mit den Naturheilmitteln erzielt hat.«

»Denk an das neue Arzneimittelgesetz, Fee«, sagte Daniel mahnend.

»Jeden Tag denke ich daran. Was da allein an Psychopharmaka auf den Markt gebracht werden.«

»Ich bin vorsichtig mit diesen Mitteln, und Frau Billing würde ich schon gar keines verordnen.«

»Ich dachte jetzt nicht an Frau Billing, sondern an Christina und ihren Vater. Ich möchte wirklich wissen, genau wissen, was sich damals abgespielt hat und wie es zu dem Unfall gekommen ist.«

An diesem Morgen hatte Christina ihr Frühstück nicht angerührt. Das Bad hatte sie genommen, weil Dr. Cornelius darauf bestand, aber sie war nicht so lange in der Wanne geblieben, bis es läutete. Sie hatte Angst vor sich selbst bekommen, weil sie plötzlich von dem Gefühl überfallen wurde, unterzutauchen, tief in das Wasser hinein, darin zu ertrinken, um nicht mehr denken zu müssen.

Und dann vermeinte sie, die Stimme ihres Vaters zu hören. »Komm zu dir, Kind. Es war alles nur ein böser Traum. Wir werden jetzt wegfahren, weit weg.«

Nun lag sie im Bett, und immer nur hörte sie diese Worte. »Wir werden wegfahren, weit weg.«

Und was war vorher gewesen? Christina sah sich als junges Mädchen. Ihre Mutter besuchte sie im Internat.

War es nicht seltsam, dass sie jetzt daran dachte? Warum gerade daran? Wieso setzte dort eine Erinnerung ein?

Ihre schöne Mutter! »Himmel, sieht deine Mutter phantastisch aus«, hatten ihre Freundinnen gesagt. »Wie deine große Schwester.«

Und was hatte ihre Mutter an diesem Tag zu ihr gesagt? Sie konnte sich genau an ihre Worte erinnern.

»Lieber Himmel, bist du erwachsen, Christina! Und hübsch bist du geworden. Wozu erst noch studieren, es wird nicht lange dauern, dann bist du verheiratet.«

Christina hatte sich nicht vorstellen können, verheiratet zu sein. Ihr Vater war ihr Ideal, und nur ein Mann, der ihm ähnlich wäre, käme für sie infrage. So dachte sie damals, und dann war Bob gekommen, und er war ganz anders als ihr Vater.

Eiseskälte kroch jetzt durch Christinas Körper, als sie an Bob dachte. Eine völlige Leere war in ihr. Kein Schmerz mehr, kein banges Herzklopfen. Einfach nichts.

Katja kam herein. Heute gelang ihr kein leichter Ton, und auch ihr Lächeln wirkte ein bisschen gezwungen.

»Sie haben Ihr Frühstück gar nicht angerührt, Christina«, stellte sie bekümmert fest. »Was wird Dr. Reuwen dazu sagen? Er ist gekommen.«

»Björn?« Wie ein zitternder Seufzer kam der Name über Christinas Lippen. »Nein, ich möchte niemanden sehen!«, stieß sie dann hervor.

Sie hatten sich schon zurechtgelegt, wie sie Björns überraschende Anwesenheit erklären wollten. Katja sagte: »Dr. Reuwen muss in die Schweiz fahren und wollte vorher sehen, wie Sie sich eingewöhnt haben.«

»Niemand hat ihn gerufen?«, fragte Christina tonlos und wandte den Blick nicht von Katja.

»Aber nein. Er ist nur auf der Durchreise«, erwiderte Katja. »Wer weiß, was er sich denkt, wenn Sie ihn nicht empfangen wollen.«

»Sie sagen ihm doch nicht, dass ich nicht gefrühstückt habe? Ich werde mich ankleiden«, sagte Christina hastig. »Sie sagen ihm bestimmt nichts?«

»Nein, machen Sie sich darüber keine Gedanken, Christina«, entgegnete Katja freundlich.

»Er soll nicht denken, dass es mir hier nicht gefällt. Sie alle sind sehr freundlich zu mir.« Ihre Stimme klang matt.

Arme Christina, dachte Katja mitleidsvoll. »Kann ich Ihnen beim Ankleiden helfen?«, fragte sie.

»Es geht schon. Die Bäder strengen mich wohl doch an.«

»Ja, das ist an den ersten Tagen bei allen so. Es wird bald besser«, erwiderte?Katja. »Trinken Sie doch bitte eine Tasse Tee.«

Christina nickte wie ein folgsames Kind. »Björn wird doch nicht erfahren, dass ich gestern zusammengeklappt bin?«, flüsterte sie.

Es war eine barmherzige Lüge, wenn Katja auch darauf mit einem Nein antwortete. Ihm sagte sie, dass er sich ja nichts anmerken lassen solle, aber das hatte Dr. Cornelius vorher auch schon Björn empfohlen.

Es gelang ihm sogar, sein Erschrecken zu verbergen, als er in Christinas blutloses Gesicht blickte, in dem nur die Augen lebten.

Ja, sie hatten nicht mehr den starren Blick wie früher. In ihnen konnte er tausend Fragen lesen, obgleich ihr das wohl gar nicht bewusst war.

Er umschloss ihre kleine bebende Hand mit warmem Griff und zog sie an seine Lippen.

»Wie geht es dir, Christina?«

»Die Bäder sind anstrengend, aber Katja sagt, dass das bei allen so ist. Der Tee bekommt mir gut.« Sie leierte die Worte monoton herunter. Als er ihren Blick suchte, blickte sie zum Fenster hinaus.

»Es regnet«, sagte sie.

»Es kann nicht immer die Sonne scheinen, aber für eine Kur ist es gut, wenn das Wetter trübe ist. Dann wird man nicht hinausgelockt und kann viel ruhen. Du brauchst es, Christina.«

»Ich dachte nicht daran, dass du mich zur Kur auf die Insel der Hoffnung geschickt hast, Björn.«

»Ich habe dich nicht hergeschickt, Christina. Es war dein Wunsch, die Insel der Hoffnung kennenzulernen.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Bin ich denn überhaupt ein normaler Mensch, Björn?«, fragte sie. »Hast du nicht Zweifel an meinem Geisteszustand?«

Björn sah sie betroffen an.

»Welch eine abwegige Idee! Du bist genauso normal wie ich. Aber es könnte natürlich möglich sein, dass ich mich in mir täusche«, fügte er mit erzwungenem Humor hinzu.

Christinas Blick ruhte jetzt auf ihm. »An dir ist alles wahr, Björn. Du bist ein Mensch, der ganz klarsieht. Ich frage mich nur, warum du mir nicht hilfst, die Lücken in meinem Gedächtnis zu schließen? Warum tust du das nicht?«

Eine kalte Hand schien nach seinem Herzen zu greifen. Er wusste nicht, was er antworten sollte.

»Ich weiß sehr wenig von dir, Christina«, erwiderte er stockend. »Zu wenig, um dir wirklich helfen zu können.«

»Und es gibt keinen Menschen mehr, der mich vom Tage meiner Geburt an kennt? Oder gibt es einen, Björn?« Sie sah ihn flehend an.

»Lining vielleicht?«, fragte er.

Früher hatte er manches Mal gehofft, dass sie diese Frage stellen würde, aber auch an ihre alte Kinderfrau hatte sie sich nicht erinnert.

»Lining?«, fragte Christina bebend. »Lebt sie denn noch?«

»Sie ging nach dem Unfall nach Odderö«, erwiderte Björn. »Ich habe es heute morgen in Erfahrung gebracht, Christina.«

»Warum?«, fragte Christina. »Du kennst Lining doch gar nicht.«

Björn sah sie mit einem langen Blick an. »Ich dachte, dass es für dich gut sein könnte, endlich einen Menschen um dich zu haben, der dir vertraut ist. Ich habe in Kopenhagen angefragt, wer bei euch im Hause gelebt hat. Das hätte ich schon früher tun sollen.«

Christina suchte Björns Blick und hielt ihn fest.

»Aber du hattest Angst, dass ich mich an Dinge erinnern könnte, die ich vergessen wollte, nicht wahr?«, fragte sie.

»Ich hoffte, dass du dich von selbst erinnern und Wünsche äußern würdest, den einen oder anderen Menschen zu sehen. Vielleicht hast du auch Freunde, die du wiedertreffen möchtest, Christina. Es war sicher nicht richtig von mir, dich so abzuschirmen, dass niemand wusste, wo du zu finden bist.«

»Ich habe keine Freunde, und Lining mag mich nicht, Björn.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Björn bestürzt.

»Sie hat mir gesagt, dass sie mich nicht für so dumm gehalten hätte. Sie war böse, und ich war ihr auch böse.«

»Warum?«, fragte Björn.

»Lining wollte nicht, dass ich Bob heirate. Was sagst du dazu?«, fragte Christina mit blechern klingender Stimme.

Björn brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fangen, dann erwiderte er: »Ich stelle fest, dass du dich an Lining erinnern kannst.«

Christina blickte zu Boden. »Ich kann mich jetzt schon an manches erinnern, aber die Zusammenhänge finde ich nicht, und du willst mir nicht helfen, Björn?«

Noch immer hielt sie den Blick gesenkt.

»Wie kann ich dir helfen?«

»Indem du mir sagst, wie Bob wirklich war.«

»Was würde dir das helfen, Christina?«

»Du weichst mir aus. Ich suche nach der Wahrheit, aber ich finde nur Bruchstücke. Ich werde verrückt, wenn ich es nicht schon bin.«

Sie schwankte, er fing sie auf. Er drückte ihren bebenden Körper an sich und presste die Lippen an ihre Stirn.

»Du bist nicht verrückt und wirst es nicht. Du musst den Willen haben, in der Gegenwart zu leben und die Vergangenheit zu vergessen, Christina. Es sind Menschen da, die dir helfen wollen. Ich will es schon lange, aber es hat dir nichts bedeutet. Du dachtest immer an Bob. Soll ich derjenige sein, der dir sagt, dass er deiner nicht wert war?«

Oh, mein Gott, dachte er, als er diese Worte ausgesprochen hatte, nun habe ich alles verdorben. Er sah Christina besorgt an.

Doch Christina erwiderte seinen Blick ganz ruhig. »Du würdest es nur sagen, wenn du im Innern davon überzeugt bist. Aber wie viel bin ich denn wert? Einfältig, naiv und dumm, wie ich bin?«

Er hielt sie fest, als sie von ihm fortrücken wollte. Er nahm sie ganz fest in die Arme und vergaß seine inneren Ängste.

»Mir bedeutest du sehr viel, Christina. Alles! Es ist sehr schlimm, dass ich es sagen muss, aber Bob war deiner nicht wert. Ich sage es, auch wenn du es nicht hören willst.«

»Du sollst alles sagen«, flüsterte sie. »Aber du musst ja in die Schweiz fahren. Ich bringe wieder einmal deinen Zeitplan durcheinander.«

Das war nicht so, aber sollte er jetzt zugeben, dass Dr. Cornelius ihn verständigt hatte? Er war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde. Außerdem musste man auch darauf gefasst sein, dass es schnell wieder einen Stimmungsumschwung bei ihr geben konnte. Dr. Cornelius hatte ihn gewarnt. Was würde dann geschehen, wenn er ihr ins Gesicht sagte, dass Bob lebte.

Dr. Cornelius meinte, dass man ihr Zeit lassen müsse und es für ihren Gemütszustand besser wäre, sie würde sich erst an frühere Begebenheiten erinnern. Lining konnte man nicht auf die Insel der Hoffnung holen. Sie war eine einfache Frau von über siebzig Jahren und nicht bei guter Gesundheit. Man konnte ihr eine weite Reise nicht zumuten. Aber vielleicht war ihr Name ein Stichwort gewesen.

Christinas Stimme riss Björn aus seinen Überlegungen.

»Was ist eigentlich mit unserem Haus in Kopenhagen?«, fragte Christina jetzt.

»Es ist verschlossen. Ein Dr. Vaerland verwaltet es. Kennst du ihn?«

Christinas feine Augenbrauen schoben sich zusammen. »Der Fuchs. Ich mochte ihn nicht. Aber Bob hat sich gut mit ihm verstanden. Bin ich eigentlich entmündigt worden? So nennt man das doch wohl?«, fragte sie.

Erschrocken sah er sie an. »Aber nein, Christina. Wie kommst du denn darauf? Du kannst über den gesamten Nachlass verfügen.«

Sie atmete schwer. »Papa ist tot«, sagte sie, als begriffe sie das erst jetzt. »Wir hatten doch wohl ziemlich viel Geld. Warum sorgst du eigentlich für mich?«

Ein zärtlicher Blick umfasste die Gestalt des Mädchens.

»Ich habe es dir immer und immer wieder gesagt oder zumindest versucht, zu sagen. Du bedeutest mir sehr viel. Ich liebe dich, Christina.«

Stille trat ein. Ihre Schultern zuckten. »Es sind Worte, die auch Bob ausgesprochen hat«, sagte sie bebend. »Nur Worte.«

Es tat weh, aber er schluckte diesen Schmerz. »Ich kann dich nicht zwingen, mir zu glauben. Ich hoffe auf dein Vertrauen.«

»Das hast du, Björn. Du musst Geduld mit mir haben. Es ist etwas geschehen, was alles in einem anderen Licht erscheinen lässt, obwohl ich eine ferne Ahnung habe, dass sich schon vor dem Unfall etwas verändert hat. Ich habe in dem gelben Koffer, in dem sich nicht meine Kleider befunden haben, einen Brief gefunden.«

»Nicht deine Kleider?«, fragte Björn bestürzt.

Christinas Stimme war ganz ruhig, als sie antwortete: »Nein, diese Kleider gehörten einer anderen Frau, und der Brief war an sie gerichtet. Bob hatte ihn geschrieben. Er ist mit dieser Frau fortgegangen. Wusstest du es?«

Christina sah ihn fragend an.

Ihm wurde es heiß und kalt. Wenn sie ihn nun verdächtigte, Bob dazu verholfen zu haben? Er brachte kein Wort über die Lippen.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass Bob gar nicht tot ist?«

Björn hatte sich endlich gefangen, aber die Stimme wollte ihm noch immer nicht so recht gehorchen.

»Die Ärzte rieten mir zum Schweigen«, erwiderte er gepresst.

»Jeder wusste es, nur ich nicht«, sagte Christina bitter. »Jeder wusste, dass er mich verschmäht hatte.«

»So darfst du es nicht sehen. Nein, Christina, so nicht. Jeder glaubte, dass die Heirat durch den Unfall verhindert wurde und Bob dann deine Genesung abwarten wollte.«

»Du hast alles vertuscht. Bob wusste, dass er sich auf dich verlassen konnte.«

Alle Farbe wich aus Björns Gesicht. Ein ohnmächtiger Zorn gegen Bob bewegte ihn. Christina konnte dieses Wissen nur aus dem Brief bezogen haben, den sie in dem Koffer gefunden und der diese Überlegungen in ihr ausgelöst hatte.

Sie legte ihm eine zitternde Hand auf die Wange. »Du kannst den Brief lesen, Björn. Nimm ihn mit. In mir ist alles in Aufruhr, aber ich werde mich schon zurechtfinden. Ich möchte, dass du die Verwaltung über mein Vermögen übernimmst. Du bist doch Anwalt. Es dürfte keine Schwierigkeiten machen, wenn ich dir die Vollmachten gebe.«

Zuerst war Erleichterung in ihm gewesen, nun bewegte ihn eine neue Sorge.

»Du brauchst keinen Vormund, Christina«, sagte er eindringlich.

»Aber ich verstehe so wenig, und ich traue Vaerland nicht. Seltsam, dass mir solche Gedanken kommen. In meinem Kopf war doch alles so tot.«

Björn lächelte Christina ermunternd zu.

»Und jetzt beginnen deine Gehirnzellen wieder normal zu arbeiten. Du wirst mich bald nicht mehr brauchen, Christina.«

Sie hob den Kopf, und ein Lächeln legte sich um ihren Mund. Björn hielt den Atem an, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Dieses Lächeln galt ihm!

»Sagtest du nicht, dass du mich liebst? Dann musst du es mir auch beweisen.«

Björn zog sie wieder fest an sich. »Denk einmal nach, Christina. Habe ich es dir nicht schon bewiesen? Mit deinem Geld möchte ich eigentlich nichts zu tun haben.«

»Ich möchte aber wissen, wie viel Papa Bob gegeben hat«, sagte sie. »Ich muss alles wissen, bevor ich einen Schlussstrich ziehen kann.«

Er hätte sie so gern geküsst, als sich ihre Augen mit Tränen füllten, aber er wagte es nicht.

»Ich möchte auch wissen, wie es zu dem Unfall gekommen ist«, tönte Christinas Stimme an sein Ohr. »Es ist alles zu merkwürdig.« Sie machte eine kleine Pause. »Aber jetzt will ich dich wirklich nicht länger aufhalten. Wirst du mich auf der Rückreise wieder besuchen, Björn?«

Er war erleichtert, ihr jetzt nicht mehr Rede und Antwort stehen zu müssen.

