Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 12
Оглавление»Komm, nun streng dich mal ein bisschen an. Du willst doch wohl nicht schlappmachen.«
Danny Norden lachte, als sein Freund nur müde mit dem Squash-Schläger abwinkte und nach seinem Handtuch griff.
»Tut mir leid«, sagte Michael Böhm und wischte sich das schweißnasse Gesicht ab. »Ich bin total am Ende. Für mich war’s das.«
»Du warst früher aber besser in Form. Wirst du etwa alt?«
»Natürlich bin ich älter geworden – genau wie du. Und wenn ich nicht gerade einen anstrengenden Bereitschaftsdienst hinter mir hätte, würde ich dich immer noch um Längen schlagen.« Bevor Danny dem widersprechen konnte, sagte Michael schnell: »Komm, sei gnädig. Lass uns für heute Schluss machen.«
Danny sah ein, dass das Spiel für seinen Freund zu Ende war.
Im Gegensatz zu ihm hatte Danny eine geruhsame Nacht verbracht und blendend geschlafen. Niemand hatte ihn aus dem Bett geklingelt, weil er medizinische Hilfe brauchte.
Dr. Michael Böhm hatte es diesmal nicht so gut getroffen. Der letzte Bereitschaftsdienst hatte ihm einiges abverlangt und ihm nur wenige Ruhepausen gegönnt. Kurz hatte er sogar überlegt, seine Verabredung mit Danny Norden abzusagen. Doch sie sahen sich nur selten, und er hatte sich schon seit Tagen auf ihr gemeinsames Spiel gefreut. Außerdem war heute Samstag, ein freies Wochenende lag vor ihm, an dem er noch genügend Zeit zum Faulenzen haben würde. Es gab ja sonst nichts, was er machen konnte.
Michael war erst seit einigen Monaten als Neurologe an der Behnisch-Klinik. Zuvor hatte er an einem Krankenhaus in San Francisco gearbeitet. Ihn hatte es der Liebe wegen dorthin verschlagen. Vicky, seine amerikanische Frau, hatte Michael während ihres Studiums in München kennengelernt. Sie zog es danach zurück in ihre Heimat, und Michael war ihr gefolgt, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Doch nach ihrer gescheiterten Ehe hielt ihn dort nichts mehr. Hals über Kopf hatte er die gut bezahlte Stelle gekündigt, seine Taschen gepackt und das Land, das ihm kein Glück gebracht hatte, verlassen.
Für ihn war es selbstverständlich gewesen, nach München zurückzukehren. Hier lebten seine Eltern, Geschwister und Menschen, die ihm wichtig waren – so wie Danny Norden. Sein ehemaliger Studienfreund war für ihn dagewesen, als er einen Freund am dringendsten gebraucht hatte. Dannys Vater, Dr. Daniel Norden, war der Chefarzt der Behnisch-Klinik. Als der Michael die frei gewordene Stelle des Neurologen angeboten hatte, musste er nicht lange überlegen. Er hatte sofort zugegriffen und es nie bereut. Die Arbeit gefiel ihm. Er verstand sich mit den Kollegen, und Daniel Norden war der beste Chef, den er je gehabt hatte. Ja, insgesamt lief sein Leben wieder gut. Trotzdem hatte er oft das Gefühl, dass etwas sehr Wichtiges fehlte. Besonders wenn freie Tage anstanden, die er nicht, wie die meisten Kollegen, mit einer Frau und einer Handvoll Kinder verbrachte. Nein, er konnte froh sein, wenn sich ein alter Freund seiner erbarmte und mit ihm ins Sportcenter ging.
»Was ist los mit dir?«, fragte Danny auf dem Weg zu den Umkleideräumen. »Worüber grübelst du so angestrengt nach?«
»Über nichts. Ich bin nur müde, und in meiner Vorstellung liege ich bereits im Bett und schlafe. Schätze, mit mir ist heute nicht viel los.«
»Ich bin am Nachmittag bei meinen Eltern. Wenn du magst, kannst du ja mitkommen.«
Michael warf Danny einen schrägen Blick zu. Sein Freund kannte ihn besser als jeder andere. Danny ahnte, wie allein er sich manchmal fühlte. Doch Michael hatte nicht vor, das gutgemeinte Angebot anzunehmen. Im Kreis der glücklichen Familie Norden käme er sich wahrscheinlich noch einsamer und verlorener vor.
»Vielen Dank, Danny. Aber ich denke, ich werde das freie Wochenende nutzen, um endlich die restlichen Kisten und Kartons leerzuräumen.«
»Heißt das etwa, in deiner Wohnung sieht es immer noch so aus, als wärst du grad erst eingezogen?«
Michael zuckte betont lässig die Achseln. »Mich stört’s nicht. Das meiste davon brauche ich anscheinend gar nicht mehr. In den letzten Monaten habe ich jedenfalls nichts davon vermisst. Vielleicht sollte ich mich einfach von allem trennen und ordentlich ausmisten. Es tut gut, Ballast loszuwerden.«
»Ja, wenn du es als Ballast empfindest«, erwiderte Danny nachdenklich. Es gefiel ihm nicht, dass sein Freund so viel allein war. Und obwohl es Michael immer wieder abstritt, wusste Danny, dass er nicht glücklich war und mit seiner derzeitigen Situation haderte. Es würde wohl noch lange dauern, bis er mit seiner Vergangenheit Frieden fand. Falls es ihm je gelingen sollte.
Als sie gemeinsam zum Parkplatz gingen, versuchte Danny noch einmal, Michael zu der nachmittäglichen Kaffeerunde im Hause Norden einzuladen.
»Komm doch wenigstens für eine Stunde vorbei. Meine Eltern würden sich freuen, dich wiederzusehen …« Danny brach ab, als Michael lachte. Schmunzelnd lenkte er ein: »Stimmt, das war ein blödes Argument. Immerhin seht ihr euch täglich in der Klink. Keine Ahnung, wie ich das vergessen konnte.«
»Vielleicht sollten wir doch noch mal über unser fortgeschrittenes Alter sprechen, unter dem du offensichtlich mehr zu leiden hast als ich«, feixte Michael.
Danny schnaubte nur empört und blieb an Michaels Wagen stehen, um sich zu verabschieden. In diesem Moment parkte ein roter Golf neben ihnen ein. Michael musste lächeln, als er die Fahrerin erkannte.
»Hallo, Sarah«, begrüßte er die junge Frau, die aus ihrem Auto stieg. »Ich wusste gar nicht, dass du auch hierherkommst.«
So wie Michael arbeitete Dr. Sarah Buchner erst seit einigen Monaten in der Behnisch-Klink. Er verstand sich gut mit der hübschen Gynäkologin und freute sich deshalb, sie zu treffen.
Sarah begrüßte ihn und beantwortete dann seine Frage: »Ich bin erst das zweite Mal hier. Wir predigen unseren Patienten ja immer, wie wichtig ausreichende Bewegung sei. Da fand ich es nur fair, endlich selbst damit zu beginnen und nicht nur schlaue Sprüche zu klopfen. Ich habe mich deshalb für einen Kursus angemeldet.«
»Ein Kursus?« Michael schmunzelte. »Zumba oder Yoga?«
»Yoga. Für Zumba bin ich zu faul, besonders nach einem langen Dienst.«
Danny zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als die beiden auf einmal mitten im Gespräch waren und dabei ihre Umgebung völlig ignorierten. Interessiert hörte er ihnen eine Weile zu. Spann sich zwischen den beiden vielleicht eine kleine Romanze an? Gönnen würde er es seinem Freund von Herzen. Es wurde Zeit, dass er endlich über Vicky hinwegkam.
Plötzlich wurde sich Michael wieder Dannys Gegenwart bewusst. »Oh, entschuldige«, sagte er zerknirscht und sah von Michael zu Sarah. »Ich weiß nicht, kennt ihr euch eigentlich?«
Sarah schüttelte den Kopf, und Danny sagte: »Nein, sonst hätte ich dir die Unterhaltung bestimmt nicht allein überlassen.« Er schenkte Sarah ein strahlendes Lächeln und forderte seinen Freund auf: »Also, nun stell mir deine bezaubernde Kollegin endlich vor!«
Sarah rollte mit den Augen und hielt ihm ihre Hand hin. »Hi, ich bin Sarah Buchner und nicht interessiert.«
Michael lachte laut und sagte zu Danny: »Ist es nicht schlimm, eine Abfuhr zu bekommen, ohne es überhaupt probiert zu haben?«
»Keine Ahnung, ich wette, du kennst dich mit Abfuhren besser aus als ich.« An Sarah gewandt sagte er: »Tut mir leid, das kam wohl falsch rüber. Ich hatte nicht vor …« Verlegen grinsend brach er ab. »Also ich bin Danny, Danny Norden.«
»Norden? Sie sind der Sohn vom Chefarzt?«
»Ja, der älteste. Es gibt noch mehr von uns.«
»Vielleicht sollte ich dann in Zukunft besser aufpassen, wem ich auf die Füße trete.«
»Keine Sorge, das haben Sie nicht. Und selbst wenn, ich habe große Füße. Die halten allerhand aus.«
Sarah lachte und verabschiedete sich dann von den beiden Männern, um es noch rechtzeitig zu ihrem Kursus zu schaffen.
»Sie scheint sehr nett zu sein«, sagte Danny.
»Dass dir das aufgefallen ist, war nicht zu übersehen«, gluckste Michael.
»Klar, ich hab’ ja Augen im Kopf. Aber ansonsten geht es mir wie ihr: Ich bin nicht interessiert. Aber du solltest dir die Gelegenheit vielleicht nicht entgehen lassen.«
»Ich?«, fragte Michael erstaunt. »Wie kommst du denn darauf?«
»Warum nicht? Es gibt doch nichts, was dagegenspricht. Außerdem wird’s für dich langsam wieder Zeit, nach vorn zu schauen. Du willst doch nicht immer Single bleiben, nur weil’s beim ersten Mal nicht geklappt hat.«
»Ich weiß nicht …« Michael fuhr sich mit einer Hand durch die dichten blonden Haare. »Meine Ehe mit Vicky … Es fühlt sich einfach noch nicht so an, als wäre sie vorbei. Vielleicht wenn wir endlich geschieden wären …«
»Was dauert daran so lange? Ich dachte, ihr wolltet euch nach amerikanischem Recht scheiden lassen. Soviel ich weiß, ist da oft noch nicht mal ein Trennungsjahr nötig.«
»Ja, das stimmt. In Kalifornien brauchst du für einen Besuch in einem Beautysalon wahrscheinlich länger als für deine Scheidung. Keine Ahnung, warum sich das bei uns so hinzieht. Ich hatte meine Papiere bereits unterschrieben, als ich die Staaten verließ. Um den Rest wollte sich Vicky kümmern. Da die Scheidung einvernehmlich ist und keine Kinder oder größere Vermögenswerte vorhanden sind, sollte das Ganze längst überstanden sein.«
»Was sagt Vicky dazu?«
»Nichts. Seit etlichen Wochen herrscht Funkstille. Ich erreiche Sie einfach nicht. Auf meine Mails bekomme ich nur kurze Antworten. Sie sei zurzeit sehr im Stress, würde sich aber bald melden. Das war’s dann. Und wenn ich sie anrufe, springt gleich die Mailbox an. Ich habe schon ernsthaft überlegt rüberzufliegen, um mich persönlich darum zu kümmern.«
»Sieht so aus, als würde dir nichts anderes übrigbleiben.« Danny wurde nachdenklich. »Bist du davon überzeugt, dass Vicky die Scheidung will?«
»Natürlich. Darüber waren wir uns beide einig.« Er lachte sarkastisch auf. »Die Scheidung war endlich mal ein Punkt, bei dem Eintracht herrschte. Kam ja sonst eher selten vor.«
»Michael …«, begann Danny mitfühlend, doch er kam nicht dazu weiterzusprechen.
»Schon gut, lassen wir das Thema einfach. Ich muss jetzt schnellstens nach Hause. Es wird Zeit, dass ich mich aufs Ohr haue. Vorher werde ich noch mal bei Vicky mein Glück versuchen. Heute ist Samstag. Kann sein, dass sie das Wochenende frei hat und ich sie endlich mal erreiche.«
*
Wenn Dr. Daniel Norden, der Chefarzt der Behnisch-Klinik, es einrichten konnte, begann die neue Woche für ihn mit einem Rundgang durchs Haus. Er sah auf allen Stationen vorbei, warf einen Blick in den OP und die Notaufnahme. Selbst den Laboren und der Funktionsdiagnostik stattete er einen kurzen Besuch ab. Manchmal reichten ein paar Minuten für ein Gespräch oder etwas Smalltalk, und manchmal nahmen die Anliegen der Mitarbeiter mehr Zeit in Anspruch, als er eigentlich aufbringen konnte. Doch es war Daniel wichtig, mit den Menschen zu sprechen, die hier täglich ihr Bestes gaben, um das Leid der Patienten zu lindern.
Heute war es sehr ruhig im Haus, sodass er keine Mühe hatte, pünktlich zu seinem ersten Termin zu kommen. In seinem Vorzimmer wartete bereits Dr. Michael Böhm auf ihn.