»Ja, ich werde dich in zwei bis drei Tagen besuchen, Christina. Quäl dich nicht mit unnützen Gedanken herum.«

»Kein Gedanke ist unnütz. Jeder gibt mir ein Stück von meinem Ich zurück.« Sie legte die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. Ein heißes Glücksgefühl durchströmte ihn.

»Kann man denn so was wie mich überhaupt lieben?«, fragte sie dicht an seinem Ohr, und da presste er seine Lippen auf ihren Mund und küsste sie lange und innig.

»Bevor du dir dein Köpfchen über andere Dinge zermarterst, überlege lieber, wie lange ich dich wohl schon liebe«, flüsterte er, und dann ging er sehr schnell.

Seine Worte tönten in ihren Ohren fort. Jetzt war keine Leere mehr in ihr, jetzt war sie erfüllt von einem Zauber, der ihre Sinne weckte und ihren Geist beflügelte.

*

Arne Larsen war das, was man hierzulande als ein Riesenmannsbild bezeichnete. Er brach wie ein Sturmwind in Dr. Nordens Praxis ein.

»Was ist mit Isabel?«, fragte er dröhnend. »Was fehlt ihr?«

»Nichts Ernsthaftes«, erwiderte Daniel Norden, der von Isabel schon auf diesen Mann vorbereitet worden war. »Sie fahren mit dem Fahrstuhl drei Stockwerke höher und werden sie in unserer Wohnung treffen. Wir sind befreundet.«

Arne Larsen kniff die Augen zusammen und musterte Daniel mit einem abschätzenden Blick, der nicht besonders freundlich war.

»Isabel leistet meiner Frau Gesellschaft«, erklärte Daniel spöttisch.

»Sie hätte mich schließlich vom Flughafen abholen können, wenn sie mich schon herzitiert«, knurrte Arne, ein wenig verstimmt.

»Hat Isabel Sie herzitiert?«, fragte Daniel anzüglich und lachte spöttisch.

»Gut gekontert, Sportsfreund«, sagte Arne Larsen. Ein breites Grinsen legte sich um seinen Mund. Schmerzhaft drückte er dann Daniels Hand zusammen, die er ganz plötzlich ergriffen hatte.

»Dann fahren wir nach oben«, sagte Daniel. »Meine Sprechstunde ist beendet.«

»Sie haben bloß auf mich gewartet, stimmt’s? Isabel braucht Schützenhilfe, wie ich vermute. Sie ist doch ein raffiniertes Biest.«

»Sie ist unsere Freundin«, sagte Daniel betont.

»Meine auch. Ein Klasseweib. – Mein Ton schockiert Sie?«, fragte er mit einem schiefen Lächeln.

»Keineswegs. Tun Sie sich keinen Zwang an«, erwiderte Daniel höflich.

Sie gingen zum Lift. Arne sah Daniel mit einem unergründlichen Blick an. Er klatschte seine Hand an die breite Stirn, dass es nur so dröhnte. Daniel zuckte erschrocken zusammen.

»Jetzt weiß ich es«, sagte Arne, »Sie sind Isabels heimliche Liebe. Genau der Typ, der ihrem exklusiven Geschmack entspricht.«

»Psst«, machte Daniel, »meine Frau ist eifersüchtig.« Er lachte spitzbübisch.

Als Arne Fee dann kennenlernte, wusste er, dass es auf keiner Seite Anlass zur Eifersucht gab, und Daniel wurde schnell restlos überzeugt, dass in diesem harten, schnoddrigen Burschen ein weicher Kern steckte. Er hatte sich ein paar doppelte Whiskys genehmigt, aber anzumerken von einer Wirkung war ihm nichts.

Aus seinem Aktenkoffer nahm er einen Ordner, der voll war mit Zeitungsausschnitten.

»Diese Geschichte liegt über ein Jahr zurück. Wieso interessierst du dich jetzt dafür, Isabel?«, fragte Arne.

»Du witterst eine Story, aber daraus wird nichts, sonst kündige ich dir die Freundschaft«, erwiderte sie ernst.

»Isabel wollte mir einen Gefallen tun«, warf Fee ein.

»Ihnen?«, staunte Arne. »Wieso?«

»Wir kennen Christina Hammerdonk.«

»Sie existiert noch?«, entfuhr es Arne. »Verzeihung, aber bei uns kursiert das Gerücht, dass sie in einer Klapsmühle gestorben ist.«

»Arne, wie wär’s, wenn du dich mal etwas vornehmer ausdrücken würdest?«, fragte Isabel.

»Der Sinn bleibt doch der gleiche«, sagte Daniel leichthin. »Reden Sie nur, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, Herr Larsen.«

»Ein feiner Mann werde ich nie«, brummte Arne. »Deswegen habe ich bei Isabel auch alle Chancen verspielt.« Er verzog sein Gesicht zu einer traurigen Grimasse.

»Deswegen nicht«, sagte sie. »Du taugst nicht zur Ehe, und das weißt du genau.«

»Sie hat wie immer recht«, sagte Arne grinsend. »Also, Christina Hammerdonk ist lebendig.«

»Uns interessiert, was vor einem Jahr geschah«, sagte Isabel mahnend.

»Da steht es schwarz auf weiß«, erklärte Arne. »Es war natürlich aufregend. Hammerdonk gehörte zu den ganz Prominenten. Dann dieser Unfall am Hochzeitstag seiner Tochter. Der Bräutigam wartete vergeblich an der Kirche.«

»Was?«, fragte Daniel erregt. »Er wartete an der Kirche?«

Arne sah ihn erstaunt an.

»So wurde es berichtet«, erwiderte er irritiert. »Stimmt das nicht? Ich

war zu der Zeit am anderen Ende der Welt.«

»Wie kam es zu dem Unfall?«, fragte Fee. »Das interessiert uns am meisten.«

Arne sah sie ein bisschen unglücklich an. »Ich kann für die Berichterstattung meiner Kollegen keine Garantie abgeben. Es wird in solchen Fällen alles dramatisiert. Wenn ein Mann wie Hammerdonk auf solche Weise stirbt, kann man nicht jedes gedruckte Wort auf die Goldwaage legen. Tags zuvor berichteten die Zeitungen noch von der bevorstehenden Hochzeit seiner Tochter. Am nächsten Morgen war er tot und Christina lebensgefährlich verletzt. Der Wagen wurde an einem unbeschrankten Bahnübergang von einem Zug erfasst. Da, lest die Schlagzeile: ›Das Schicksal brachte Tod statt Flitterwochen!‹ Ganz schön geschmacklos!«

»Gut, dass du es einsiehst«, sagte Isabel.

»Du kennst doch die Leser«, wehrte Arne energisch ab. »Sie wollen so was. Ich habe es nicht geschrieben. Es gibt noch geschmacklosere Schlagzeilen. Jedenfalls ist an dem Unfall nichts Rätselhaftes. Der Chauffeur hatte einen über den Durst getrunken. Wahrscheinlich in der Vorfreude auf eine romantische Hochzeit. Er war seit zwanzig Jahren bei Hammerdonk beschäftigt. Christina Hammerdonk war kein Objekt für Reporter. Ein Mädchen ohne Vergangenheit. Keine Affären, man sah sie kaum in der Öffentlichkeit. Sie scheute diese anscheinend. Die Trauung sollte in einer entlegenen Dorfkirche stattfinden. Das wurde alles erst hinterher publik.«

»Und dort erfuhr der verhinderte Ehemann tränenerfüllten Auges das Drama?«, fragte Isabel.

»Wie kannst du spotten?«, fragte Arne vorwurfsvoll. »Immerhin war Christina Hammerdonk nicht nur ein reiches, sondern auch ein entzückendes Mädchen. Bitte, seht euch die Bilder an.«

Daniel und Fee konnten feststellen, dass diese Aufnahmen ein wirklich bezauberndes Mädchen zeigten, das wenig mit der Christina gemein hatte, die sie kennen gelernt hatten. Aber Isabel, die clevere Journalistin, beschäftigten andere Gedanken.

»Du sagtest, dass Christina jeder Publicity abhold war, Arne. Woher stammen die Bilder?«

Arne zuckte die Achseln.

»Kann ich nicht sagen. Du weißt doch, wie man an so was rankommt. Es war eine bekannte Familie. Sie hatten Freunde. Dr. Vaerland, der Vermögensverwalter, scheint jedenfalls nicht publicityscheu zu sein. Übrigens sagt man ihm eine Affäre mit Karen Hammerdonk nach.«

»Karen Hammerdonk?«, fragte Fee.

»Christinas Mutter. Sie war strahlender Mittelpunkt der Gesellschaft. Eine bildschöne Frau. Sie kam auch durch einen Autounfall ums Leben. Duplizität der Ereignisse. Sie war allerdings als rasante Fahrerin bekannt und trank auch gern einen.« Arne schaute Isabel an und fragte dann: »Habe ich mich jetzt wieder danebenbenommen, Isabel?«

»Du trinkst auch gern einen«, meinte Isabel anzüglich.

»Ich kann aber allerhand vertragen und setze mich dann nicht ans Steuer. Was ist mit der kleinen Hammerdonk? Kommt die Heirat nun doch zustande, oder fand sie schon statt?«

»Nein, das nicht«, erwiderte Fee. »Sie ist auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Und wir wollen ihr dabei helfen.«

Sekundenlanges Schweigen war im Raum, dann nahm Arne noch einen kräftigen Schluck.

»Eins muss ich dir lassen, Isabel, du suchst dir großartige Freunde aus. Ich hoffe, dass ich mich nicht zu sehr blamiere, oder dich, weil ich gern auch weiterhin zu deinen Freunden zählen möchte.«

Er hatte es kaum ausgesprochen, als das Telefon läutete. Es war Björn Reuwen, der für Fee und Daniel ein Päckchen von Dr. Cornelius mitgebracht hatte und anfragte, ob er schnell einmal vorbeikommen könnte.

Es wurde kein schnelles Vorbeikommen, denn die Bekanntschaft mit Arne Larsen war auch für Björn hochinteressant. Besonders, was er über Dr. Vaerland erfuhr.

Sehr aufmerksam betrachtete er dann das Zeitungsfoto, das angeblich den erschütterten jungen Ehemann darstellte. Angeblich, denn es war keinesfalls Bob. Für Björn wäre es auch eine große Überraschung gewesen, wenn Bob sich nach dem Unfall noch den Reportern gestellt hätte. Zu schrecklich wäre der Gedanke gewesen, Bob könnte mit diesem Unfall etwas zu schaffen haben, doch dieser war einer jener

absonderlichen tragischen Zufälle, die den Beteiligten Grauen einflößen konnte.

Bob jedenfalls war zu dieser Zeit schon weit entfernt gewesen, mit viel Geld in den Taschen, Geld von Hammerdonk und auch Geld von seinem Bruder Björn.

Björn hatte beschlossen, am nächsten Morgen nach Kopenhagen zu fliegen, und er hatte den Flug auch schon telefonisch gebucht. Er wollte auch Lining aufsuchen, die nach Christinas eigenen Worten wegen der geplanten Heirat mit Bob böse geworden war. Und er selbst dachte an diesem Abend wieder über die Auseinandersetzung mit seinem Bruder nach, bei der es um Christina und um Geld gegangen war. Aber auch Jennifer hatte dabei eine Rolle gespielt, denn für ein sorgenfreies Leben mit ihr war Bob zu jedem Betrug bereit. Er war so frivol gewesen, dies seinem Bruder ins Gesicht zu sagen.

›Hast du überhaupt kein Ehrgefühl?‹ hatte Björn ihn gefragt.

›Das hast du Moralprediger doch für dich gepachtet‹, hatte Bob höhnisch erwidert. ›Ich überlasse dir Christina, wenn du mir das Geld gibst, das ich brauche.‹

Ein ironisches Grinsen hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet.

›Und wenn ich ihrem Vater reinen Wein einschenke?‹, hatte Björn gefragt.

›Versuch es doch. Er ist an einem Skandal bestimmt nicht interessiert. Aber vielleicht lässt er es sich auch allerhand kosten, wenn ein solcher verhindert wird. Da hast du mich auf eine Idee gebracht, großer Bruder.‹

Ja, so skrupellos war Bob, und das Opfer hieß Christina. Es war nur nicht vorauszusehen gewesen, dass ihr Vater in diese Auseinandersetzung hineinplatzen würde.

Nein, zu einem Skandal wollte er es nicht kommen lassen. Bob hatte richtig kalkuliert. Er ließ es sich etwas kosten, seiner Tochter diese entsetzliche Demütigung zu ersparen, einem Mann das Jawort zu geben, der nur ihr Geld wollte. Christinas Vater hatte damals vor, ihr zu erklären, dass Bob einen Unfall gehabt hätte und die Hochzeit verschoben werden müsse.

Hatte er damit die bösen Geister beschworen? Björn krochen bei diesem Gedanken auch jetzt noch kalte Schauer über den Rücken.

*

Christina stand am Fenster und blickte zum Himmel empor. Die Regenwolken hatten sich verzogen und das sternenübersäte Firmament ihren Blicken freigegeben.

»Papa«, flüsterte sie, »wenn du doch leben würdest, wenn ich mit dir sprechen könnte.«

Heiß stiegen ihr die Tränen in die Augen. Durch einen Schleier sah sie das gütige Gesicht ihres Vaters, mit dem schmerzlichen, sorgenvollen Ausdruck jenes Abends, der so lange aus ihrer Erinnerung ausgelöscht gewesen war und nun wieder in allen Einzelheiten in ihrem Bewusstsein auflebte.

»Warum siehst du so bekümmert aus, Papa?«, hatte sie gefragt. »Ich bleibe doch auch als Ehefrau deine Tochter. Wir werden uns oft sehen. Bob wird nichts dagegen haben.«

»Ich muss dir etwas sagen, Chrissy. Bitte, höre mir zu und reg dich nicht auf. Es ist etwas passiert. Die Hochzeit muss verschoben werden.«

»Was ist passiert, Papa …?« Geschrien hatte sie es voller Angst. »Sag nicht, dass Bob tot ist, bitte, sag es nicht.«

Die Bilder vor ihren Augen flimmerten durcheinander. Das gramvolle Gesicht ihres Vaters, das lachende von Bob, das zu einer verzerrten Grimasse wurde.

Auch jener Nacht war ein Morgen gefolgt, ein herrlicher Frühlingsmorgen, der ihr vorgaukelte, nur einen bösen Traum gehabt zu haben. Und dann hatte ihr Vater gesagt, dass sie Bob nie mehr wiedersehen würde, dass er tot sei. Wenig später war auch ihr Vater tot gewesen. Und sie?

Ihre rechte Hand tastete sich zu ihrem Gesicht empor und wischte die Tränen von den Wangen.

Sie lebte, das Blut pulsierte in ihren Adern, sie hörte ihre eigene Stimme, die sagte: »Ich lebe, ich lebe trotz allem.«

Und nun war sie auch nicht mehr allein im Zimmer. Eine weiche Mädchenstimme fragte: »Christina, kann ich etwas für Sie tun?«

Christina sah Katja an, verwirrt, ängstlich, durch diesen Tränenschleier hindurch.

»Sie sollten noch ein wenig an die frische Luft gehen«, schlug Katja vor. »Das tut gut.«

»Ich habe einen Ausflug in die Vergangenheit gemacht«, murmelte Christina tonlos.

Katja nahm ihren Arm. »Die Gegenwart ist lebendig, Christina«, sagte sie leise. »Kommen Sie.«

Christina ging mit ihr wie in Trance. Ein leichter Wind verwehte ihr Haar und trocknete die letzten Tränen. In ihrer Manteltasche hatte sie vergeblich nach einem Taschentuch gesucht und sagte nun verlegen: »Ich habe kein Taschentuch.«

Katja zog ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Tasche. »Nehmen Sie das«, sagte sie und drückte ihr eines in die Hand. »Ich nehme nur Papiertücher, weil ich die anderen dauernd verliere.«

Sie waren fast gleich groß, und wie von selbst fanden sich ein paar Sekunden später ihre Hände.

»Als Mutti mich auf die Insel brachte, saß ich im Rollstuhl«, sagte Katja leise. »Das Leben erschien mir so sinnlos.«

»Sie hatten einen Unfall?«, fragte Christina stockend.

»Ich geriet beim Skifahren mit meinem Verlobten in eine Lawine. Mich fand man, er hat es nicht überlebt. Ich war vom Schock gelähmt und wollte nicht glauben, dass das Leben für mich weitergehen soll. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich meinen Vater verloren. Sehen Sie, Christina, auch für mich ist das Leben wieder lebenswert geworden, und meine Mutter hat in Johannes Cornelius einen Lebenskameraden gefunden, mit dem sie glücklich wurde.«

Eigentlich hatte Katja darüber nicht sprechen wollen, doch die Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen.