»Sie können schon in mein Büro vorgehen, Herr Böhm. Nehmen Sie Ihren Kaffee mit rüber. Ich besorg mir auch schnell einen.«
Während Michael vorausging, wartete Daniel auf den Kaffee, den ihn Katja Baumann, seine Assistentin, einfüllte.
»Ich habe vorhin unserem Lieblingspatienten noch einen kurzen Besuch abgestattet«, sagte er lächelnd zu ihr.
Katja wusste, von wem er sprach. Dr. Erik Berger, der leitende Notfallmediziner der Klinik, lag seit ein paar Wochen als Patient auf der chirurgischen Station. Bei einer Gasexplosion in einem Münchner Nachtclub hatte er schwere Verletzungen davongetragen, von denen er sich erstaunlich schnell erholte. Bereits in der kommenden Woche sollte er in eine Rehaklinik verlegt werden.
»Wie geht es ihm? Hat er das Wochenende gut überstanden?«
»Ja, ich denke nicht, dass Sie sich seinetwegen sorgen müssen, Katja. Er war grantig wie eh und je.«
Katja atmete erleichtert auf. »Sehr schön. Dann ist ja alles in Ordnung bei ihm. Ich werde ihn in meiner Mittagspause mal besuchen und seinen Vorrat an Schokoladenkeksen auffüllen. Und eine kleine Kanne Kaffee bekommt er dann auch wieder von mir. Er meint, dass der Stationskaffee kaum zu ertragen sei.«
»Er übertreibt, und das wissen Sie. Verwöhnen Sie ihn lieber nicht zu sehr.«
»Er hat ja sonst niemanden«, rechtfertigte sich Katja.
»Und da haben Sie sich seiner angenommen. Das wundert mich nicht. Ich hätte von Ihnen gar nichts anderes erwartet. Mich wundert nur, dass Herr Berger das zulässt. Alle anderen hätte er schon längst hinausgeworfen.«
Katja winkte ab. »Ach, probiert hat er es bei mir auch ein paar Mal. Aber ich weiß ja, dass er es nicht so meint. Außerdem brauchen wir doch alle jemanden, der sich um uns kümmert. Warum sollte das bei ihm anders sein?«
»Ich glaube, Sie gehören zu den klügsten und feinsinnigsten Menschen, die ich kenne. Herr Berger kann wirklich froh sein, Sie als Freundin zu haben.«
Nun musste Katja doch lachen. »Freundin? Das lassen Sie ihn bloß nicht hören. Er besteht darauf, mit niemandem befreundet zu sein.«
»Ja, weil er keine Ahnung hat, dass das nicht stimmt. Er wäre sehr überrascht, wenn er wüsste, wie viele ihm freundschaftliche Gefühle entgegenbringen«, erwiderte Daniel schmunzelnd und ging dann endlich zu dem Besucher, der in seinem Büro auf ihn wartete.
»Also dann, Herr Böhm. Schön, dass Sie diesen Termin einrichten konnten. Normalerweise setze ich die planmäßigen Mitarbeitergespräche nicht so kurzfristig an, aber es gibt in diesem Fall einen wichtigen Grund dafür.«
Überrascht sah Michael auf. Bis zu diesem Augenblick war er der Meinung gewesen, dass der Termin beim Chef eine reine Formsache wäre, die jeden Kollegen erwartete, der kurz vor Ablauf der Probezeit stand. Doch die Worte Daniel Nordens ließen mehr erwarten.
»Aber zuerst möchte ich von Ihnen wissen, wie es Ihnen hier gefällt, ob es Probleme gibt, was wir verbessern können und so weiter.« Daniel nickte dem Arzt auffordernd zu.
Michael Böhm fiel es leicht, über seine Arbeit zu sprechen. Er fühlte sich in der Behnisch-Klinik sehr wohl, mochte das Arbeitsklima und verstand sich gut mit seinen Kollegen. Es gab nichts Nachteiliges, das er hätte berichten können. Und Daniel Norden ging es mit seinem Neurologen nicht anders. Nicht nur, dass der junge Mann mit einer überragenden Fachkompetenz aufwartete, seine Patienten schienen ihn wahrhaftig zu lieben. Sie lobten ihn in den höchsten Tönen und fühlten sich bei ihm bestens aufgehoben.
Dr. Michael Böhm wurde zudem von allen Mitarbeiten geschätzt und respektiert. Er wäre also genau der richtige Mann für die vakante Oberarztstelle in der Neurologie. Und das war auch der eigentliche Grund für dieses Gespräch.
»Dr. Niedermayer hat mich in der letzten Woche darüber informiert, dass ihm eine Professur an der Uni angeboten wurde«, sagte Daniel. »Er möchte diese Chance ergreifen und sich ab dem nächsten Semester ausschließlich der Lehre widmen. Er wird uns deshalb nach dem Sommer verlassen, und ich muss die Stelle des leitenden Oberarztes der Neurologie neu besetzen. Da Sie hier hervorragende Arbeit leisten, möchte ich Ihnen die Nachfolge von Herrn Niedermayer anbieten.«
Damit hatte Michael nicht gerechnet. Zwar kursierten bereits Gerüchte über Niedermayers Lehrambitionen, aber alle gingen davon aus, dass man die freiwerdende Oberarztstelle ausschreiben würde. Michael hatte sogar schon daran gedacht, sich dann dafür zu bewerben. Doch so wie es aussah, war das gar nicht mehr nötig.
»Vielen Dank, Dr. Norden«, sagte er strahlend. »Ich freue mich sehr, dass Sie an mich gedacht haben, und ich nehme das Angebot sehr gern an. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«
»Davon bin ich überzeugt. Ich kann mir keinen Besseren für diesen Job vorstellen.«
*
In bester Stimmung, fast euphorisch, ging Michael zurück auf seine Station. Der Chefarzt der Behnisch-Klinik hatte ihm die Position des leitenden Oberarztes der Neurologie angeboten. Das war mehr, als er sich erhofft hatte. Michael hatte bereits in San Francisco als Oberarzt gearbeitet. Sein Fortgang hatte für ihn einen erheblichen Karriereknick bedeutet. Doch den hatte er billigend in Kauf genommen. Er wollte einfach nur weg und in Deutschland neu beginnen. Allerdings hatte es sich dann als sehr schwierig erwiesen, einen vergleichbaren Posten wiederzubekommen. Schnell hatte er sich dann damit abgefunden, erst mal nur kleinere Brötchen zu backen und mit einer Facharztstelle vorliebzunehmen.