»Und Sie, Katja?«, fragte Christina. »Sind Sie glücklich?«

»O ja, die kleinen Zweifel, die einem manchmal kommen, ausgeklammert. Aber man kann nicht immer auf rosaroten Wolken schweben. Das Leben hat halt auch seine Schattenseiten. Wir wissen nicht, was uns vorbestimmt ist. Wir müssen es hinnehmen«, sagte Katja ernst.

Schweigend gingen sie wieder eine Zeit lang nebeneinander her.

»Wie alt sind Sie eigentlich, Katja?«, fragte Christina.

»Gerade zwanzig geworden. Und Sie?«

»Einundzwanzig. Oder bin ich schon zweiundzwanzig? Ich habe gar nicht mehr nachgedacht. Für mich waren die Monate bedeutungslos. Ich vegetierte nur dahin.«

»Damit ist es jetzt vorbei«, sagte Katja aufmunternd. »Eigentlich könnten wir uns ja auch duzen, oder ist das aufdringlich?«

Christina schüttelte den Kopf.

»Nein. Es ist schön, wenn man eine Freundin hat, wenn man nicht allein ist. Ich danke dir.«

Katja legte den Arm um ihre Schultern. »Jetzt werde ich dir etwas zeigen, Christina. Siehst du den?Mond?«

»Es ist Vollmond«, sagte Christina. »Man kann ihn nicht übersehen.«

»Er wirft die Schatten hinter uns, aber er schaut auf die Quelle herab. Hörst du das Plätschern?«

Christina lauschte. »Ja, ich höre es. Was ist es für eine Quelle?«

»Wir nennen sie die Quelle der Liebe. Glaubst du an Wunder, Christina?«

»Nein.«

»Dann wirst du es lernen.« Mit sanfter Gewalt schob Katja Christina vor sich her zu der Quelle. Das Wasser quoll aus den Steinen hervor und wurde vom Mondlicht in einen silberglänzenden Strahl verwandelt.

»Beug dich herab, fang das Wasser auf und netze dein Gesicht damit«, sagte Katja, »und dann trink es. Nur ein paar Schluck.«

Christinas Gesicht, das von den salzigen Tränen brannte, konnte eine Kühlung vertragen. Mit magischer Kraft fühlte sie sich von dem Wasserstrahl angezogen und beugte sich tief hinab, hielt ihr Gesicht darunter und öffnete die Lippen, um etwas von dem köstlichen kühlen Nass zu trinken.

Katja betrachtete das kniende Mädchen, das nun die Hände ineinander verschlungen hatte und zum Himmel emporblickte. Jetzt war sie es, der die Tränen in die Augen stiegen, doch es gelang ihr, diese zurückzudrängen.

Behutsam griff sie nach Christinas Händen und hob sie empor.

Katja machte eine umfassende Handbewegung.

»Sie heißt nicht umsonst Insel der Hoffnung, Christina, und aus der Quelle kommt Kraft. Du wirst es spüren. Ein bisschen Glauben gehört schon dazu und auch Mut.«

»Ich war nie mutig«, sagte Christina leise. »Ich habe nie für mich allein denken müssen und bekam alles, was ich haben wollte. Es war wohl zu selbstverständlich. Also, Mut habe ich nicht, und den Glauben habe ich verloren.«

Ein trauriger Blick streifte Katja.

»Das darfst du nicht sagen. Du befindest dich in einer Krise. Du wirst sie überwinden.«

»Du glaubst an Wunder, Katja?«

Katja nickte bekräftigend und sagte: »Ich habe eines erlebt. Ja, ich glaube daran. Ich war einmal genauso down wie du. Ich verstehe dich. Schau bitte mutig in die Zukunft.«

»Ich will es versuchen.«

Sie gingen langsam zurück. Arm in Arm. Ihre Schritte passten sich an. Sie blickten sich in die Augen.

Anne Cornelius zog ihren Mann in den Schatten eines Baumes zurück.

»Sie sind sich nähergekommen, Hannes«, flüsterte sie. »Wir wollen sie nicht stören.«

*

In Dr. Nordens Praxis herrschte bereits Hochbetrieb, als das Flugzeug startete, das Björn Reuwen nach Kopenhagen bringen sollte. Praxisalltag bei Dr. Norden bedeutete nicht allein, Diagnosen zu stellen und Rezepte auszuschreiben, er bedeutete auch Teilnahme an den verschiedensten Schicksalen.

Der erste Patient war Helmut Kring, ein Schuljunge von dreizehn Jahren. Die Eltern hatten eine Drogerie, und Dr. Norden war Hausarzt bei ihnen. Helmut erschien mit der Schultasche, hochrotem Kopf und fiebrigen Augen.

»He, wie haben wir es denn? Solltest du nicht lieber im Bett liegen?«, fragte Daniel.

»Mutti hat gesagt, Sie sollen mir was gegen die Halsschmerzen verschreiben. Etwas, was hilft. Ich darf die Schule nicht versäumen, sonst haut es mit der Versetzung nicht hin.«

Helmut schluckte, was nicht verwunderlich war bei den geschwollenen Mandeln, auf die Dr. Norden nur einen kurzen Blick zu werfen brauchte.

»Der Versetzung ist es bestimmt nicht dienlich, wenn du so krank in die Schule gehst, Helmut.«

»Das sagen Sie mal meinen Eltern«, murmelte der Junge.

»Marsch nach Hause und ins Bett!«, befahl Dr. Norden energisch.

»Ich traue mich nicht. Ich kriege es bloß vorgehalten, dass ich gestern Fußball gespielt habe, wo ich doch schon erkältet war.«

»Deine Eltern werden dir nicht den Kopf abreißen, wenn ich sage, dass du ins Bett gehörst, Helmut. Ich rufe an, dass dein Vater dich abholt«, sagte Daniel Norden bestimmt.

»Gibt es wirklich nichts, dass die Halsschmerzen weggehen?«, fragte Helmut zaghaft.

»Natürlich gibt es was, aber es hilft nur, wenn du brav im Bett bleibst.«

»Und was soll meine Mannschaft ohne mich machen?«, fragte der Junge.

Daniel hatte ihn durchschaut. Es waren nicht etwa die strengen Eltern, die ihn in die Schule trieben, sondern seine Fußballmannschaft.

»Wann ist dann euer nächstes Spiel?«, fragte Daniel.

»Übermorgen, aber da muss ich gesund sein. Ich bin Torwart, und ohne Torwart können sie nicht spielen«, entgegnete Helmut.

»Mein lieber Junge, du würdest einen sauberen Torwart abgeben mit diesem Fieber«, sagte Daniel. »Und statt ein paar Tage müsstest du vielleicht ein paar Wochen im Bett liegen. Ich rufe jetzt deine Eltern an.«

»Sie wissen aber gar nicht, dass ich Halsschmerzen habe«, gab Helmut kläglich zu.

Daniel hatte sich gleich gedacht, dass da etwas nicht stimmte, denn die Krings waren besorgte Eltern.

»Dann werden sie es jetzt erfahren«, erklärte er kategorisch.

»Sagen Sie auch, dass ich wegen des Fußballspiels in die Schule gehen wollte, Herr Doktor? Muss das sein?«

»Ich kann ja auch sagen, dass dich dein Pflichtbewusstsein getrieben hat«, erwiderte Daniel schmunzelnd. »Immerhin warst du so vernünftig, zu mir zu kommen, du Lausejunge.«

»Tut ja auch verdammt weh«, murmelte Helmut. »Mir wird auch ganz schlecht.«

Es war höchste Zeit, dass er ins Bett kam. Herr Kring kam und holte ihn ab. Daniel gab ihm verschiedene Medikamente mit und versprach, mittags vorbeizukommen.

»So ein dummer Bub«, sagte Herr Kring. »Hätte doch sagen können, dass ihm was fehlt. Meine Frau wird sich wieder schön aufregen. Ist halt so ein gewissenhafter Kerl, weil’s mit der Mathematik nicht so klappt.«

Daniel zwinkerte Helmut zu, und der wurde vor Verlegenheit blutrot.

»Besser eine schlechte Note als ein kranker Junge«, sagte Daniel.

»Meine ich auch, Herr Doktor«, sagte Herr Kring, und Helmut schenkte Dr. Norden einen dankbaren Blick.

So hatte es also an diesem Morgen angefangen. Dann kamen ein paar Patienten, die sich einer Spritzenkur unterziehen mussten und immer schon früh kamen, um rechtzeitig an ihrem Arbeitsplatz zu sein. Für manch einen von ihnen fühlte Dr. Norden Bewunderung, denn eigentlich hätte er sie krankschreiben müssen, aber sie wollten es nicht. Dafür gab es dann zum Ausgleich auch andere, die krankgeschrieben werden wollten, obgleich kein Grund dafür vorlag. Und alle durch die Bank wären für ihren Doktor durchs Feuer gegangen, auch wenn er oft harte und deutliche Vorhaltungen machte und manchmal nicht gerade zimperlich mit ihnen umging.

Ganz behutsam ging er mit der alten Frau Hartle um, einer feinen alten Dame, die schon über zwei Jahrzehnte von der Gicht geplagt wurde und niemals jammerte.

»Da ist man nun achtzig Jahre alt geworden und hat alle überlebt, die zu einem gehörten«, sagte sie. »Müde bin ich geworden und möchte so gern für immer schlafen, und die jungen Leut’ werden mitten aus dem Leben weggerafft. Aber wie’s der Herrgott will, muss man halt sein Päckle tragen. Ich dank auch recht schön, dass Sie immer so nett waren, Herr Doktor.«

Das sagte sie jedesmal beim Abschied. An diesem Morgen zum letzten Mal.

»Bevor Sie gehen, trinken Sie mit Molly noch eine Tasse Kaffee, Frau Hartle«, sagte Dr. Norden. Und Frau Hartle setzte sich zu Molly, die sie nun auch schon ein paar Jahre kannte.

Ihre faltigen Wangen färbten sich rosig, als sie den Kaffee getrunken hatte.

»Nun gehts wieder besser«, sagte sie. »Übrigens habe ich heute Nacht geträumt, dass die junge Frau Doktor einen ganz herzigen Buben bekommen hat. Wann ist es denn eigentlich soweit?«

»In drei Monaten«, erwiderte Molly.

»Ob ich das noch erleb’? Nun, wenn’s denn nicht sein soll, soll er wenigstens was von mir bekommen, der kleine Norden.« Sie nahm von ihrem Hals die schwere goldene Kette, die Molly schon manches Mal bewundert hatte, an der eine feinziselierte Uhr hing, die schon die zweite Generation überdauert hatte und noch immer ging, wie Frau Hartle stolz versicherte.

»Heben Sie sie bitte für den kleinen Norden auf, Molly«, sagte Frau Hartle. »Weiß man, was geschieht? Ich möchte nicht, dass sie in Hände kommt, die nur den materiellen Wert abschätzen.«

»Sie ist kostbar, Frau Hartle«, sagte Molly bestürzt und wusste nicht recht, ob sie das wertvolle Geschenk in Verwahrung nehmen sollte.

»Plunder würde ich dem kleinen Norden doch nicht hinterlassen wollen«, sagte Frau Hartle mit einem feinen Lächeln. »Und für mich ist die Zeit ohne Bedeutung. Auf Wiedersehen, Molly, wenn es mir beschieden ist.«

»Frau Hartle!«, rief ihr Molly betroffen nach.

Die alte Dame lächelte. »Alte Leute sind eigensinnig, Molly. Man kann ihnen nichts ausreden.«

Und dann ging sie. Zwei Stunden später wurde Dr. Norden von einer Nachbarin zu ihr gerufen, und er konnte nur noch ihren Tod feststellen.

»Gelächelt hat sie, als schliefe sie«, sagte er zu Molly, als er zurückkam.

»Und geahnt muss sie es haben«, sagte Molly mit erstickter Stimme. »Das hier hat sie für Ihren Sohn hiergelassen. Sie hat geträumt, dass es ein Sohn wird. Ich wusste gar nicht, wie ich es Ihnen sagen sollte, aber behalten müssen Sie jetzt die Uhr auf jeden Fall.«

Das war einer der Augenblicke, für die es keine Worte gab, nur Gedanken.

»Würden Sie die Uhr bitte in den Tresor schließen, Chef?«, fragte Molly.

»Mit Überwindung«, erwiderte er rau. »Ich konnte nicht einmal danke sagen.«

»Das wollte sie wohl auch nicht.« Molly unterdrückte die Tränen. »Frau Hartle war ein lieber Mensch. Sie sagte es so freudig, dass es ein Bub wird. Sie ging mit einem Lächeln und der Bemerkung, dass alte Leute eigensinnig wären.«

»Und weise«, sagte Daniel. Er betrachtete die Uhr an der schweren Kette. »Ein fast zu kostbares erstes Geschenk für unseren Sohn.«

»Aber eins, das mit sehr viel Zuneigung geschenkt wurde«, sagte Molly.

»Und was konnte ich schon für sie tun? Viel zu wenig.«

Er weiß noch immer nicht, wie viel er den Menschen gibt mit seinem Verständnis, dachte Molly, indem er ihnen zuhört und immer gute, aufmunternde Worte für sie hat.

*

Björn war vom Flughafen aus gleich zu Dr. Vaerland gefahren. Die Adresse hatte ihm Arne Larsen gegeben, und gut vorbereitet war er für den Besuch auch. Zu seiner Überraschung wurde er auch unverzüglich von Dr. Vaerland empfangen, aber dann hatte er das eigentümliche Gefühl, dass dieser nicht ihn, sondern Bob zu sehen erwartet hatte.

»Sie?«, entfuhr es dem anderen nämlich fragend.

»Ich habe meinen Namen ziemlich deutlich genannt«, erwiderte Björn kühl.

»Ja, gewiss, ich bitte um Entschuldigung, aber tatsächlich hatte ich immer damit gerechnet, dass Bob hier erscheinen würde.«

Er nannte einfach den Vornamen. Sie mussten ziemlich schnell vertraut miteinander geworden sein. Björn betrachtete den anderen abschätzend. Er war ein Mann um die vierzig und recht gut aussehend. Störend waren die kalten blauen Augen und der zynische Mund.

»Sie wünschen, Herr Dr. Reuwen?«, fragte Vaerland distanziert.

»Ich habe Vollmachten von Christina Hammerdonk, mich um den Nachlass zu kümmern.«

Vaerlands Gesicht wechselte die Farbe und verdüsterte sich von einem Augenblick auf den nächsten. »Warum kommt sie nicht selbst?«, fragte er.

»Christina befindet sich in einem Sanatorium. Sie ist jetzt auf dem Wege der Gesundung, aber noch nicht fähig, weite Reisen zu unternehmen, die mit Aufregungen für sie verbunden sind. Sie hat mich beauftragt, einige persönliche Gegenstände aus ihrem Vaterhaus zu holen.«

»Darf ich erst meiner Verwunderung Ausdruck verleihen, dass die Beträge, die für Christinas Pflege überwiesen worden sind, nicht abgerufen wurden?«

»Das ist augenblicklich nicht von Interesse. Um die finanziellen Dinge wird Christina sich schon bald selbst kümmern können.«

»Und sich überzeugen, dass alles in bester Ordnung ist. Ich nehme doch nicht an, dass man daran zweifelt?« Ein gefährlicher Ausdruck war in Vaerlands Augen. Aber er konnte Björns Blick doch nicht standhalten.

»Ich werde froh sein, wenn ich dieser Verantwortung ledig bin«, fuhr er fort. »Es ist mir lästig, dauernd vom Nachlassgericht kontrolliert zu werden, um am Ende noch dafür die Verantwortung tragen zu müssen, wenn bei den geschäftlichen Abwicklungen Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind.«

»Ist das geschehen?«, fragte Björn.

»Ich kann es nicht beurteilen. Die Konten sind gesperrt, und nur die Beträge wurden freigegeben, die zur Deckung der notwendigen Ausgaben verwendet werden sollten. Sie haben davon anscheinend ja keinen Gebrauch gemacht.«

Björn ging darüber hinweg. »Mich interessiert, welche Summe mein Bruder von Herrn Hammerdonk erhalten hat«, sagte er sehr direkt.

»Darüber kann ich keine Auskunft geben. Das war eine rein private Abmachung.«

»Aber Sie verwalten doch auch die Kontoführung. Sie wollen mir also keine Auskunft geben. Ich hoffe, dass Christina diese bekommen wird. Vorerst möchte ich Sie darüber informieren, dass ich meine Vollmachten beim Nachlassgericht einreichen werde und von dort die Entscheidung erwarte.«

Dr. Vaerland wurde plötzlich sehr verbindlich.

»Sie werden verstehen, dass ich korrekt vorgehen muss. Man kann mir keinen Vorwurf machen. Ich habe auch Bob keine Auskunft gegeben, wo Christina sich jetzt befindet.«

»Er hat sich danach erkundigt?«, fragte Björn erregt. »Wann?«

»Vor etwa drei Monaten. Er bereut seine Kurzschlusshandlung tief, aber ich habe auch darüber geschwiegen, dass Sie sich Christinas angenommen haben«, sagte er.