Für ihn war es wichtig gewesen, in München wieder Fuß zu fassen. Seine Karrierewünsche hatten dabei nur noch eine nebensächliche Rolle gespielt. Und nun kam alles ganz anders.
Michael konnte sein großes Glück kaum fassen. Nicht nur, dass er an einer der besten Kliniken im Land arbeitete, er wurde Leiter der neurologischen Abteilung. Es war genau das, was er sich immer gewünscht hatte.
Ja, für Michael lief es wirklich gut. Seine Arbeit füllte ihn aus, und mit der Trennung von Vicky kam er zurecht. Es tat kaum noch weh, wenn er an sie dachte, und sobald die Scheidung rechtskräftig wäre, würde er dieses unschöne Kapitel für immer aus seinem Leben streichen.
Er schaute ins Stationszimmer und fragte Dennis, den diensthabenden Pfleger, nach Frau Boldt, einer Migränepatientin, die am frühen Morgen auf die Station gekommen war.
»Es geht ihr jetzt besser«, sagte Dennis. »Der Anfall war diesmal recht heftig. Es hat lange gedauert, bis die Spritze endlich half.«
Michael überlegte. »Wenn die Wirkung des Triptans nachlässt, geben Sie ihr bitte noch eine Dosis. Dann dürfte sie es überstanden haben.«
»In Ordnung.«
Nach der Visite ging Michael in den OP, um sich für die erste Operation umzuziehen und zu waschen. Für die nächsten Stunden war er dort unabkömmlich und benötigte sein gesamtes Fachwissen und äußerste Konzentration, um wie immer sein Bestes zu geben. Danach hätte er gut eine kleine Pause gebrauchen können, aber zuerst musste er wegen eines neurologischen Konsils in die Notaufnahme. Anschließend sah er im Aufwachraum nach seinen operierten Patienten. Hier traf er auch Dennis wieder, der sich gerade in den Feierabend verabschiedete.
Michael sah überrascht zur Uhr. Es war schon halb drei, und das bedeutete, dass er sein Mittagessen verpasst hatte. Und wie auf Knopfdruck meldete sich nun sein Magen mit einem ungeduldigen und laut vernehmlichem Knurren.
»War das etwa Ihrer, Dr. Böhm?«, fragte Dennis lachend. »Im Dienstzimmer steht eine volle Keksdose. Sie können sich gern bedienen.«
»Danke, aber vielleicht sollte ich es mal zur Abwechslung mit einer richtigen Mahlzeit versuchen und in die Cafeteria gehen.«
»Gute Idee. Lassen Sie es sich schmecken, wir sehen uns dann morgen wieder!«
Michael wünschte dem jungen Pfleger einen schönen Feierabend und dachte daran, dass seiner noch in weiter Ferne lag. Er hatte heute den Bereitschaftsdienst übernommen und würde bis morgen in der Klinik bleiben. Es störte ihn nicht. Zu Hause gab es niemanden, der auf ihn wartete.
Er hatte das Wachzimmer fast verlassen, um endlich in die Cafeteria zu gehen, als er zu einem Notfall gerufen wurde. Ein Motorradfahrer hatte schwere Schädelverletzungen erlitten und musste dringend operiert werden. Und während Michael im Laufschritt die kurze Strecke bis in den OP zurücklegte und dabei an seinen leeren Magen dachte, ärgerte er sich, dass er den Keksen widerstanden hatte.
Zur Abendbrotzeit schaffte es Michael dann endlich, sich um seinen Hunger zu kümmern. Die Cafeteria der Behnisch-Klinik hatte fast rund um die Uhr geöffnet und bot nicht nur eine Vielzahl vorzüglicher Gerichte und kleiner Snacks, sondern auch ein besonderes Ambiente. Umgeben von üppigen, exotischen Grünpflanzen wurden Erinnerungen an Palmenstrände unter südlicher Sonne wach, und die Besucher vergaßen schnell, dass sie sich in einer Klinik im Herzen Münchens befanden.
An einem der Tische entdeckte Michael ein bekanntes Gesicht. Sarah Buchner nickte ihm zu und wies auf einen freien Stuhl an ihrem Tisch. »Komm, setz dich. Dann muss ich nicht allein essen.«
»Gern. Es ist schön, dass es dich auch hierher verschlagen hat.«
»Im Spätdienst komme ich her, so oft es geht. Nirgends kann ich besser entspannen.«
»Das geht mir auch so. Obwohl es jetzt vor allem der Hunger war, der mich hergetrieben hat. Mein Frühstück ist schon sehr, sehr lange her.«
»Du Ärmster. Da hatte ich es heute besser. Ich glaube, ich bin heute schon zum dritten Mal hier.« Sarah grinste. »Am liebsten würde ich meine Sprechstunde hierher verlegen. Oder den Kreißsaal. Ich wette, dass die Entbindungen dann viel entspannter für Mutter und Kind verlaufen würden.«
»Ja, diesem Ort wohnt schon ein besonderer Zauber inne«, erwiderte Michael lächelnd. »Mich wundert’s nicht, dass er uns immer wieder magisch anzieht.«
Michael gab seine Bestellung auf und sagte dann zu Sarah: »In der Gynäkologie scheint es heute recht ruhig zu sein, wenn du dich hier so oft blicken lassen kann.«
»Ein Ausnahmezustand, der sich schnell ändern kann. Noch ist der Kreißsaal zwar leer, aber ich glaube nicht, dass das heute ein ruhiger Dienst für mich sein wird.«
»Weil wir Vollmond haben?«
»Nein, weil ich eben zwei schwangere Frauen am Empfang gesehen haben, die sich den Weg zum Kreißsaal erklären ließen«, gab Sarah lachend zurück. »Dass in Vollmondnächten mehr Babys geboren werden, ist nur ein Märchen. Es gibt genügend Studien, die sich damit befasst haben und dies eindeutig widerlegen.«
»Trotzdem hält sich dieser Mythos hartnäckig.«
»Und niemand kann erklären, warum das so ist. Aber egal, ob es nun am Vollmond liegt oder nicht, ich freue mich jedenfalls schon darauf, in einigen Stunden zwei neuen Erdenbürgern auf die Welt zu helfen.«
»Du liebst deine Arbeit, nicht wahr? Da klangen eben so viel Begeisterung und Leidenschaft mit.«
»Natürlich liebe ich sie. Obwohl es mal eine Phase gab, in der ich an meinem Beruf gezweifelt habe.«
Sarah war ernst geworden. Die unbekümmerte Leichtigkeit der Unterhaltung war verschwunden.