Der Mann war glatt wie ein Aal. Er hatte immer eine Ausrede bei der Hand. Aber Björn wollte sich nicht mit ihm anlegen. Er wollte möglichst in Erfahrung bringen, wo Bob sich jetzt aufhielt. Dann wollte er auch die Sachen aus dem Hause holen, die wertvolle Erinnerungen an Christinas Kindheit waren.

Bereitwillig erklärte Dr. Vaerland, sofort mit ihm dorthin zu fahren. Er schien nichts anderes zu tun zu haben, obgleich Björn ja ohne Voranmeldung bei ihm erschienen war. Außer einer sehr hübschen jungen Sekretärin schien er auch keine Angestellten zu beschäftigen. Sein Büro war äußerst komfortabel eingerichtet, sein Wagen eines der teuersten Modelle. Finanziell musste es ihm jedenfalls sehr gut gehen.

Auf der Fahrt zu der Hammerdonkschen Villa schlug Vaerland einen leichten Plauderton an.

»Es wäre natürlich gut, wenn Christina bald im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte wäre, damit die Testamentseröffnung stattfinden kann«, sagte Dr. Vaerland.

»Wer zweifelt daran, dass sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist?«, fragte Björn erbost. »Sie ist durch den Unfall schwer erschüttert und verzweifelt, aber an ihrem Verstand?zu zweifeln soll niemand wagen.«

»Aber sie hatte doch das Gedächtnis verloren«, stellte Dr. Vaerland fest.

»Sie hatte Lücken«, korrigierte Björn den Kollegen, »aber ich bin der Überzeugung, dass sie sich an manches einfach nicht erinnern wollte, weil es zu schlimm war.«

»Sie haben kein Verständnis dafür, dass Ihren Bruder Panik ergriff und er mit dem entsetzlichen Geschehen auch erst fertig werden musste?«

Björn schaute den Anwalt misstrauisch an.

»Worauf wollen Sie hinaus? Ich denke, dass Sie ausreichend darüber informiert sind, was sich damals abgespielt hat. Ich habe nicht die Absicht, meinen Bruder zu schonen.« Seine Stimme klang energisch und entschlossen.

»Ich vermute, dass Sie eine Verbindung mit Christina eingehen wollen«, sagte Dr. Vaerland.

Björn warf ihm einen durchdringenden Blick zu.

»Es wäre besser, Sie würden sich keinen Vermutungen hingeben.« Und nach einer Weile fügte er etwas erleichtert hinzu: »So, da wären wir ja.«

Die Unterhaltung wurde vorerst unterbrochen. Dr. Vaerland kämpfte mit einer Unsicherheit. Wenig später betraten sie das Haus, in dem es dumpf roch. Die Möbel waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt.

»Ich lasse das Haus nur alle vier Wochen unter meiner Aufsicht reinigen«, erklärte Dr. Vaerland. »Hätten Sie Ihr Kommen angekündigt, wäre dies natürlich vorher geschehen.«

»Der Staub stört mich nicht.« Björn öffnete ein paar Fenster. Er war nur einmal in dem Hause gewesen und hatte die Einrichtung nicht mehr in Erinnerung, aber ein paar helle Flecken an den Wänden verrieten, dass dort einmal Gemälde gehangen hatten. Ein Manet war ihm damals aufgefallen. Das Bild fehlte. Auch ein Turner, den Christina als ihr Lieblingsbild bezeichnet hatte.

»Sind die Gemälde verlagert worden?«, fragte Björn und deutete auf die hellen Flecken an den Wänden.

»Welche?«, fragte Dr. Vaerland überstürzt.

»Ich kann mich an einen Manet und einen Turner erinnern. Die übrigen werden ja wohl verzeichnet sein«, sagte Björn.

»Ich weiß nicht, was Herr Hammerdonk mit den Gemälden gemacht hat. In dem Hause ist alles so, wie ich es übernommen habe.«

Björn glaubte ihm kein Wort, obgleich er nicht erklären konnte, woher dieses Misstrauen kam. Ihm war Vaerland einfach unsympathisch.

Christinas Räume lagen im oberen Stockwerk. Sie waren stilvoll eingerichtet, zeugten von viel Geschmack, und auch der Staub, der hier aufwirbelte, minderte den Reiz nur wenig.

»Christina möchte ihre Fotoalben, ihre Tagebücher und ihren Schmuck haben«, sagte Björn. »Falls Sie Bedenken haben, dass ich diese Dinge an mich nehme, könnten wir eine Amtsperson hinzuziehen«, schlug Björn vor.

»Aber ich bitte Sie, Herr Dr. Reuwen, ich hege keinerlei Misstrauen gegen Sie«, sagte Dr. Vaerland mit einem süffisanten Lächeln. »Wenn etwas nicht stimmen sollte, würde es ohnehin ans Tageslicht kommen, wenn Christina hier erscheint. Ich fürchte nur, dass das arme Mädchen einiges durchstehen muss, das vieles wieder aufrührt.«

»Ich bin darauf bedacht, dies weitgehendst zu verhindern. Und daran werden Sie wohl auch im eigenen Interesse selbst interessiert sein, da ein Herumwühlen in der Vergangenheit auch Ihre Beziehungen zu Frau Hammerdonk wieder publik machen könnte.«

Das traf ins Schwarze. Vaerland wurde fahl im Gesicht. »Dummer Klatsch!«, brauste er auf. »Gegen solche Verleumdungen werde ich gerichtlich vorgehen.«

»Was der Vergangenheit angehört, sollte ruhen«, erwiderte Björn, »und deshalb möchte ich auch, dass alles, was Christina anbetrifft, ohne Aufsehen erledigt wird. Das betrifft selbstverständlich auch die Erbschaftsangelegenheit.«

Während er sprach, hatte er schon die Schränke geöffnet, die gefüllt waren mit Kleidungsstücken. Es schien nichts zu fehlen. Für eine Reise war Christina anscheinend nicht gerüstet.

In dem Sekretär fand er dann eine verschlossene, ziemlich abgegriffene Collegemappe, zwei Lederkassetten, die ebenfalls verschlossen waren, und eine ganze Anzahl von Fotoalben. Es herrschte eine vorbildliche Ordnung, und nichts ließ darauf schließen, dass jemand dort herumgekramt hatte.

»Sie sehen, dass nichts angerührt worden ist«, sagte Dr. Vaerland sarkastisch.

Björn überhörte diese Bemerkung geflissentlich. Er ging durch die Räume, konnte aber keine auffallenden Lücken feststellen – von den hellen Flecken an den Wänden abgesehen. Der Abschied von Vaerland war reserviert und mehr als kühl. Zuerst hatte Björn noch einige Fragen nach Bob stellen wollen, doch das unterließ er, da Vaerland wohl doch nicht die Wahrheit gesagt hätte.

Björn fuhr anschließend zum Gericht, wo man seinen Mutmaßungen große Aufmerksamkeit schenkte, ihm jedoch nichts mitteilte, was aufschlussreich für ihn gewesen wäre. Zumindest die Beruhigung konnte er nach Hause mitnehmen, dass Dr. Vaerland gehörig auf die Finger geschaut wurde.

Er nahm einen Mietwagen und fuhr nach Odderö. Er hielt vor einem schmucken kleinen Haus. Im Garten arbeitete eine grauhaarige Frau, die einen recht rüstigen Eindruck machte. Ihr Gesicht versteinerte, als er sich vorstellte, und es dauerte einige Zeit, bis er sie zugänglicher gestimmt hatte, denn der Name Reuwen schien sie mit Abscheu zu erfüllen. Er begriff bald, dass Lining Bob aus einem Instinkt heraus abgelehnt und verachtet hatte, dass sie, diese schlichte Frau, ihn gefühlsmäßig sofort durchschaut hatte. Dass sie für Menschen eine ganz besonders gute Nase zu haben schien, kam ihm dann zugute.

Björn sprach über Christina, über die schweren Monate, die er mit ihr geteilt hatte, und wie sie sich nun quälte, der Vergangenheit und der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

»Es würde Christina sehr helfen, wenn ich ihr sagen könnte, dass Sie ihr nicht grollen«, sagte Björn.

»Kann sie nicht herkommen?«, fragte Lining.

»Nicht so bald.«

»Dann werde ich zu ihr fahren müssen«, erklärte Lining. »Ich habe einen Tag nach dem Unfall einen Brief von ihrem Vater bekommen. Darüber muss einmal gesprochen werden.«

Mit ihm wollte sich Lining darüber anscheinend nicht unterhalten, und Björn stellte keine Fragen, was ihr anscheinend gefiel.

»Sie haben Anstand, was der andere nicht hatte«, erklärte sie. »Sie haben viel für das Kind getan, das möchte ich glauben. Aber ich will mich erst davon überzeugen.«

»Sie wollen also die weite Reise auf sich nehmen?«, fragte Björn.

»Ich werde es schon noch schaffen.«

»Mit dem Flugzeug ist es nicht so schlimm«, entgegnete Björn.

Sie runzelte die Stirn. »Ich soll mich in so eine Höllenmaschine setzen? Ich kann den Krach schon nicht ertragen, wenn sie hier über uns hinwegfliegen. Nein, nein, das kommt nicht infrage.«

»In der Luft hört und spürt man nichts«, sagte Björn. »Wir wären in ein paar Stunden in München und bald bei Christina.«

»Und wann kann die Reise losgehen?«, fragte Lining, nun doch am Fliegen interessiert.

»Gleich morgen.«

Er wollte die Nacht in einem nahegelegenen Gasthof verbringen, von dem aus er auch den Flug telefonisch buchen konnte, doch Lining duldete es nicht. Sie bewies ihm ihr Wohlwollen, indem sie schleunigst in ihrem Häuschen ein gemütliches Gastzimmer herrichtete.

Nebenbei erfuhr er, dass dieses Haus den Hammerdonks als Wochenendhaus gedient und sie es von ihrem Herrn geschenkt bekommen hätte. Schwarz auf weiß hätte sie das, betonte sie. Daran wäre nicht zu rütteln. Er glaubte es ihr auch so, denn diese Frau war die verkörperte Ehrlichkeit.

Den größten Teil ihres Lebens war sie der Familie Hammerdonk verbunden gewesen. Wie viel ihr dies bedeutete, ging auch daraus hervor, dass überall Fotografien von Magnus Hammerdonk und Christina standen.

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Zu seiner Verwunderung hatte Björn tief und traumlos geschlafen. Lining musste schon sehr früh aufgestanden sein, denn sie war fix und fertig angekleidet und hatte auch schon das Frühstück zubereitet, bevor sie ihn weckte.

Man konnte sich mit ihr sehen lassen. Tadellos war sie gekleidet und frisiert. Richtig feierlich sah sie aus, und der schwarze Lederkoffer, den sie mitnahm, war genauso blankgeputzt wie ihre Schuhe.

Als sie dann im Wagen neben ihm saß, kerzengerade und den Blick starr nach vorn gerichtet, sagte sie: »Ich habe gehofft, dass die Hochzeit nicht stattfindet, aber nicht durch dieses schreckliche Unglück hätte sie verhindert werden dürfen.«

»Das Unglück war schicksalhafte Bestimmung«, erwiderte Björn. »Die Hochzeit sollte nicht stattfinden. Herr Hammerdonk wollte mit Christina wegfahren – nicht in die Kirche.«

Lining atmete schwer. »Aber in den Zeitungen stand doch, dass sie auf dem Wege zur Kirche waren«, murmelte sie irritiert.

»In den Zeitungen wurde viel geschrieben. Denken wir jetzt nicht daran, Lining. Es ist noch so vieles unklar, und manches werden wir wohl nie erfahren.«

Zum Beispiel, wie der Koffer mit den Kleidern, die Christina gar nicht gehören, in das Kabriolett gekommen war, ging es ihm durch den Sinn. Die Vorstellung, dass Bob auch diesen Wagen an sich bringen wollte, war zu grauenhaft.

»Wann haben Sie eigentlich das Haus verlassen, Lining?«, fragte er.

»Fünf Tage vor dem Hochzeitstermin«, erwiderte sie tonlos.

»Und warum?«

»Mir hat’s nicht gepasst, wie er sich aufführte«, erwiderte Lining mit fester Stimme.

»Sie können ganz offen mit mir reden, Lining.« Björn warf ihr einen langen Blick zu.

»Ihnen wird es auch peinlich sein, wie ich Sie einschätze«, sagte Lining brummig. »Ich bin jetzt aufgeregt. Ich bin noch nie geflogen. Wann geht es denn los?«

Sie waren bald am Flughafen, und Lining war tatsächlich so aufgeregt, dass es sinnlos war, über so wichtige Dinge mit ihr zu reden.

Björn musste die Tickets holen und das Gepäck aufgeben. Lining wollte sich nicht von ihrem Koffer trennen, und da er nicht groß war, wurde ihr auch gestattet, ihn mit in die Maschine zu nehmen. Sie hatte jetzt kreisrunde rote Flecken auf den Wangen, zog ihre Handschuhe an und aus und murmelte Unverständliches vor sich hin.

Dann, als sie in der Maschine Platz genommen hatten und Björn ihr beim Anschnallen behilflich war, fragte sie, warum das denn sein müsse.

»Es ist Vorschrift, Lining«, erklärte er.

»Aber Saltos schlägt die Maschine doch nicht, sonst wird mir nämlich schlecht«, brummte Lining.

Sie merkte dann gar nichts, als sich das Flugzeug emporhob. Sie hatte sich nur die Ohren zugehalten, als die Düsen zu heulen begannen. Und dann schaute sie zum Fenster hinaus.

»Die Wolken sind ja unter uns«, staunte sie überwältigt und deutete zum Fenster.

»Und über uns ist der Himmel«, sagte Björn.

»Ob der Herr mich sieht? Ich will’s rechtmachen. Es soll alles seine Ordnung haben. Das Kind soll gesund werden und sich nicht mehr grämen.«

Björn fasste nach ihrer Hand und drückte sie. »Ich danke Ihnen, Lining.«

Sie sah ihn aus blitzblanken Augen an. »Wie Brüder so verschieden sein können«, meinte sie kopfschüttelnd. »Nun fragen Sie mich nur alles, was Sie wissen wollen.«

Björn sah die alte Frau dankbar an.

»Ich würde sehr gern wissen, warum Sie so plötzlich das Haus für immer verlassen haben.«

»Für immer wollt ich ja nicht gehen. Nur die Hochzeit wollte ich nicht mitmachen. Und gewurmt hat es mich, dass er Christina um Geld angegangen ist. Als ob sich das gehört. Ich hab’s Christina ins Gesicht gesagt, dass sich so etwas nicht gehört, und sie hat dazu noch gelacht. Aber sie hat ja nie etwas Schlechtes gedacht.«

»Können Sie mir das nicht genauer erzählen?«, fragte Björn.

»Na ja, gepasst hat es ihm wohl nicht, dass ich das bemerkt habe. Aber ich habe gute Ohren. Er hat Christina erzählt, dass seine Überweisung noch nicht gekommen sei, aber sein Bruder würde ohnehin bald kommen. Und Christina sollte ihm etwas borgen. Ich weiß nicht genau, wie viel, aber bestimmt nicht bloß ein paar hundert Kronen, denn sie hat gesagt, dass sie höchstens zehntausend auf ihrem Konto hätte. Wenn er mehr brauchte, müsse sie ihren Vater bitten, aber das wollte er nicht. Und ich habe ihr dann gesagt, dass ein Gentleman so was nicht tut, und da hat Christina gesagt, dass ich nicht lauschen solle und ich mich überhaupt nicht einzumischen hätte. Sie war ja wie hypnotisiert von ihm. Das habe ich ihr auch gesagt und dass er nichts taugt. Dann hat sie gesagt, dass sich unsere Wege trennen. Ich bin dann in sein Hotel gefahren. Ja, das habe ich gemacht. Die Beschließerin ist meine Nichte, und sie wollte ich fragen, was dieser Mann im Hotel macht. Ich habe so ein Gefühl gehabt, und das hat mich nicht getäuscht. Ich habe ihn mit einer anderen Frau gesehen. Mit einer ganz aufgetakelten, und gekichert haben sie miteinander. Ganz schlecht war mir. Ich habe überlegt, was ich tun soll.«

»Und was haben Sie dann gemacht, Lining?«, fragte Björn gespannt.

»Dem Herrn hab’ ich es erzählt. Ich musste es doch. Ich wollte das Kind nicht ins Unglück laufen lassen.« Sie seufzte schwer. »Wie er mich angeschaut hat, werde ich nie vergessen. Und immer nur genickt hat er, stumm wie ein Fisch. Ganz bange ist mir geworden.«

»Und Sie sind nach Odderö gefahren.«

»Der Herr hat’s gesagt. Ich solle nur fahren, er würde das schon in Ordnung bringen. – Warum musste das Unglück geschehen, warum nur?«

»Es war ein tragischer Zufall, Lining«, sagte Björn mit dem Ton tiefster Überzeugung.