»Ich glaube, so eine Sinnkrise durchlaufen viele von uns irgendwann«, überlegte Michael. »Solange man da wieder herausfindet, ist es wohl nicht schlimm …«
»Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, um wieder herauszufinden«, unterbrach ihn Sarah leise. »Ich warf meinen gut bezahlten Job hin und konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder als Ärztin zu praktizieren.«
Michael wusste, wovon seine Kollegin sprach. Als Sarah Buchner kurz nach ihm an der Behnisch-Klinik anfing, hatten unschöne Gerüchte über sie die Runde gemacht. Es wurde wild darüber spekuliert, warum die beispielhafte Karriere der Frauenärztin zum Stillstand gekommen war. Schließlich hieß es sogar, dass Sarah schuld am Tod einer Patientin sei und deswegen ihrer alten Klinik den Rücken kehren musste. Das war der Moment gewesen, in dem Daniel Norden eingeschritten war. Er hatte seine Abteilungsleiter zusammengerufen und Sarah die Möglichkeit gegeben, über das, was damals wirklich geschehen war, zu sprechen. Schnell war allen klar geworden, wie unrecht sie ihr getan hatten. An dem tragischen Freitod der Patientin trug Sarah keine Schuld.
Sarah sah sich in der Cafeteria um und beobachtete die anderen Gäste, die hierhergekommen waren, um eine Kleinigkeit zu essen, sich zu unterhalten oder auszuruhen.
»Ich weiß nicht, ob es dir auch so geht, aber an diesem Ort gelingt es mir immer wieder, Kraft zu schöpfen und mich zu erden«, sagte sie zu Michael. »Damals, in meiner alten Klinik, war ich manchmal so ausgelaugt und erschöpft gewesen, dass ich dachte, ich könnte nie wieder fröhlich sein und lachen. Wenn ich dort so einen bezaubernden Rückzugsort wie diesen gehabt hätte, wäre es mir vielleicht anders ergangen.«
Während Sarah weitersprach, betrachtete Michael die junge Frau interessiert. Warum bemerkte er erst jetzt, wie hübsch sie war? Warum war ihm dieses zarte, aparte Gesicht vorher nie aufgefallen? Oder diese feingeschwungenen Lippen und die zierliche, kleine Nase, auf der ein paar Sommersprossen prangten? Warum hatte er nicht erkannt, wie faszinierend ihre blauen Augen waren, und dass sie eine wohltuende Wärme ausstrahlten, die Michaels Herz auf eine wundersame Art berührte? Er hatte nicht erwartet, dass eine andere Frau als Vicky das in ihm auslösen könnte. Michael dachte an das Gespräch mit Danny Norden nach dem Sport zurück. Vielleicht wurde es wirklich Zeit, wieder nach vorn zu schauen. Das Alleinsein bekam ihm nämlich nicht. Eine neue Liebe könnte genau das sein, wonach er sich in den letzten Monaten gesehnt hatte. Mit ihr würde er sich nicht mehr so einsam fühlen, und er könnte endlich Vicky aus seinem Kopf bekommen.
»Tut mir leid«, sagte Sarah, die Michaels Schweigen falsch deutete. »Ich erzähl die ganze Zeit und lass dich gar nicht zu Wort kommen.«
»Ich habe dir sehr gern zugehört. Von mir aus können wir das irgendwann fortsetzen. Hier oder woanders.« Die Worte waren raus, bevor Michael sich über ihren Sinn klar werden konnte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er damit den Rahmen einer beruflichen Beziehung gesprengt hatte. Sarah sah das nicht anders. Ihre Wangen überzog ein leichter Rotton, und sie wirkte irritiert.
»Äh … Ja, sehr gern. Aber ich glaube, ich muss jetzt los. Du weißt ja, hier im Haus gibt es zwei Babys, die auf die Welt kommen wollen. Es wäre ziemlich dumm, wenn ich den schönsten Teil meiner Arbeit verpassen würde.«
Als Sarah aufsprang, hielt Michael sie auf. »Entschuldige, wenn ich dich in eine unangenehme Situation gebracht habe. Das wollte ich nicht. Ich dachte nur, dass wir vielleicht …« Nun war es Michael, der verlegen und unsicher wirkte. Sofort lächelte Sarah.
»Verrätst du mir, was du sagen wolltest?«, fragte sie, als er weiterhin schwieg. »Ich bin furchtbar schlecht im Gedankenlesen.«
Michael lachte leise. »Ich leider auch«, sagte er. »Wenn nicht, wäre die Sache einfacher für mich. Dann wüsste ich, wie du auf meine nächste Frage reagieren würdest, und wäre auf die Antwort vorbereitet.«
»Ja, das würde uns das Leben wirklich sehr erleichtern. Aber da das leider noch nicht funktioniert, wirst du es wohl doch auf die herkömmliche Art machen müssen: Frag mich einfach!«
Michael holte tief Luft. »Also gut – Sarah, ich finde es schade, dass wir uns immer nur zufällig über den Weg laufen. Ich würde gern etwas mehr Zeit mit dir verbringen, auch außerhalb der Klinik. Darf ich dich vielleicht mal zum Abendessen einladen?«
»Gern, Michael. Darüber würde ich mich sehr freuen.«
*
Sarahs Zusage hatte Michael mutig werden lassen. Schon am folgenden Tag sprach er sie an und verabredete sich mit ihr für den nächsten Samstag. Seitdem das feststand, spielten Michaels Gefühle verrückt. Einerseits fieberte er dem Tag entgegen und war aufgeregt wie ein Teenager, andererseits fühlte er sich seltsam schuldig, sobald er an Vicky dachte. Es gab keinen Grund dafür, das wusste er. Schließlich waren sie getrennt, und es war kein Betrug, wenn er sich mit anderen Frauen traf. Ihre Ehe war endgültig vorbei. Dass es noch kein Schriftstück gab, das das bestätigte, spielte keine Rolle. Weder für ihn noch für Vicky. Bestimmt hatte sie ihr Herz längst wieder verschenkt und dachte nicht mehr an ihren Noch-Ehemann. Michael ärgerte sich, dass ihn dieser Gedanke störte. Es sollte ihm doch eigentlich egal sein, mit wem Vicky jetzt ihre Zeit verbrachte. Es sollte keine Rolle mehr spielen. Aber trotzdem … In seiner Magengegend spürte er einen unangenehmen Druck, der sich verstärkte, wenn er sich vorstellte, wie Vicky in den Armen eines anderen lag. Wie konnte das nur sein? Er liebte sie doch nicht mehr! Sie war ihm völlig gleichgültig geworden! Wenn Vicky ihm die unterschriebenen Papiere zurückgeschickt hätte, wären sie bereits geschieden, und er würde nicht mehr an sie denken. Warum dauerte das nur so lange? Was war denn gerade so wichtig, dass Vicky nicht die Zeit fand, auf seine Mails und Anrufe zu reagieren? Und schon wieder musste Michael an den anderen Mann denken, der Vicky vergessen ließ, dass sie noch immer verheiratet war.