»Gewollt kann es der Herr nicht haben. Er war ein gläubiger Christ, aber der andere, der stand mit dem Teufel im Bunde. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Doktor, weil er doch Ihr Bruder

ist …«

Ja, Bob war sein Bruder. Wie wollte er da erwarten, dass Christina ihn lieben konnte? Allein sein Name musste sie Tag für Tag an das Schreckliche erinnern.

Björn versank in Schweigen, und auch Lining sprach jetzt nicht mehr. Sie blickte zum Fenster hinaus. Genau wie im Wagen saß sie stocksteif neben ihm, und ihre Hände lagen gefaltet auf der Schnalle des Sicherheitsgurtes, den sie geschlossen hielt.

*

Die Vormittagssprechstunde bei Dr. Norden war noch nicht beendet, als Isabel Guntram hereingestürmt kam.

Fee unterhielt sich gerade mit Molly. Daniel machte einen Besuch bei Helmut Kring, den es ganz gewaltig erwischt hatte.

»Auf der Flucht vor dem netten Arne?«, fragte Fee belustigt.

»Nicht die Spur. Er ist ein richtiger, feiner Kumpel. Er hat’s gelassen hingenommen, dass ich Jürgen heiraten werde. Aber herausgebracht hat er was, worüber ihr staunen werdet.« Sie sah Fee triumphierend an.

»Könntest du dich noch ein paar Minuten gedulden, Isabel?«, dämpfte Fee das Temperament der anderen. »Ich muss noch einen dringenden Anruf erledigen und einen Patienten verarzten. Du kannst inzwischen schon hinauffahren und Lenchen Gesellschaft leisten, dann ist sie nicht gar so ungehalten, dass es mit dem Essen wieder später wird.«

Isabel fügte sich, obgleich man ihr anmerken konnte, wie sehr sie darauf brannte, die Neuigkeit loszuwerden.

Damit musste sie sich dann doch noch fast eine halbe Stunde gedulden, aber Lenchen hatte sie ein wenig entschädigt und ihr inzwischen eine köstliche Königinpastete als Vorspeise serviert.

Daniel kam gemeinsam mit Fee. Und so erfuhren sie es denn auch gleichzeitig.

»Bekannt ist Arne ja wie ein bunter Hund«, begann Isabel, »und hier trifft er doch tatsächlich einen Kollegen, der damals über den Hammerdonk-Unfall berichtet hat. Aber darum geht’s nicht. Bob Reuwen ist tot«, platzte sie heraus.

»Das Gerücht wurde doch systematisch in die Welt gesetzt«, warf Daniel ein.

»Er ist wirklich tot«, beharrte Isabel. »Arne hat es von einem Kollegen erfahren. Bob Reuwen ist mit seiner Frau bei einem Überfall auf ein Hotel in Israel ums Leben gekommen. Das heißt, von ihm wissen sie es gewiss. Seine Frau konnte nicht identifiziert werden.«

»Das wollen wir doch mal mit aller Vorsicht aufnehmen«, sagte Daniel warnend.

»John Callen war zu der Zeit in Israel. Das ist der Kollege. Ein ganz korrekter Mann, nicht so ein Sensationsreporter.«

»Wenn man dem Krieg nachläuft, muss man schon sensationslüstern sein«, sagte Fee nachdenklich.

»Nein, so darf man das nicht verstehen, Fee«, protestierte Isabel. »Die Welt hat ein Anrecht auf konkrete Berichterstattung. Callen ist für das Fernsehen tätig. Er hat dort gefilmt. Er kann beweisen, dass Bob Reuwen tot ist. Wo steckt denn eigentlich Dr. Reuwen?«

»Er ist nach Kopenhagen geflogen. Wann er zurückkommt, wissen wir auch nicht«, erwiderte Daniel achselzuckend.

»Ihn wird es jedenfalls sehr interessieren, was Callen zu berichten hat. Sagt ihm nur gleich Bescheid, wenn ihr was von ihm hört. Callen bleibt noch in München, Arne auch.«

»Und Jürgen wird sich schönstens bedanken, dass seine Zukünftige wieder mitten im Trubel ist, anstatt sich auf die Hochzeit vorzubereiten«, sagte Daniel neckend.

»Er braucht es ja nicht zu erfahren. Und so ist es ja nun auch wieder nicht, dass ich mittendrin bin. Außerdem: Wer hat mich denn dazu verleitet, Erkundigungen einzuziehen?«

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte Fee mit schuldbewusster Miene. »Deine Beziehungen werden uns in Zukunft sehr fehlen, Isabel.«

»Dann werden wir wohl endlich einmal wie ein normales Arztehepaar leben«, sagte Daniel, »und alles Geheimnisvolle im Leben unserer Patienten können andere lösen.«

»Also sprach Dr. Daniel Norden«, sagte Isabel lächelnd. »Aber immerhin habt ihr dann ja Sabine, die schon ganz zielsicher in meine Fußstapfen tritt.«

»Nichts bleibt uns erspart«, seufzte Daniel. »Kann das Mädchen denn nicht schlicht und einfach heiraten? Hübsch genug ist sie doch.«

Sabine, Helga Molls Tochter, hatte als Volontärin in Isabels Redaktion angefangen, aber sich sehr schnell ganz in den interessanten Beruf hineingefunden und engagiert.

»Schön dumm wäre sie«, meinte Isabel. »Eine Frau sollte überhaupt erst heiraten, wenn sie alles erreicht hat, was im Bereich ihrer Möglichkeiten liegt. Dann ist sie nie auf ein Mannsbild angewiesen.«

»Du, das werde ich Jürgen erzählen«, sagte Daniel spitzbübisch.

»Er kennt meinen Standpunkt. Ehe soll Partnerschaft sein, nicht Abhängigkeit. Schließlich kann es auch mal der Fall sein, dass ein Mann auf seine Frau angewiesen ist, und sie steht dann dumm da, wenn sie nicht für den Lebensunterhalt sorgen kann. Der Mann, lieber Dan, muss nicht immer der Stärkere sein. Und wenn eine Frau die Ehe bloß als Versorgungsmöglichkeit betrachtet, hat sie bei mir schon verspielt. Unser Sabinchen hat’s begriffen. Sie ist ein ganz tüchtiges Mädchen. Meine Güte, wir kommen mal wieder vom Hundertsten ins Tausendste, und dabei habe ich so viel zu tun. Also, wenn Dr. Reuwen sich meldet, sagt ihm Bescheid, dass er von John Callen interessante Informationen bekommen kann.«

Zehn Minuten später, nachdem sie die Nordens verlassen hatte, landete das Flugzeug aus Kopenhagen in München-Riem.

Lining hatte auch das gar nicht richtig bemerkt.

»Was, wir sind schon da?«, fragte sie verblüfft und schaute auf das Flughafengebäude.

»Ja, so schnell geht es, Lining«, erwiderte Björn. Er nahm sie beim Arm und führte sie hinaus.

»Sie sind ein netter Mensch«, sagte sie. »Wann sind wir denn nur bei dem Kind? Hinfliegen können wir wohl nicht?«

Ein kleines Lächeln huschte über Björns Gesicht. »Nein, da müssen wir schon mit dem Auto fahren. Und wir sind fast so lange unterwegs wie mit dem Flugzeug von Kopenhagen bis München, wenn wir Pech haben.«

»Wieso Pech?«

»Es kommt auf den Verkehr an. Auf den Autostraßen geht es wilder zu als in der Luft.«

»Ich wusste nicht, dass das Fliegen so schön ist«, sagte Lining. »Über den Wolken fühlt man erst, wie winzig die Erde ist im All und wie ganz klein der Mensch. Und was ist schon das Leben? Ein Hauch in der Ewigkeit.«

Eine erstaunliche Philosophie war das für eine so einfache Frau. Aber sie dachte nicht, sie sagte einfach, was sie fühlte. Björn mochte Lining sehr.

»Ich würde gern zu Hause anrufen, ob etwas Besonderes vorliegt«, erklärte er.

»Tun Sie das nur«, sagte Lining.

Er erfuhr von Katinka, dass Dr. Norden angerufen hatte und dringendst um seinen Rückruf bäte, wenn er zurück sei. Erregt und besorgt rief Björn bei Dr. Norden an, denn all seine Gedanken galten Christina. Er hatte Angst, schlechte Nachrichten über sie zu bekommen.

Aber von Fee hörte er dann, was Isabel gerade erst berichtet hatte.

Mit zwiespältigen Gefühlen kehrte er zur wartenden Lining zurück. Er wusste nicht recht, wie er sich entscheiden sollte.

»Es gibt also was«, sagte Lining.

»Sie können Gedanken lesen.«

»Da braucht man nicht weit zu gucken«, meinte sie und ließ den Blick auf seinem Gesicht ruhen.

»Wenn ich Sie jetzt in ein Taxi setze, das Sie zur Insel der Hoffnung bringt, sind Sie mir dann böse?«, fragte Björn direkt.

»Warum denn? Wenn der Mann anständig fährt. Werden Sie nachkommen?«

Er wunderte sich schon nicht mehr, dass sie in Bezug auf Bob so konsequent gewesen war. Lining liebte keine Umwege und kein Zögern.

»Ich komme so schnell wie möglich nach. Sie könnten eventuell auf mich in unserem Haus warten.«

»Nein, ich möchte zu Christina. Ich fühl’s, dass sie an mich denkt. Hier drinnen spür’ ich es«, sagte sie und klopfte auf die Stelle, wo sich das Herz des Menschen befindet. »Es wird mit dem Taxi wohl ziemlich teuer werden, aber ich habe meine Ersparnisse dabei.«

»Das geht selbstverständlich auf meine Rechnung, Lining«, sagte Björn.

»Das wäre wohl noch schöner.«

Er brachte sie zum Taxi. In ihrer dänischen Muttersprache ermahnte sie den Fahrer sofort, sie sicher ans Ziel zu bringen. Der sah sie nur konsterniert an.

Björn erklärte es ihm auf deutsch und drückte ihm unauffällig ein paar Geldscheine in die Hand.

»Die Dame möchte heil ans Ziel gelangen«, sagte Björn.

»Ich auch. Auf mich warten eine Frau und drei Kinder. Was für eine Sprache spricht die Dame?«

»Dänisch.«

»Ich kann auch etwas deutsch«, erklärte Lining betont.

Björn drückte ihr fest die Hand. »Ganz sanft müssen Sie mit Christina sein«, sagte er.

»Ich werde es schon recht machen«, erwiderte sie und lächelte ihn freundlich an.

Nur diese eine Nachricht hatte Björn hier zurückhalten können: Bob war tot! Es gab einen Mann, der dies beweisen konnte.

Er musste diesen Mann sprechen. Er musste den Beweis erhalten.

*

John Callen war nicht der Typ des Abenteurers. Er war mitelgroß, sehr schlank, hatte leicht ergrautes Haar, ein schmales, faltiges Gesicht, das tief gebräunt war, was die Falten noch mehr hervortreten ließ. Seine Nase war schmal und scharf gebogen. Auch seine Augen waren wachsam wie die eines Raubvogels, ohne dass sie gefährlich gewirkt hätten.

Björn traf ihn in der Hotelhalle in Gesellschaft von Arne Larsen und Isabel, die – von Fee verständigt – auch dorthin geeilt waren. Vorerst wollte sie ihre ganz privaten Angelegenheiten zurückstellen, denn so ganz hatte sie ihrem Journalistendasein doch noch nicht Adieu gesagt.

Für sich selbst hatte sie die Entschuldigung, dass ihr das Wohl und Wehe jedes Patienten der Insel der Hoffnung am Herzen liegen müsse.

Für Björn bestand bald kein Zweifel, dass John Callen seinen Bruder persönlich gekannt hatte, denn er konnte ihn nicht nur genau beschreiben, sondern wusste auch Einzelheiten, die man nur kennen konnte, wenn man mit Bob gesprochen hatte.

Dass John Callen auch auf einen Profit bedacht war, konnte man ihm nicht verübeln. Unter eigener Lebensgefahr hatte er seinen Film in Israel gedreht. Wenn er aus diesem nun einzelne Szenen herausschneiden sollte, dürfte diese Mühe nicht umsonst sein.

Björn war zu allem bereit, doch er wollte den Film erst sehen. Dem stand nichts im Wege. Isabel sorgte dafür, dass sie einen Vorführraum und auch eine Leinwand bekamen.

Und Björn sah seinen Bruder Bob. Zuerst in Gesellschaft einer schönen Frau, die er sofort erkannte. Überrascht konnte er nicht mehr sein, dass es Jennifer war, wenngleich nicht auszuschließen gewesen war, dass Bob sich vorübergehend anderweitig engagiert hatte. Liebe war für ihn nicht gleich Treue und Beständigkeit. Für ihn hatten schon immer andere Gesetze gegolten oder gar keine. Er hatte immer das getan, was ihm gefiel.

John Callen gab mit ruhiger Stimme seine Kommentare zu dem Film, stoppte ihn, wenn Björn Halt gebot, und ließ ihn auch zurücklaufen.

Bob und Jennifer sahen blendend aus, eines Filmpaares würdig. Tief gebräunt von der Sonne, leger gekleidet, sah man sie durch eine komfortabel eingerichtete Hotelhalle gehen.

»Wir haben einen sehr amüsanten Abend verbracht«, erklärte John Callen. »Am nächsten Tag war alles vorbei. Da sah es dann so aus.«

Man sah es. Das Hotel hatte gerade den Überfall überstanden. Menschen lagen verletzt am Boden, Blut floss, und auf einer Bahre lag Bob mit toten Augen.

»Ich konnte ihn identifizieren«, sagte John Callen. »Jennifer lag wohl unter den anderen. Vielleicht war sie auch nicht da, aber getroffen habe ich sie lebend später nicht mehr. Ich selbst hatte unglaubliches Glück, weil ich mir gerade eine Flasche Whisky besorgen wollte.«

»Ich bin nicht verständigt worden«, sagte Björn heiser.

John Callen zündete sich eine Zigarette an. »Bob hatte einen falschen Pass. Es war ihm zuerst auch nicht angenehm, mich zu treffen, aber ich sagte ihm, dass er sich deswegen keine Sorgen zu machen brauche. Wenn es ratsam ist, möchte ich auch mal inkognito bleiben. Mich haben sie da unten erst ein paar Wochen festgehalten, bis unsere Botschaft meine Freilassung erreicht hat. Jetzt habe ich die Nase erst mal voll.« Er sah Björn an. »Mein Mitgefühl brauche ich Ihnen wohl nicht auszudrücken nach allem, was ich inzwischen von Arne gehört habe. Ich wusste das nicht.«

»Jedenfalls haben Sie mir einen großen Gefallen getan«, sagte Björn. »Sind Sie bereit, mir das Teilstück des Filmes zu verkaufen?«

»Okay«, sagte Callen. »Machen Sie den Preis.«

*

Für Christina hatte der Morgen schon ein unverhofftes Glück gebracht. Mit Katja kam ein kleiner schwarzhaariger Junge hereinspaziert, einen großen bunten Frühlingsstrauß vor sich her tragend.

»Guten Morgen, ich bin der Mario. Wir haben uns überhaupt noch nicht kennengelernt«, sagte er.

»Mein kleiner Bruder«, erklärte Katja. »Ich habe dir schon von ihm erzählt, Christina.«

Der kleine Italiener, dessen Eltern bei einem Bootsunglück ertrunken waren und der von Dr. Cornelius adoptiert worden war. Gar so lange war das noch nicht her, aber er sprach schon perfekt deutsch und sogar schon mit Dialekt.

»Du bist aber lieb«, sagte Christina. »So schöne Blumen. Ich danke dir, Mario.«

»Darf ich auch Christina zu dir sagen, wenn Katja schon deine Freundin ist?«, fragte er.

»Freilich darfst du das.«

»Du sprichst auch so ein ganz klein bisschen komisch deutsch«, stellte er pfiffig fest.

»Weil ich in Dänemark aufgewachsen bin«, erwiderte Christina.

»Wo ist das? Erklärst du es mir? Bei Papi im Zimmer haben wir einen Globus. Da kannst du es mir zeigen. Ich möchte gern viel wissen. Hier sind alle so schlau.«

»Dir wird es langweilig werden in der Schule, wenn du alles schon vorher lernst, Mario«, sagte Katja lachend.

»Nein, bestimmt nicht. Außerdem kann ich in der Schule gar nicht so viel lernen wie bei uns hier. Tante Henriette sagt es auch. Sie war schon alt, als sie zur Insel der Hoffnung kam, und hier hat sie das meiste gelernt. Du musst Tante Henriette kennenlernen, Christina. Es regnet nicht, da brauchst du doch nicht im Zimmer zu sitzen. Ich zeige dir alles. Willst du?« Seine Augen waren fragend auf Christina gerichtet.

Von Katja wusste Christina bereits, dass er Vater und Mutter verloren hatte und in ein Waisenhaus gemusst hätte, wenn man ihm hier nicht eine Heimat gegeben hätte.