Der Ärger über Vicky, die so unzuverlässig und gleichgültig mit ihrer Scheidung umging, nahm zu, als er den Anrufbeantworter zu Hause abhörte. Sein Anwalt hatte ihm eine Nachricht hinterlassen, in der er Michael an die fehlenden Unterlagen erinnerte. Sofort wählte Michael Vickys Nummer. Erst als er dem einsamen Klingelton lauschte, überschlug er, wie spät es gerade in San Francisco war. Neun Uhr vormittags. Es war sehr unwahrscheinlich, dass Vicky um diese Zeit daheim war.
Michael legte auf und wählte ihre Handynummer, auch wenn er sich keine Hoffnung machte, dass er damit Erfolg haben würde. Um diese Zeit stand Vicky vermutlich im OP. Sie arbeitete als Augenärztin in einem ambulanten operativen Zentrum. Es war ihnen damals wie ein Sechser im Lotto vorgekommen, als Vicky die einzige freie Stelle dort ergattern konnte. Sie bedeutete nicht nur ein gutes Einkommen, sondern vor allem geregelte Arbeitszeiten von montags bis freitags, ohne Bereitschaftsdienste. Ideal, um Job und Kinder unter einen Hut zu bekommen. Kinder … Michael dachte an die schwere Zeit zurück, als sie vergeblich gehofft hatten, dass sich ihr Kinderwunsch erfüllen würde. Doch es hatte nie geklappt. Niemand hatte ihnen sagen können, warum das so war. Vicky hatte sich irgendwann eingeredet, dass es an ihr liegen müsste. Sie gab sich die Schuld dafür, dass ihnen eigene Kinder versagt blieben. Manchmal fragte sich Michael, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie ein Baby bekommen hätten. Vielleicht wäre ihre Ehe nicht dem ständigen Kampf zwischen Hoffnung und Verzweiflung zum Opfer gefallen.
Vickys Mailbox sprang an. Obwohl er nichts anderes erwartet hatte, stöhnte Michael frustriert auf. »Hi, ich bin’s. Vicky, melde dich endlich! Es ist wirklich dringend!« Dann legte er auf und ließ sich auf sein Sofa fallen. Schlecht gelaunt starrte er das Telefon an. Warum meldete sich Vicky nicht bei ihm? Er zermarterte sich das Hirn darüber und wurde immer gereizter. Alles störte ihn auf einmal: Dass Vicky auf einem anderen Kontinent lebte und er nicht mal schnell bei ihr vorbeisehen konnte. Ihn störten die unterschiedlichen Zeitzonen, in denen sie lebten und die es ihm unmöglich machten, Vicky zu vernünftigen Zeiten anzurufen. Und plötzlich störten ihn sogar die vollen Kartons und Kisten, die überall in seiner Wohnung herumstanden und die Danny recht gaben. Hier sah es wirklich so aus, als wäre er erst vor wenigen Tagen eingezogen. Es gab keinen rationalen Grund dafür, dass er seine Sachen nicht auspackte. Worauf wartete er nur? Das hier war jetzt sein Zuhause, es gab kein Zurück mehr.
Sarah hatte Michael die Wahl des Restaurants überlassen und beglückwünschte sich dafür. Er hatte einen ausgezeichneten Geschmack bewiesen. Der kleine Italiener war gut besucht, trotzdem wirkte er nicht überfüllt und vermittelte seinen Gästen das Gefühl ungestörter Privatsphäre. Aus unsichtbaren Lautsprechern drang eine liebliche Melodie zu ihr hinüber, die sie in eine leichte, unbeschwerte Stimmung versetzte und die Unterhaltung nicht störte. Das Essen war vorzüglich, die Weinkarte erlesen und exquisit. Alles passte perfekt, es hätte nicht besser sein können. Michael war ein amüsanter Gesprächspartner. Er war aufmerksam, brachte sie zum Lachen und gab ihr das Gefühl, wunderschön und begehrenswert zu sein. Wie lange hatte sie das vermisst …
»Das Lokal ist einfach fantastisch«, schwärmte Sarah. »Bist du häufig hier?«
Michael schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, es ist mein erstes Mal. Um ehrlich zu sein: Danny Norden hat mich auf die Idee gebracht herzukommen. Ich hatte ihn um Hilfe gebeten. Er kennt sich in München einfach besser aus als ich.«
»Ich vergesse immer, dass du die letzten Jahre nicht in Deutschland gelebt hast. Der Neuanfang hier war sicher nicht so einfach für dich gewesen.«
»Ich kann mich nicht beklagen. Es gab genug Menschen, die mich mit offenen Armen empfangen haben und mir so den Einstieg leicht machten. Meine Eltern und Geschwister leben hier. Und es gibt auch noch einige Freunde, zu denen der Kontakt in all den Jahren nicht abgerissen ist. Es hätte mich wahrlich schlimmer treffen können.«
Sarah trank von ihrem leichten Rotwein. »Vermisst du manchmal Kalifornien?« Was Sarah eigentlich wissen wollte, war, ob Michael seine Ex-Frau vermisste. Sie wusste nicht viel von ihr. Nur, dass er ihretwegen nach dem Studium seine Heimat verlassen hatte und dass er zurückkommen war, weil die Ehe zerbrach.
»Ja, manchmal schon«, beantwortete Michael ehrlich ihre Frage. »Ich hatte mir dort ein Leben aufgebaut. Es war nicht einfach, alles hinter sich zu lassen. Aber ich konnte auch nicht bleiben. Ich war ziemlich durcheinander und wollte nur noch weg.«
Sarah runzelte nachdenklich die Stirn. »Durcheinander? Das hört sich für mich nach einer Kurzschlusshandlung an. Gerade so, als hättest du, ohne zu überlegen, deine Koffer gepackt und dich ins nächstbeste Flugzeug gesetzt.«
Michael setzte zu einer Erwiderung an. Er wollte ihr widersprechen, wollte sagen, dass das nicht so war und er seine Entscheidung nach reiflicher Überlegung gefällt hatte, doch dem war nicht so. Wenn er an die schlimmste Zeit seines Lebens zurückdachte, sah er sich verletzt, verwirrt und durcheinander, unfähig, eine klare, vernünftige Entscheidung zu treffen. Er war verblüfft, dass Sarah das früher erkannt hatte als er.
»Ich habe recht, nicht wahr?«, fragte sie behutsam.