Aber sie erlebte auch, dass Mario ein vollkommen glückliches Kind war, das diejenigen, zu denen er nun gehörte, bedingungslos liebte. Er hatte längst vergessen, was früher gewesen war. Aber er war ein kleiner Junge, und ihm war es noch nie so gut gegangen wie jetzt.

Ob ich auch einmal vergessen kann, dachte Christina, als sie, seine kleine Hand in der ihren, mit ihm über die Insel ging.

Vergessen? Sie wollte doch ihre Vergangenheit und sich selbst erst wiederfinden! Noch waren es doch nur Bruchteile, an die sie sich erinnerte! Und plötzlich wünschte sie sich, alles ausgelöscht zu wissen. Björn müsste kommen, sie in die Arme nehmen, ihr wieder das Gefühl der Geborgenheit vermitteln, über ihr Haar streichen und sagen: ›Ich liebe dich!‹ Sie sehnte sich danach. Seine Stimme klang an ihren Ohren fort, bei dem Gedanken an ihn strömte das Blut heiß durch ihre Adern.

»Unsere Insel ist das Paradies«, sagte Mario. »Glaubst du es, Christina?«

»Es ist wunderschön hier«, sagte sie.

»Schöner kann’s nirgendwo sein«, erklärte er im Brustton vollster Überzeugung. »Es waren mal sehr, sehr nette Leute aus dem Sonnenwinkel hier, und die haben auch gesagt, dass es bei ihnen wunderschön ist, aber dann haben sie doch zugegeben, dass jeder sein Paradies finden kann. Rede ich gescheit, Christina?«, fragte er stolz.

»Sehr gescheit, Mario«, erwiderte sie.

»Da war auch ein kleines Mädchen, das Bambi heißt. Sie ist schon ein bisschen größer als ich, aber wahnsinnig gescheit, und sie ist meine Freundin. Ihr Opi und ihre Omi wollen jedes Jahr herkommen. Aber Papi hat gesagt, dass ich mein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen brauche. Ist mein Papi nicht der allerliebste von der Welt? Und meine Mami die allerbeste!«

»Du kannst sehr froh sein, solche Eltern zu haben, Mario.«

»Und große Schwestern«, nickte er. »Nicht bloß Katja. Fee ist auch meine Schwester. Überhaupt gibt es noch mehr Menschen, die ich schrecklich lieb habe. Ich bin nämlich gar nicht geboren. Ich bin vom Himmel gefallen. Was sagst du nun?«

Zuerst wusste Christina nicht, was sie erwidern sollte, aber dann gab ihr ein fremder Wille die Antwort ein. »Dann hast du aber ganz großes Glück gehabt, dass du direkt auf die Insel gefallen bist, Mario.« Sie lachte ihm herzlich zu.

Er lachte fröhlich zurück. »Nicht gleich. Zuerst hat mich Daniel aufgefangt – oder heißt es aufgefangen?«

»Ja, es heißt aufgefangen, Mario.«

»Er hat mich aufgefangen, und da war ich pudelnass. Fee hat mich dann abgetrocknet, und Lenchen hat mich gefüttert. Und dann haben sie mich allesamt zu Mami und Papi gebracht. Manche Kinder sind ganz winzig klein, wenn sie zu ihren Eltern kommen und wissen gar nicht, ob sie überhaupt richtig lieb zu ihnen sind. Aber ich habe das gleich wissen dürfen. Und weißt du, was die meisten Leute zu mir sagen, Christina? Dass ich ein Glückskind bin. Ist das nicht schön? Und deswegen habe ich auch die Quelle gefunden. Und die macht wieder viele, viele Menschen gesund und glücklich. Dich auch.« Seine strahlenden dunklen Augen blickten zu ihr empor. »Dich habe ich ganz besonders lieb, Christina, weil die anderen Leute so viel lachen und du nicht. Aber du lernst es schon noch.«

»Du bist lieb, Mario«, sagte Christina zärtlich. »Ich hätte auch gern so einen kleinen Bruder.«

»Du kannst dir doch ein Baby wünschen«, meinte er. »Fee bekommt auch eines. Da muss man zwar ziemlich lange warten, aber man kann es ja rechtzeitig bestellen.«

Sie waren nun wieder zur Quelle gelangt. Mario war ahnungslos, dass Christina schon mit Katja dort gewesen war. Sie verriet es nicht, als er ihr nun voller Eifer erzählte, wie er diese Quelle entdeckt hatte.

»Kannst du dir das vorstellen, Christina, dass sie ganz viele, viele Jahre versiegt war, weil früher Leute da waren, die Geld dafür haben wollten, wenn jemand daraus trinken wollte? In der Chronik steht es, du kannst es lesen. Aber wenn die Menschen habgierig sind, dann schiebt der liebe Gott einen Riegel vor. So ist das. Papi sagt, dass Habgier die Menschen verdirbt.«

Wie wahr, dachte Christina, und ein Frösteln kroch durch ihren Körper.

»Friert’s dich?«, fragte Mario. »Komm, trink mal. Das Wasser ist wohl kühl, aber wenn man es getrunken hat, wird einem ganz warm. Die Quelle kann wirklich alle Wunden heilen, Christina.«

Alle, fragte sich Christina, auch die, die einem gutgläubigen Herzen geschlagen wurden?

Aber sie fror tatsächlich nicht mehr, als sie zurückgingen. Ihre Wangen hatten sogar einen rosigen Schimmer, und dann blieb sie plötzlich stehen. Ihre Augen weiteten sich staunend, noch ungläubig, aber es war keine Halluzination. Da stand Lining, breitete die Arme aus und rief ihren Namen. Und Christina lief auf sie zu und ließ sich einhüllen von mütterlicher Wärme.

Christina hatte nun schon an das Gute zu glauben begonnen, an Björn, dem nichts zu viel wurde, um ihr zu helfen, ihr Freude zu bereiten.

Lining war des Lobes voll über ihn, und damit überbrückte sie vorerst die Rührung dieses Wiedersehens.

In Linings Gegenwart wurde die Kindheit für Christina ganz von selbst lebendig, die Ferien in Odderö, die Schulzeit, die fröhlichen Kinderfeste, die gefeiert wurden. Immer wieder war Lining bereit gewesen, alles für ihre Christina zu tun, und dann war doch ein Tag gekommen, an dem sie sich gegenseitig Schmerz zugefügt hatten.

»Warum hast du ihn eigentlich gleich abgelehnt, Lining?«, fragte Christina.

Lining zuckte die Achseln. »Zuerst einmal ging mir alles viel zu schnell«, erwiderte sie. »Ach, wir wollen nicht darüber sprechen, Kindchen.«

»Doch, ich will darüber sprechen.«

»Du sollst dich nicht quälen, Christina.«

»Die Dunkelheit war so undurchdringlich. Das hat mich gequält. Manchmal dachte ich, ich wäre verrückt, Lining. Es war schrecklich!«

»Wenn man es denkt, ist man es nicht«, erklärte Lining trocken. »Du warst lange krank.«

»Niemand besuchte mich.«

»Du wolltest niemanden sehen.«

»Warst du bei mir?«

»Ja, aber du hast mich nicht erkannt.«

Lining wollte nicht sagen, dass sie immer nur nach Bob gerufen hatte.

»Bob ist nicht tot, Lining. Er ist mit einer anderen Frau weggegangen.«

Lining nickte mechanisch. Forschend ruhten Christinas Blicke auf ihr.

»Du wusstest es?«

»Ja, ich wusste es.«

»Du wusstest es, Papa wusste es, und Björn wusste es wohl auch. Nur ich wusste es nicht.«

»Du hättest es nicht geglaubt, wenn man es dir gesagt hätte«, erklärte Lining.

Christinas Gesicht bekam einen in sich gekehrten Ausdruck.

»Nein, ich wollte es nicht glauben, als Papa es mir sagte.«

»Er hat es dir gesagt?«, fragte die alte Frau in ungläubigem Erstaunen.

»Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, Lining. Ich habe in den letzten Tagen nach Erklärungen gesucht, warum das alles so gekommen ist. Und wenn er mir aus diesem Käfig heraushelfen könnte …«

»Du lebst, Christina. Du hast Freunde, die dir helfen«, sagte Lining eindringlich, »allein das ist wichtig.«

Christina sah sie gedankenverloren an. »Bob fand es unpassend, dass du mich duztest«, sagte sie sinnend.

»Er hat gemerkt, dass ich ihn durchschaute. Er wollte mich aus dem Haus haben, und das hat er ja dann auch erreicht. Ich törichte alte Frau hätte es darauf ankommen lassen sollen. Ich hätte dich bei der Hand nehmen sollen und dich in das Hotel führen, damit du ihn mit dieser anderen Frau siehst. Aber vielleicht hättest du dich sogar dann noch wieder von ihm beschwatzen lassen. So, und nun reden wir nicht mehr darüber.«

»Warum musste das alles geschehen, Lining?«, schluchzte Christina auf. »Warum musste Papa sterben?«

»Es war Gottes Wille«, sagte Lining leise.

*

»Lining ist für Christina so was wie Lenchen für uns«, sagte Mario. »Stimmt das, Mami?«

Anne Cornelius nickte. Sie war genauso erleichtert wie ihr Mann, dass der gefürchtete Schock bei Christina ausgeblieben war. Sie hatten doch ihre Bedenken gehabt, als Lining unangemeldet hier aufkreuzte. Sie hatten sich auch gefragt, warum Dr. Reuwen sie nicht begleitet hatte.

Björn kam, als die Dämmerung schon herabsank. Christina war mit Lining in ihrem Appartement und bemerkte sein Kommen nicht.

Björn sah so erschöpft aus, dass Dr. Cornelius die Bemerkung machte, er sei nun wohl auch reif für einen Sanatoriumsaufenthalt.

»Ich will nun gewiss keine Reklame für uns machen, denn wir sind ausgebucht, aber ein paar Tage Ruhe sollten Sie sich schon gönnen, Herr Reuwen«, sagte er mit warmer Herzlichkeit in der Stimme.

»Wenn Sie mir ein ganz bescheidenes Bett zur Verfügung stellen könnten, hätte ich nichts dagegen einzuwenden«, sagte Björn müde. Aber dann wollte er doch erst wissen, wie Christina Linings Kommen aufgenommen hatte. Und dann erklärte er auch, warum er nicht gleich mit ihr zusammen gekommen war.

Das war nun allerdings eine aufregende Nachricht. »Sie haben den Beweis?«, fragte Dr. Cornelius.

»In diesem Koffer«, erwiderte Björn. »Es gibt keinen Zweifel. Mr Callen ist auch durchaus vertrauenswürdig«, sagte er, »am Tod meines Bruders besteht kein Zweifel.«

»Er ist tot. Ausgelöscht«, sagte Dr. Cornelius gedankenvoll. »Es wird ihr helfen.«

»Meinen Sie wirklich?«, fragte Björn. »Ich mache mir da meine Gedanken. Es ist nicht zu leugnen, dass ich Bobs Bruder bin, dass ich den gleichen Namen trage. Ich habe überlegt, ob es nicht besser sei, nun auch aus Christinas Leben zu verschwinden, da Lining für sie sorgen kann und wird.«

Dr. Cornelius sah ihn gedankenvoll an. »Wollen Sie die Entscheidung nicht Christina überlassen? Ich will nicht ausschließen, dass sie eine für Sie schmerzliche Entscheidung treffen könnte, aber einfach aus ihrem Leben wegstehlen können Sie sich doch nicht, Herr Dr. Reuwen.«

»Sie bedeutet mir unsagbar viel. Aber was soll ich darüber reden? Wichtig allein ist, dass sie sich in der Gegenwart zurechtfindet und zuversichtlich in die Zukunft geht. Ich werde jetzt zu ihr gehen.«

Johannes und Anne Cornelius tauschten einen langen, verständnisinnigen Blick. »In nichts beweist sich Liebe mehr, als in der Bereitschaft zum Verzicht«, sagte Anne leise.

»Aber gekrönt wird die Liebe nur durch Erfüllung, mein Liebes, und wenn es einen Mann gibt, der Christina glücklich machen kann, dann ist es dieser, auch wenn er Reuwen heißt.«

*

Lining ging gleich hinaus, als Björn kam. Ganz fest hatte sie ihm die Hand gedrückt und aufmunternd zugenickt, aber bevor er noch etwas zu der alten Frau sagen konnte, war sie schon in der Dunkelheit verschwunden.

»Was ist denn, Lining?«, fragte Christina drinnen. »Ist Katja gekommen?«

Björn trat ein. »Ich bin es«, sagte er heiser.

Christina sprang auf, lief auf ihn zu und umarmte ihn heftig.

»Björn«, ganz fest presste sie den Kopf an seine Brust. Seine Hände zitterten, als er sie um ihr Gesicht legte und es emporhob.

»Hast du dich gefreut, als Lining kam?«, fragte er leise.

»Was du alles für mich tust.« Ihr weicher Mund streichelte seine Wange. Er blickte in ihre Augen, in denen ein tiefes Leuchten war.

Unendliche Sehnsucht, diesen weichen Mund zu küssen, erfüllte ihn, aber er wollte dieser Sehnsucht nicht nachgeben. »Christina, denkst du daran, dass ich Bobs Bruder bin?«, fragte er.

Ihre Lider senkten sich. »Warum fragst du das? Warum in diesem Ton, Björn?«

»Bob ist tot«, sagte er tonlos.

»Er ist schon lange tot. Für mich ist er tot, wenn du das hören willst.«

Björn schüttelte den Kopf, sein Blick war ernst. »Er ist wirklich tot. Ich habe es heute erfahren.«

»Ist es von Bedeutung, wann er gestorben ist?«, fragte Christina. »Oder wie er gestorben ist? Aus meinem Leben ist er doch fortgegangen, ohne einen Gedanken an mich zu verschwenden.«

»Du hast ihn geliebt«, beharrte Björn, »du hast ihn sogar sehr geliebt.«

»Vielleicht. Es ist lange her. Und es ist so viel geschehen seither. Ich war ein törichtes Mädchen. Lining hat es mir sehr deutlich gesagt. Ich war blind und taub. Niemand wagte, meine Träume zu zerstören. Warum sagst du mir das nicht so deutlich, wie Lining es mir gesagt hat?«, fragte sie und suchte seinen Blick.

»Ich habe dich anders gesehen, Christina«, erwiderte Björn heiser.

»Wie hast du mich gesehen?«, fragte sie fast verwundert.

»Ich fragte mich, wie Bob nur so viel Glück haben könne, aber ich dachte auch, dass er durch dich ein anderer Mensch werden würde.«

»Kann ein Mensch sich ändern?«, fragte Christina. »Kann ein Mensch das?«

»Gewiss.«

»Durch besondere Ereignisse«, sagte sie sinnend. »Hast du dich früher gut mit Bob verstanden?«

Björn wollte nicht über Bob sprechen, nicht über die Kindheit und Jugend, die er mit ihm verbracht und in

der es so viele Stürme gegeben hatte. Jetzt war Bob tot, er, der immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen wollte.

»Ich bin jetzt ein ganz anderer Mensch als früher«, sagte Christina in das Schweigen hinein. »Wie ist Bob gestorben? Durch einen Unfall?«

»Bei einem Überfall auf ein Hotel. Es geschah in Israel.«

»Es ist seltsam«, sagte Christina. »Man kann dem Verderben nicht davonlaufen. Der Tod folgt einem um die ganze Welt. Mors certa, hora incerta. Der Tod ist gewiss, doch ungewiss die Stunde. Wir haben es in der Schule gelernt.«

Björn war erschüttert von der Ruhe, die sich in ihrem Antlitz ausdrückte, mit der sie diese Worte sprach.

»Ich habe ihn für ein paar Stunden, vielleicht auch für ein paar Tage gehasst«, fuhr Christina fort. »Das ist vorbei, da sein Leben nun ausgelöscht ist. Es ist auch gut für mich, nicht mehr Angst haben zu müssen, ihm noch einmal zu begegnen.«

Björn trat hinter sie und legte die Hände um ihre Schultern. Sie ließ den Kopf an seine Brust zurücksinken.

»Du bist bei mir, Björn«, flüsterte Christina. »Verlass mich nie. Ich bitte dich darum. Ich brauche so viel Zeit, um dir zu danken.«

»Du sollst mir nicht danken«, sagte Björn mit erstickter Stimme. »Du sollst dem Leben entgegengehen an meiner Seite. Das ist alles, was ich mir wünsche. Ich habe Angst, zu fragen, ob du meine Frau werden willst, Christina.«

»Warum?«, fragte sie verwundert.

»Weil du dann den Namen Reuwen tragen wirst.«

Sie hob ihr Gesicht zu ihm empor und lächelte. »Es gibt nur dich, liebster Björn.«

Ihre Lippen fanden sich zu einem langen innigen Kuss, und voller Glück empfand Björn, dass er in seinen Armen eine Christina hielt, die ihm ganz nahe war, lebendig und voller Zuversicht, deren Herz jetzt für ihn schlug.

*

Björn blieb nur bis zum nächsten Nachmittag auf der Insel. Schließlich hatte er Christina nicht hierhergebracht, um Vorschuss auf die Flitterwochen zu nehmen. Sie sollte an Leib und Seele gesunden. Er wollte ihr außerdem Zeit lassen, Abstand von allem zu gewinnen.

Dr. Cornelius hatte ihn nicht darüber im Unklaren gelassen, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis ihr seelisches Gleichgewicht wieder völlig hergestellt sein würde.

Auch ihr physischer Zustand bedurfte noch einiger Auffrischung, hatte sie doch im wahrsten Sinne des Wortes Monate nur dahinvegetiert. Es wäre auch nicht gut für Christina gewesen, wenn sie sich nun gleich wieder nur auf einige wenige Menschen hätte konzentrieren müssen.

Es gab so vielerlei Leid auf dieser Welt. Nach und nach lernte Christina es begreifen, lernte sie Menschen kennen, die mühsam wie sie selbst den Weg in ein neues Leben suchten, Menschen, die ihn ohne Hilfe finden mussten. Wie reich war sie dagegen, Björns Liebe gewiss! Mit jedem Tag wuchs die Dankbarkeit dafür mehr und mehr in ihr, wenn er auch keinen Dank wollte.

Einen Menschen lieben zu dürfen, bedeutete so viel mehr, als man sich in Jungmädchenträumen vorstellte. Liebe begreifen lernte man erst, wenn man durch eine Hölle gegangen war. So empfand es jetzt Christina.

Mit Lining konnte sie über vieles sprechen, nur darüber nicht, was ihre Gefühle für Björn anging. Das gehörte ihr ganz allein.

Wenn sie in ihrem Bett lag und um sie herum alles still geworden war und auch in ihr, dann sah sie ihn vor sich, dann hörte sie seine Stimme und dachte auch an jene Monate zurück, in denen sie schon mit ihm unter einem Dach lebte und in denen sie doch immer vor ihm zurückgewichen war, sooft er auch die Hand nach ihr ausstreckte.

Warum? Sie wusste keine Antwort darauf, und darauf würde sie auch nie eine finden.

Sie hatte ihn um Verzeihung gebeten für alles, was sie Verletzendes zu ihm gesagt hatte. Er könne sich daran gar nicht mehr erinnern, hatte er mit einem Lächeln erwidert. Er hatte sie ins Leben zurückgeholt, und sie würde es ihm nie vergessen.

Björn hatte sie auf die Insel der Hoffnung gebracht, die sie kennenlernen wollte, weil Fee Norden gesagt hatte, Bob sei gern hiergewesen.

Christina hatte Fee, als sie am Wochenende zu Besuch kam, gefragt, warum sie das damals gesagt hätte. Fee hatte erwidert. »Weil Björn fürchtete, dass Sie widersprechen würden, wenn er es vorschlüge.«

Björn hatte auch gefürchtet, dass sie an der Wahrheit zerbrechen würde, dass Bob nicht tot war, sondern sie betrogen hatte. O ja, Christina wusste jetzt alles. So, wie Björn um sie besorgt gewesen war, das konnte nur wahrer, tiefer Liebe entspringen. Verdiente sie eine solche Liebe?

Die Tage gingen dahin, ihre Sehnsucht nach Björn wurde immer stärker. Er rief sie oft an, aber er kam selten. Er hätte viel zu tun, sagte er, doch es kamen Stunden, in denen sie fürchtete, ihn zu verlieren, wenn sie diese Insel ganz gesund verlassen würde. Vielleicht liebte er nur die hilflose, schutzbedürftige Christina?

Lining lachte sie aus, wenn sie solche Gedanken äußerte. »Ein Mann wie er«, meinte sie, »will doch eine Frau an seiner Seite haben, die mit beiden Beinen im Leben steht.«

Dass nicht nur sie, sondern auch Katja schwankenden Stimmungen unterworfen war, konnte Christina nicht trösten, aber, sie brachte es nun schon fertig, Katja aufzumuntern, die tief betrübt war, weil David Delorme seinen angekündigten Besuch hatte verschieben müssen.

»Weil Lorna mal wieder krank ist«, sagte Katja bitter.

Christina war ganz erschrocken, denn die Kranken waren es doch, die immer Katjas Mitgefühl besaßen.

»Sie ist nicht richtig krank. Sie zwingt David damit immer nur zurück.« Katja ballte ihre schmalen Hände. »Und sie weiß, dass er ihr dankbar ist und kommt, wenn ihr etwas fehlt.«

»Du findest dich damit ab, dass es in Davids Leben noch eine andere Frau gibt?«, fragte Christina nachdenklich.

»Ich muss mich damit abfinden, dass viele Frauen ihn anschwärmen. Er ist eben ein Künstler. Lorna ist viel älter als er. Sie ist sehr reich und hat ihn gemanagt. Nun erwartet sie natürlich, dass er ihr ewig dafür dankbar ist. Manchmal ist sie sehr nett und vernünftig. Sie war auch schon ein paarmal hier und … Ach, ich bin einfach ungerecht, Christina. Ich habe wahrhaftig keinen Grund, so über sie zu sprechen. Sie hat sehr viel für David getan und liebt ihn wie einen Sohn. Es kann sein, dass sie wirklich krank ist, dann müsste ich mich jetzt sehr schämen. – Wenn man einen Menschen sehr liebhat, möchte man ihn eben für sich allein haben. Aber David werde ich ja nie für mich allein haben, und damit muss ich mich abfinden. Ich muss ihn immer mit seiner Kunst teilen.« Ein paar Tränen stahlen sich in ihre Augen. »Vielleicht ist es sowieso nur ein schöner Traum.«

Christina kannte David nicht, und so konnte sie nur hoffen, dass er nicht Bob ähnlich wäre und mit Katja nur spielte.

Doch drei Tage später kam er. Ein sehr ernsthaft aussehender junger Mann mit melancholischen Augen. Auch Christina stellte eine gewisse, wenn auch ferne Ähnlichkeit zwischen ihm und Björn fest.

Katja war vor Freude ganz blass geworden, dann aber schoss heiße Glut in ihre Wangen.

»David!«, rief sie mit bebender Stimme, und Christina entfernte sich schnell, als die beiden jungen Menschen in einer innigen Umarmung versanken.

»O David, du siehst müde aus«, flüsterte Katja mit erstickter Stimme.

»Das bin ich auch. Lorna ist schwer erkrankt. Ich habe sie nach Bern ins Hospital gebracht.«

»Warum nicht hierher? Wir hätten sie schon gesundgepflegt. Sie war doch immer gern hier, David«, antwortete Katja.

»Sie wird nicht mehr gesund werden, Katja«, erwiderte David ernst. »Diesmal geht es ihr sehr, sehr schlecht. Und vielleicht trägt sie diese Krankheit schon lange in sich. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich es nicht ernst genommen habe.«

»Aber es muss ihr doch zu helfen sein, David«, sagte Katja bebend.

»Nein, es ist Leukämie.«

»Oh, mein Gott«, flüsterte Katja. »Und du bist dennoch zu mir gekommen?«

Er nahm ihre Hände und drückte sie zärtlich an seine Lippen.

»Ich brauche dich, Katja. Ich brauche jetzt einen Menschen, für den ich nicht nur der berühmte Pianist bin. Lorna hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Wer weiß, wo ich sonst wäre. Sie hatte Ehrgeiz, sie hat mich vorangetrieben, aber sie war der einzige Mensch, auf den ich mich verlassen konnte, bis ich dich kennenlernte. Irgendwie bin ich in dieses Leben noch immer nicht hineingewachsen, werde ich mit dem Erfolg nicht fertig. Ich weiß nicht, was ich mit den Menschen reden soll, die mich bestürmen. Du weißt doch, wie schwer mir das fällt.«

»O David«, sagte Katja voller Zärtlichkeit. »Komm jetzt und ruh dich erst einmal aus. Ich werde mit dir nach Zürich zu Lorna fahren. Ich lasse dich nicht allein, und Paps und Mutti werden es verstehen.«

Wer hätte glauben wollen, dass Katja noch vor einem Jahr ein hilfloses Geschöpf war, dass sie nach dem lähmenden Schock die ersten Schritte allein wieder getan hatte, um David entgegenzugehen, als er damals das erste Mal der Insel Lebewohl sagen musste? Sie wuchs über sich hinaus. Jetzt war sie die Stärkere, die ihn in seiner Zerrissenheit stützte.

»Ich habe viel von David Delorme gehört«, sagte Christina zu Anne Cornelius, als David am nächsten Morgen mit Katja nach Zürich gefahren war. »Ich habe mir berühmte Künstler immer ganz anders vorgestellt. Er ist doch sehr berühmt.«

»Er ist ein großer Künstler, aber ein sehr bescheidener Mensch«, erwiderte Anne Cornelius. »Er stammt aus ganz armen Verhältnissen, und tatsächlich hat er Lorna Wilding alles zu verdanken. Allein hätte er es nie geschafft. Er hat einfach nicht die Ellenbogen dazu. Er geht in seiner Kunst auf. Ich fürchte nur, dass Katja zu jung ist, um ihm den nötigen Halt zu geben.«

»Sie liebt ihn«, sagte Christina sinnend. »Und er liebt sie, sonst wäre er nicht zu ihr gekommen.« Sie ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Vielleicht erwartet Björn, dass ich den Weg zu ihm finde«, sagte sie gedankenverloren. »Ich möchte zu ihm finden, Frau Cornelius. Ja, ich möchte es. Es ist mir so, als würde er mich rufen.«

Anne war es bei diesen Worten ganz seltsam zumute, aber sie rettete sich mit einem Lächeln über die Beklemmung hinweg, die sie gefangengenommen hatte.

»Dann hat der Ruf Sie gerade im richtigen Augenblick erreicht«, sagte sie. »Dr. Schoeller macht sich eben bereit, nach München zu fahren.«

»Er würde mich mitnehmen?«, fragte Christina elektrisiert.

»Aber selbstverständlich«, lächelte Anne Cornelius. »Nur – wird Lining einverstanden sein?«

»Ich komme ja morgen wieder zurück.«

»Lining ist mit Henriette zum Markt gefahren. Sie werden erst gegen drei Uhr zurück sein.«

»Dann sagen Sie es ihr bitte, dass ich zu Björn gefahren bin. Sie wird es verstehen. Oh, ich muss mir ganz schnell etwas anderes anziehen. Kann Dr. Schoeller so lange warten?«

»Auf ein paar Minuten wird es ihm nicht ankommen«, erwiderte Anne Cornelius nachsichtig. Und als Christina davongerannt war und Dr. Cornelius zu ihr trat, um sich zu erkundigen, was denn los sei, sagte sie: »Oh, diese Kinder, wie sie doch ungestüm ihrem Herzen folgen, Hannes.«

»Um auf manchen Irrweg zu geraten«, meinte er. »Doch das muss wohl sein, damit sie reif werden und stark genug, um sich im Leben zu behaupten. Dr. Reuwen wird ja hoffentlich nicht gerade auf dem Wege hierher sein.«

»Nein, er hat heute Morgen angerufen, dass er am Wochenende kommt.« – Dr. Cornelius drehte sich um. »He, Jürgen, rasen Sie nicht gleich los. Sie bekommen Gesellschaft«, rief er dem jungen Arzt zu, der in diesem Augenblick seinen Wagen aus der Garage fuhr. Und da kam auch schon Christina in einem bezaubernden roten Trachtenkostüm, das sie erst vor ein paar Tagen erstanden hatte, als sie mit Katja in die Stadt gefahren war.

»Danke, dass ich Urlaub bekommen habe!«, rief sie Dr. Cornelius zu.

»Ich bin ja gar nicht erst gefragt worden«, gab er humorvoll zurück. Aber als der Wagen dann ihren Blicken entschwand, nahm er die Hand seiner Frau und sagte: »Dem Leben wiedergegeben, Anne. Sie wird nicht mehr lange bei uns bleiben.«

»Aber sie wird genauso gern zurückkehren, wie alle anderen auch, aber unsere Katja werden wir wohl hergeben müssen.«

Dr. Cornelius legte zärtlich den Arm um seine Frau.

»Und auch sie wird zurückkommen, mein Liebes, immer wieder, um sich auszuruhen und neue Kraft zu schöpfen. Doch warten wir es ab. Wenn mich nicht alles täuscht, kommen da schon unsere neuen Patienten.«

Und wieder einmal betraten zwei Menschen die Insel, deren Mienen von Leid und Schmerz gezeichnet waren.

*

Mit einem Aktenstoß unter dem Arm stieg Björn aus seinem Wagen. Er war gut gelaunt, denn von Anne Cornelius hatte er heute erfahren, dass es Christina eigentlich so blendend ging, dass man sie nicht mehr als Patientin bezeichnen könne. Er freute sich auf das Wochenende, das er mit ihr verbringen wollte, und er hatte sich vorgenommen, nun auch Zukunftspläne mit ihr zu schmieden.

So wich er erschrocken und bestürzt zurück, als Katinka die Tür öffnete und mit grimmiger Miene vor ihm stand.

»Besuch ist gekommen«, knurrte sie, und da girrte auch schon eine Stimme durch die Diele: »Björn, mein Lieber, du …« Doch die Frau erstarrte, als sein hasserfüllter, verächtlicher Blick sie traf. Björn Reuwen sah gefährlich und drohend in diesem Augenblick aus. Zugleich aber bewegte ihn blankes Entsetzen, denn vor ihm stand Jennifer, sehr schlank, attraktiv, von südlicher Sonne tief gebräunt und nach letztem Schick gekleidet.

Nach allem, was er inzwischen erfahren hatte, musste er an Halluzinationen glauben. Und das war durchaus verzeihlich.

»Du wagst es, hierherzukommen!«, sagte er bebend vor Erregung.

»Warum sollte ich das nicht? Du bist doch der einzige Mensch, der mir nahesteht, der mir immer nahestand«, erwiderte sie. »Ich verstehe nicht, warum du mich ansiehst, als wäre ich aussätzig.«

»Ich empfinde Abscheu und Ekel vor so viel Skrupellosigkeit«, sagte er, nun wieder gefasst und sehr kalt. »Du bist bei Bob in eine gute Schule gegangen, meine Hochachtung.«

»Ach, hör mit Bob auf. Was habe ich schon mit ihm zu schaffen«, sagte sie leichthin. »Deine Eifersucht kannst du dir sparen.«

»Eifersucht?« Er schnippte mit den Fingern. »Für mich bist du das letzte Stück Dreck auf dieser Welt.« Verächtlich bog er seine Mundwinkel herab.

Solche Worte aus Björn Reuwens Mund hatte noch niemand gehört, doch Jennifer hatte sich während der letzten Monate in einer so zweifelhaften Gesellschaft bewegt, dass ihr solche Worte durchaus geläufig waren. Sie lachte auf.

»In welchen Kreisen bewegst du dich neuerdings, Björn?«, fragte sie frivol. »Bist du auf den Geschmack gekommen, dass es noch andere Freuden gibt, als dauernd hinter verstaubten Akten zu hocken?« Ein hässliches Lachen folgte diesen Worten.

»Du verlässt auf der Stelle dieses Haus«, sagte er wütend.

»Ich denke nicht daran. Schließlich habe ich ein Recht darauf. Immerhin war ich ein paar Wochen mit deinem Bruder Bob verheiratet und bin seine Alleinerbin.«

»Was willst du erben? Seine Schulden?«, fragte Björn, der seine Beherrschung, die er jetzt unbedingt brauchte, endlich wiedergefunden hatte.

»Du wirst nicht so kleinlich sein, mein Lieber. Schließlich hat uns ja auch mal etwas verbunden. Wie ich feststellen konnte, bist du noch immer frei und ledig. Es war ein Fehler, dass ich auf Bob hereingefallen bin. Ich werde dir alles erklären.«

Auf diese Erklärung war er nun doch gespannt, wenn er auch nicht hätte erklären können, warum es ihn interessierte. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, dass es seit ein paar Minuten eine Lauscherin gab, mit der er nun schon gar nicht gerechnet hatte.

Zuerst war Christina fast das Herz stehengeblieben, als sie die weibliche Stimme hörte, nachdem sie die Haustür offen gefunden hatte und eingetreten war. Dann kam Katinka aus dem Garten herein und hatte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken können, als sie Christina gewahrte. Aber geistesgegenwärtig hatte Christina ihr die Hand auf den Mund gepresst.

»Er wirft sie bestimmt hinaus«, raunte Katinka dem Mädchen zu. »Dieses Biest!«

Aber als Christina hörte, dass die Fremde von Bob sprach, bedeutete sie Katinka, dass sie zuhören wolle. Sie ließ alle Hemmungen fallen, und Katinkas Moral reichte auch nicht so weit, sich stillschweigend zurückzuziehen. Es ging nun ja auch ziemlich stürmisch da drinnen zu.

»Na, dann erkläre mal«, sagte Björn mit klirrender Stimme.