Michael lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und atmete tief durch, ehe er antworten konnte. »Ja … Ja, ich glaube wirklich, das hast du. Keine Ahnung, warum ich das nie so gesehen habe.«
»Vielleicht wolltest du es nicht.«
»Ja, vielleicht. Aber es spielt nun keine Rolle mehr. Ich bin jetzt hier, nur das zählt. Mir geht es blendend, die Arbeit gefällt mir, ich habe Freunde und Familie in München. Es ist also alles bestens.« Nur ganz kurz dachte Michael an Vicky und an die vollen Umzugskartons in seiner Wohnung.
Er fing einen zweifelnden Blick Sarahs auf und beteuerte noch einmal: »Glaub mir, Sarah, bei mir läuft es hervorragend. Und wenn die Scheidung endlich durch ist, habe ich endgültig damit abgeschlossen.«
Sarah riss die Augen auf. »Du bist noch gar nicht geschieden?«, fragte sie, und in ihren Worten klang Entsetzen mit.
»Nein, noch nicht. Nur eine Formsache, ich warte darauf, dass Vicky die Papiere zurückschickt. Ist das ein Problem für dich?« Er hatte die Frage leichthin gestellt, doch er beobachtete sie so intensiv dabei, dass Sarah ahnte, wie viel von ihrer Antwort für ihn abhing. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass das keine Rolle für sie spielen würde. Dass es ihr egal war, ob er noch verheiratet war oder bereits geschieden. Dass sie darauf vertraute, dass sein Herz für sie frei wäre. Doch das konnte sie nicht.
»Ja, das ist es tatsächlich«, erwiderte sie ernst. »Nenn mich altmodisch, aber wenn ich gewusst hätte, dass du noch verheiratet bist, wäre ich nie mit dir ausgegangen.«
»Es ist nur ein Abendessen, Sarah«, spöttelte Michael, aber es hörte sich wie eine Rechtfertigung an. »Wir begehen keinen Ehebruch, wenn wir zusammen in einem Restaurant essen. Mit dem Scheitern meiner Ehe hast du nichts zu tun. Sie ist bereits seit langer Zeit zu Ende. Es fehlt nur noch eine kleine Unterschrift, um es amtlich zu machen.«
Sarah gefiel es nicht, welche Wendung ihr Gespräch genommen hatte. Die Unbeschwertheit eines schönen Abends war dahin. Sie wünschte sich, dass sie wieder über belanglose Themen plaudern würden. Themen, die so bedeutungslos waren, dass sie sie schon morgen vergessen hätte. Themen, die ihr kein ungutes Gefühl oder Bauchschmerzen bereiteten. Doch dafür war es nun zu spät. Nun wollte sie alles wissen.
»Warum ist deine Ehe gescheitert?«
Michael sah sie ungläubig an. »Wollen wir jetzt wirklich darüber reden?«
»Eigentlich nicht. Gescheiterte Beziehungen sollten bei einer ersten Verabredung kein Thema sein. Aber irgendwie sind wir nun mal bei deiner Ehe gelandet. Ich glaube nicht, dass wir es schaffen, einfach so weiter zu machen, als wäre das nie passiert. Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir es hinter uns bringen. Dann haben wir den Kopf frei für uns.«
»Wenn du meinst …« Michael schien sich nur langsam mit diesem Vorschlag anfreunden zu können. »Ich bin noch nicht davon überzeugt, dass das eine gute Idee ist, aber ich bin genau wie du für Ehrlichkeit. Also dann, was möchtest du wissen?«
Sarah musste nicht lange überlegen. Es gab eine Frage, von deren Antwort viel abhing. »Habt ihr Kinder?«
»Nein.«
Sogleich entspannte sich Sarah. Kinder hätten alles viel komplizierter gemacht. Sie würden nur daran erinnern, dass es eine Frau gab, der Michael ewige Liebe geschworen hatte.
»Wir wollten immer Kinder haben«, fuhr Michael fort. »Ich hatte von einer großen Familie mit mindestens drei Kindern geträumt und nie ein Hehl daraus gemacht. Im Nachhinein war das vielleicht ein Fehler gewesen. Als es nämlich mit dem Kinderkriegen nicht klappte, hat Vicky sehr darunter gelitten. Sie hat mir nicht geglaubt, wenn ich ihr sagte, dass das für mich keine Rolle spielen würde. Dieser unerfüllte Kinderwunsch stand plötzlich über allem. Ich glaube oft, dass er der eigentliche Grund für unser Eheaus war.«
»Das kommt tatsächlich nicht selten vor«, bestätigte ihm Sarah. »Ich bin vielen Paaren begegnet, die es nicht geschafft haben, damit fertigzuwerden. Es zählte nur noch dieser große Wunsch nach einem Baby. Die Liebe zwischen den Partnern blieb dabei leider irgendwann auf der Strecke.«
»Ja, so war es tatsächlich. Doch das hätte nie passieren dürfen. Ich dachte immer, dass es nur darauf ankommen würde, sich zu lieben. Sollte es nicht so sein, dass Liebe alle Hindernisse überwindet?«
»Zumindest in unseren romantischen Vorstellungen«, gab Sarah lächelnd zurück. »Aber die Wirklichkeit sieht oft anders aus. Wenn der Alltag erst eingekehrt ist, kann man nicht vierundzwanzig Stunden am Tag ununterbrochen daran denken, wie sehr man sich liebt. Manchmal vergisst man das einfach.«
»Klingt so, als hättest du damit auch eigene Erfahrungen gemacht.«
»Wer hat das nicht? Ich bin keine siebzehn mehr, Michael. Auch ich habe gelernt, wie fragil eine Beziehung sein kann und wie schnell sie unter schwierigen Bedingungen zerbricht. Und ein unerfüllter Kinderwunsch – so wie bei euch – kann eine sehr harte Belastungsprobe sein. Es sind schon Ehen an profaneren Dingen gescheitert.«
»Ja, mag sein. Aber es lag ja nicht nur daran. Da gab es noch mehr, was unsere Ehe belastete. Die Trennung von meinen alten Freunden und meiner Familie hatte mir arg zugesetzt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir so fehlen würden. Genauso wenig hätte ich erwartet, dass ich Vicky das jemals vorwerfen würde.«
Michael verzog das Gesicht, als er daran denken musste, wie oft er sie deswegen mit Vorwürfen überhäuft hatte.
Zu Unrecht, wie ihm auf einmal bewusst wurde.