»Gib mir wenigstens eine Zigarette.«

»Bediene dich. Da stehen sie«, hörten Christina und Katinka Björn sagen.

»Du hast überhaupt keine Manieren«, stichelte sie.

»Du auch nicht, Jennifer. Du hast es sogar fertiggebracht, nach Kopenhagen zu kommen, obgleich dort eine Hochzeit geplant war.«

Jennifer lachte schrill. »Dieses Affentheater. Am Ende musste ich Bob noch zureden, damit er es überhaupt durchhielt. Was geht das dich eigentlich an? Wenn diese blöde Gans ihm nicht so nachgelaufen wäre, wäre es nicht so weit gekommen. Glaubst du, mir ist das recht gewesen? Du hättest Bob das Geld doch auch so gegeben.«

»Meinst du? Ich dachte nicht daran.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Weil ich Bob vorgezogen hatte? Du hast dich auf die Geldsäcke gehockt, aber Bob stand das Gleiche zu.«

»Genau. Nur hat er nicht lange gebraucht, um seinen Anteil durchzubringen. Wahrscheinlich bist du falsch von ihm informiert worden. Er hat es jedenfalls vorgezogen, sich eine reiche Erbin zu suchen, Jennifer.«

»Haha, da muss ich lachen. Sie lief ihm in den Weg und machte ihm schöne Augen. Aber diese naive kleine Idiotin hätte mich schon mit in Kauf nehmen müssen, und wir hätten sie bald abserviert. Und jetzt wäre sie Witwe wie ich. Bob ist grauenvoll gestorben. Ein bisschen Mitgefühl könntest du wenigstens zeigen.«

»Du siehst nicht bemitleidenswert aus, wie ich feststellen kann«, sagte Björn kalt. »Und von mir gibt es nichts zu holen. Wenn du jetzt noch einmal eine so niederträchtige Bemerkung über Christina machst, werfe ich dich aus dem Haus, dass du deine Knochen einzeln auflesen kannst.«

Da sprang die Tür auf. »Das wirst du nicht tun, Björn«, sagte Christina. »Du wirst dir deine Hände nicht beschmutzen. Sie wird dieses Haus auch so verlassen, auf das ich Anspruch erhebe, da mein Vater niemals Geld ohne Sicherheiten verleiht.«

»Verleiht – ohne Sicherheiten?«, stammelte Jennifer. »Wie soll ich das verstehen?«

»Wenden Sie sich an meinen Vermögensverwalter«, erklärte Christina kühl. »Er wird Sie genauestens informieren. Und nun entfernen Sie sich bitte.«

Jennifer taumelte hinaus. An Katinka vorbei, die von irgendwoher eine Harke geholt hatte und drohend an der Tür stand. Björn hätte beinahe lachen müssen, wenn ihn jetzt nicht ganz andere Gedanken bewegt hätten.

»Wie kommst du so plötzlich hierher?«, fragte er verwirrt.

»Ich wollte dich besuchen, Liebster«, erwiderte Christina mit einem zauberhaften Lächeln. »Ich hatte die seltsame Eingebung, dass du Sehnsucht nach mir hättest. Täusche ich mich?«

»Nein, nein, nein!«, stöhnte er auf und riss sie in die Arme. »Aber wie konntest du nur so ruhig bleiben?«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr.

»Sollte ich mich auch so ordinär aufführen?«, fragte sie schelmisch. »Katinka war schon so mordlustig. Und du warst so wütend, wie ich dich noch nie gesehen oder gehört habe. Einer musste doch die Nerven behalten.«

»Aber deine Reaktionen. Du hast den gewieftesten Anwalt in den Schatten gestellt.«

»Danke für das Kompliment, Liebster. Ich habe viel von dir gelernt, und eines habe ich dir halt doch voraus.«

»Was?«

»Eine Kur auf der Insel der Hoffnung. Du brauchst anscheinend auch eine. Wie wäre es, wenn wir unsere Flitterwochen dort verbringen würden?«

»Christina, mein Liebstes!« Er riss sie an sich und küsste sie stürmisch. Ihr blieb fast die Luft weg, aber sie erwiderte seine Küsse ebenso leidenschaftlich und voller Sehnsucht.

»Du, und was ist das mit den Sicherheiten?«, fragte er später.

»Hat es dich erschreckt?«, fragte Christina.

»Nicht im Geringsten. Du kannst alles haben als Sicherheit. Das Haus, das andere auch und alles, was ich besitze. Du sollst um Gottes willen nicht denken …« Sie hielt ihm den Mund zu. »Das war doch nur eine Eingebung. So eine naive kleine Idiotin hat halt auch manchmal so komische Ideen, die ihre Wirkung tun.«

»Du, wenn du das noch einmal sagst, du kluges Mädchen …«

»Ach, ich bin gern ein bisschen naiv«, fiel sie ihm ins Wort. »Was ich noch lernen muss, möchte ich gern von dir lernen, Björn. Ich liebe dich, das musste ich dir doch nun endlich einmal sagen. Ich hatte so wahnsinnige Sehnsucht nach dir, dass ich einfach kommen musste. Und wohl darum musste ich kommen, damit ich nun auch noch meinen Triumph hatte. Ist das schlimm?«

»Ich habe ihn dir gegönnt, mein Liebling. Du bist die strahlende Siegerin.«

»Und wenn ich es so recht bedenke, wäre es für Bob doch eigentlich eine größere Strafe gewesen, sie am Halse zu haben«, sagte Christina. »Klingt das sehr zynisch?«

Björn atmete tief auf. Christina hatte den Abgrund überwunden, über den sie hinweg musste. Und in dieser Situation gehört schon eine gewisse Härte dazu, auf keinen Fall aber Sentimentalität. Es wäre Selbstbetrug, zu sagen, dass der Tod alles auslöschen konnte. Er war endgültig, und es hieß ja auch: »Vergebt uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Christina aber traf ja nicht die geringste Schuld an all diesem Geschehen. Sie war nichts als ein reines, gläubiges, vielleicht verblendetes Kind gewesen und hatte am meisten leiden müssen.

Björn hatte vergessen, wie sehr er gelitten hatte um sie, als sie jetzt in seinen Armen lag und er in ihre leuchtenden Augen blickte, in denen er nichts als Liebe las, tiefe, reine Liebe. Er hob sie empor und trug sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Und es machte ihn unendlich glücklich, als sie sagte: »Jetzt erst sehe ich, wie schön es ist, Björn.«

*

Dr. Norden hatte wieder eine ganze Anzahl Hausbesuche hinter sich bringen müssen. Er hatte sich überzeugt, dass es Helmut Kring nun wieder besserging, aber arg mitgenommen hatte die Mandelentzündung den Jungen schon. An Fußballspielen war da für die nächste Zeit nicht zu denken, was Helmut aber mit unerwarteter Gelassenheit aufnahm, nachdem Dr. Norden seiner Mutter vorher erklärt hatte, dass eine Mandeloperation nicht nötig sei. Eine Nachbarin hatte ihr das eingeflüstert, und das hatte Helmut aber gar nicht gepasst.

»Man soll da nicht so voreilig sein«, sagte Dr. Norden. »Auch die Mandeln haben ihre Funktion im Organismus zu erfüllen. Und wenn sie nicht ausgesprochene Streuherde sind, sollte man sie nicht entfernen.«

Helmut stellte wieder einmal fest, dass Dr. Norden doch der ›Größte‹ sei und ganz dufte, und das war auch die Meinung von den meisten seiner Patienten – nur in anderen Worten ausgedrückt. Und auch die Ansicht von Frau Billing.

Frau Billing trank fleißig ihren Tee, und ihrem Neffen, der Medizin studierte, war der Spott darüber längst vergangen, denn sie fühlte sich nicht nur schon viel wohler, sondern sah auch um Jahre verjüngt aus. Ganz schamhaft fragte sie an, ob das wohl auch ein Verjüngungsmittel sei.

Daniel musste herzhaft lachen. »Wenn man sich wohl fühlt und die Haut gut durchblutet ist, und wenn man dann auch noch gut gelaunt ist, fühlt man sich jünger und sieht auch so aus. Viel Lachen ist eine gute Gesichtsgymnastik.«

Er hatte immer etwas zur Aufmunterung parat, aber manchmal nützten alle guten Ratschläge nichts, und als er heimkam, wurde er von Fee gleich mit einer Trauerbotschaft empfangen.

»Lorna Wilding ist gestorben«, erwiderte sie, als er sie bestürzt fragte, was sie denn für Kummer hätte.

»Paps hat es vorausgesehen«, sagte Daniel.

»Aber sie war doch immer nur zu ihrem Vergnügen auf der Insel. Sie hat sich nie untersuchen lassen.«

»Sie wollte es wohl auch nicht wahrhaben, Kleines. Aber Paps äußerte mir gegenüber die Vermutung, dass sie Leukämie hätte.«

Fee nickte.

»Das ist die Todesursache. Es ist sehr schnell gegangen.«

»Für die Außenstehenden mag es so aussehen, Fee, und ihr konnte man nur wünschen, dass es verhältnismäßig schnell geht. Gegen solche Krankheiten sind wir eben leider oft machtlos. Ich wünschte, wir würden wenigstens ein Vorbeugungsmittel finden, aber diese tückische Krankheit ist eines Tages plötzlich da. Von wem hast du die Nachricht bekommen?«, lenkte er ab.

»David ist zur Insel gekommen, und Katja ist mit ihm zusammen nach Bern ins Hospital gefahren. Vor einer halben Stunde hat Paps mich angerufen, dass Lorna am frühen Nachmittag gestorben ist.«

»Und nun wird Katja wohl die Mutterrolle bei David übernehmen«, sagte Daniel. »Ein bisschen jung ist sie dafür.«

»Aber sie liebt ihn. Erinnerst du dich noch an damals, als Isabel David zur Insel brachte? Es war nach diesem Auftritt mit Lorna, weil er sich nicht mehr von Empfang zu Empfang und von Party zu Party schleppen lassen wollte. Jetzt erscheint das auch alles in einem etwas anderen Licht. Lorna wollte ihn ganz oben sehen, weil sie insgeheim vielleicht schon ahnte, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde, seinen Weg zu ebnen. Sie hat viel für David getan.«

»Zweifelsohne, aber im Grunde seines Herzens wird er wohl immer der bescheidene, einfache Mensch bleiben, nie das Lampenfieber verlieren und immer nach einer Hand suchen, die ihn hält. Katja wird sich hoffentlich darüber im Klaren sein, dass sie an seiner Seite durch Höhen und Tiefen wird gehen müssen. Und was Anne für Gefühle bei dieser Vorstellung bewegen, kann ich mir denken.«

»Noch ist es nicht so weit. David ist sensibel, aber er ist kein Schwächling. Das hat er damals bewiesen. Und hätten wir geglaubt, dass er Katja die Treue halten würde? Hätten wir gedacht, dass es für sie mehr als Schwärmerei sein könnte? Ich glaube, dass Katja ziemlich genau weiß, was sie erwartet. Doch wir wollen jetzt nicht von der Zukunft sprechen. Ich habe noch eine Neuigkeit.«

»Hoffentlich eine angenehme«, sagte Daniel.

»Es scheint so. Jürgen ist heute nach München gekommen.«

»Das war doch geplant.«

»Aber Christina ist mit ihm gekommen. Sie wollte zu Björn.«

»Schau mal an. Das kleine Mädchen zeigt Initiative. Das ist wirklich erfreulich.«

»Aber es ist doch verrückt. Kaum ist ein Problem aus der Welt geschafft, kommt schon das nächste.«

»Wir sollten es uns halt abgewöhnen, die Probleme anderer zu unseren eigenen zu machen, Liebes, aber das bringst du nie fertig.«

»Du etwa?«

Er nahm sie in die Arme. »Als Arzt rate ich allen werdenden Müttern, sich zu schonen, Aufregungen aus dem Wege zu gehen und sich regelmäßig den Kontrolluntersuchungen zu unterziehen. Als Ehemann und werdender Vater bin ich diesbezüglich sehr unachtsam, wie ich feststellen muss.«

»Das bist du nicht. Außerdem ist bei mir alles in Ordnung.«

»Aber in der Praxis hörst du jetzt auf«, sagte Daniel energisch.

»Meinst du, dass es gut für mich ist, hier oben herumzusitzen und Däumchen zu drehen? Ich weiß schon, was ich mir zutrauen kann, Daniel.« Sie sah ihn lange an und lachte dann leise auf.

»Was lachst du?«, fragte er irritiert.

»Ich kann mir Daniel Norden noch immer nicht als Vater vorstellen.«

»Offen gestanden, ich auch nicht«, gab er zu. »Erwarte von mir nur nicht das Getue und Gehabe.«

Na, warten wir es ab, dachte Fee amüsiert. Das haben schon viele gesagt. Sie sah der Geburt ihres Kindes nicht mit der Ungeduld entgegen wie so viele Frauen. Sie genoss die Zeit der Vorfreude, jedes Stadium des werdenden Lebens, jede Regung, die sie spürte. Sie genoss auch diese Zeit mit Daniel, die seltenen Stunden ganz ungestörten Beisammenseins. Nur ganz selten gingen sie jetzt noch in die Oper oder in ein Konzert. Es musste schon etwas ganz Besonderes geboten werden.

Jetzt lauschten sie Davids Klavierspiel. Daniel hatte eine Platte aufgelegt, Beethovens Pathétique. Er spielte sie wundervoll, und jetzt schien es ihnen ein Schwanengesang für Lorna zu sein.

»Ich ahne, dass uns auch für die kommenden Wochen einiges bevorsteht«, sagte Daniel, seinen Arm zärtlich um Fee legend. »Hoffen wir auf viel Freude, mein Liebstes.«

*

Sie sollte ihnen beschieden sein. Für zwei Wochen kehrte Christina noch auf die Insel der Hoffnung zurück. Lining wäre am liebsten für immer dort geblieben, aber es war tröstlich für sie, zu wissen, dass sie ihren Lebensabend nicht einsam verbringen musste. Mit Katinka freundete sie sich nach einigen kleinen Reibereien an. Sie waren anfangs doch recht eifersüchtig aufeinander.

Für Christina kamen noch einige schwere Tage, als sie mit Björn nach Kopenhagen fuhr. Zu seiner Überraschung hingen in der Villa Hammerdonk wieder alle Bilder an den Wänden, und er konnte nur ahnen, wer sie einmal entfernt hatte. Nachzuweisen war Dr. Vaerland gar nichts, aber was sollte es auch? Björn wollte nichts mehr aufrühren und heraufbeschwören. Christina hatte eine andere Heimat gefunden, einen Mann, der sie einhüllte in Liebe und Glück.

Sie ging an seiner Seite dem Leben entgegen, das so viel Schönes bot. Sie feierten eine stille Hochzeit im Kreise ihrer engsten Freunde, und keine Zeitung berichtete darüber. Die Jugendfreundschaft der Agnete von Tandris und des Friedrich Norden hatte Björn den Weg zu ihrem Glück gewiesen, der über die Insel der Hoffnung geführt hatte, auf der sie oft zu Gast waren.

Dort wurde?Dr. Jürgen Schoellers und Isabels Hochzeit glanzvoll gefeiert, wie es sich gehörte, da sich ihre Herzen in diesem Paradies gefunden hatten.

David Delorme spielte ihnen den Hochzeitsmarsch, dann auch noch eine Sonate, die er selbst komponiert hatte. Er reifte zu einem Mann, der sich im Leben behaupten wollte.

Johannes und Anne Cornelius war es jetzt nicht mehr bange, wenn sie an die Zukunft dachten, in die Katja mit David gehen wollte. In schweren Wochen hatte sich ihre Liebe bewiesen.

Ihre Hochzeit sollte stattfinden, wenn David seine laufenden Verpflichtungen erfüllt hatte. Dann sollte eine Zeit der Ruhe und Besinnung folgen. Er wollte sich nicht hetzen und treiben lassen. Lorna hatte ihm den Weg bereitet, und er wollte es ihr über ihren Tod hinaus danken. Er wollte ihr Vermächtnis erfüllen, ihr Erbe in ihrem Sinne verwalten und jungen Talenten den Weg ebnen helfen, wie sie es für ihn getan hatte.

»Es ist schon eine seltsame Fügung«, sagte Fee gedankenvoll zu Daniel. »David war der erste Patient auf der Insel. Isabel brachte ihn her, und beide haben hier das große Glück ihres Lebens gefunden.«

»Wir etwa nicht?«, fragte er.

»Wir haben aber ziemlich lange gebraucht.«

»Ich habe dich immer geliebt, aber du warst stachelig wie ein Igel.«

»Ich habe dich auch immer geliebt, aber du hattest ja hunderttausend Freundinnen.«

»Millionen«, sagte er lachend, »du Schäfchen. Können wir ein Tänzchen wagen?«

»Warum denn nicht?«

»Was meint unser Baby dazu?«

»Es hopst sowieso«, erwiderte Fee übermütig.

– E N D E –

Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman

Подняться наверх