»Ich weiß nicht, was mit mir los war. Es ging mir eigentlich blendend in San Francisco. Ich mochte die Stadt, das Klima, hatte eine tolle Oberarztstelle und auch neue Freunde gefunden. Trotzdem habe ich mich ständig bei ihr beschwert, wie viel ich aufgegeben hätte. Ich sah mich nur noch in der Opferrolle und wurde ungerecht und unerträglich. Am Ende störten mich sogar die wöchentlichen Treffen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter, und ich bin nicht mehr mitgegangen, obwohl ich mich eigentlich mit beiden blendend verstand.« Michael seufzte schwer und nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas. Es war das erste Mal, dass er so offen mit jemandem über seine Zeit in den Staaten sprach. Selbst Danny hatte er nie erzählt, was in seiner Ehe schiefgelaufen war. Vielleicht hätte er das mal tun sollen. Sich sein eigenes Versagen vor anderen einzustehen, konnte manchmal helfen, den festgefahrenen Blickwinkel zu ändern.
»Habe ich dich mit meiner Beichte verschreckt? Dass ich so ein Blödmann bin, hast du wohl nicht gedacht.«
»Geh nicht so hart mit dir ins Gericht, Michael. Wir machen doch alle unsere Fehler.«
»Ja, aber meine haben das Ende einer Ehe eingeläutet.«
»Es liegt selten nur an einem Partner.«
»Natürlich hatte auch Vicky ihren Teil dazu beigetragen. Sie hatte sich zurückgezogen, hat ihren Kummer um das Baby, das sie nie haben sollte, allein mit sich ausgemacht. Ich habe mich manchmal so verloren gefühlt, weil ich nichts für sie tun konnte, damit es ihr besser ging. In meiner Hilflosigkeit habe ich ihr gesagt, dass ich wohl besser in Deutschland geblieben wäre. Sie hat mir recht gegeben, und ich bin noch am selben Tag aus ihrem Leben verschwunden. Einfach so.«
»Und hast du es manchmal bereut?«
Michael musste erst nachdenken, bevor er antworten konnte. Die Verabredung mit Sarah lief nicht so, wie er es sich ausgemalt hatte. Dies hier hatte nichts mit einem romantischen Abendessen zu tun, bei dem man sich kennenlernte und ineinander verliebte. Doch nun hatte er schon so viel von sich preisgegeben, da konnte er auch den kläglichen Rest offenlegen.
»Anfangs habe ich es bereut, dass ich so schnell aufgegeben hatte. Ich hatte immer das Gefühl, nicht stark genug um unsere Liebe gekämpft zu haben. Stattdessen bin ich einfach abgehauen. Aber inzwischen denke ich, es war die richtige Entscheidung. Warum an etwas festhalten, das man längst verloren hat?«
Sarah nickte abwesend. Je mehr sie erfuhr, umso unsicherer wurde sie. War Michaels Herz wirklich frei?
»Was ist los, Sarah?«, fragte er mit einem verständnisvollen Lächeln. »Bist du immer noch der Meinung, dass meine zerbrochene Ehe das richtige Thema für eine erste Verabredung ist? Hast du jetzt deine Meinung von mir geändert?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein. Ich danke dir, dass du so ehrlich gewesen bist. Und keine Sorge, ich habe jetzt ganz gewiss keine schlechtere Meinung von dir.« Sie langte über den Tisch und drückte seine Hand. »Ich mag dich, sonst wäre ich nie mit dir ausgegangen.«
*
Am Sonntag traf sich Sarah mit Christina Rohde, die als Chirurgin an der Behnisch-Klink arbeitete. Beide Frauen waren im gleichen Alter und verstanden sich so gut, dass sie auch in ihrer Freizeit gern etwas zusammen unternahmen. Christina hatte einen Kuchen gebacken, den sie sich nun mit einem guten Kaffee schmecken ließen.
Wie Sarah war auch Christina ungebunden. Obwohl Sarahs Zeit als Single wohl bald vorbei sein würde, wie die gestrige Verabredung mit Michael Böhm vermuten ließ.
»Nun erzähl endlich, wie war der Abend?«, fragte Christina ihre Freundin. »Ist unser Neurologe auch privat so nett und charmant?«
»Noch charmanter und noch netter«, erwiderte Sarah lächelnd.
»Ach, du Glückskind! Ich freue mich für dich. Warum bloß gibt es keinen netten, kultivierten, belesenen, gutaussehenden und klugen Mann, der sich zur Abwechslung mal für mich interessiert?«
Sarah lachte über die nicht ganz ernstgemeinte Klage ihrer Freundin. »Vielleicht stellst du zu hohe Ansprüche?«
»Meine Ansprüche an meinen Traummann können nicht hoch genug sein. Ich bin mir sicher, dass er dort irgendwo ist. Ich muss ihn nur noch finden. Oder er mich.«
»Nun, wenn das nicht klappt, bleibt dir ja immer noch Erik Berger!«, gab Sarah glucksend von sich.
Vor Schreck schnappte Christina nach Luft. »Dann bleib ich lieber auf ewig Single! Mir reicht es schon, wenn ich ihn regelmäßig in der Chirurgie sehen muss.«
»Nicht mehr lange, wie ich gehört habe. Tritt er nicht bald seine Reha an?«
Christina nickte. »Ja, am Donnerstag. Bis dahin werde ich ihn wohl jeden Tag auf Station besuchen müssen, damit er mir alles übergeben kann. Laut Anweisung vom Chef soll ich Bergers Aufgaben bis zu seiner Rückkehr übernehmen. Ich bin nur froh, dass Berger dabei so kooperativ ist und mir alles gründlich erklärt. Morgen will er mir bei dem neuen Dienstplan helfen. Und am Dienstag kümmern wir uns dann um die Quartalsmeldungen.«
»Ja, er ist wirklich ein Schatz«, sagte Sarah mit einem zuckersüßen Lächeln. »Vielleicht wäre er ja doch der Richtige für dich.«
»Auf gar keinen Fall!«, erwiderte Christina so energisch, wie es ihr nur möglich war. »Selbst wenn er der letzte Mann auf Erden wäre, hätte ich kein Interesse an ihm! Und jetzt will ich kein Wort mehr über ihn verlieren! Wir reden nur noch über dich und Michael Böhm. Also, ich will nun endlich alle Einzelheiten von eurem Date wissen. Ich hoffe doch, ihr habt euch nicht nur über die Arbeit unterhalten.«
»Nein, nur über seine Ex-Frau«, entgegnete Sarah trocken.
»O je«, entfuhr es Christina. »Das geht ja gar nicht. Wie konnte er dir nur so etwas antun!«
»Es war nicht seine Schuld. Ich hatte darauf bestanden. Ich wollte wissen, worauf ich mich da einlasse, besonders als ich erfuhr, dass er noch nicht mal geschieden ist.«
»Ich dachte immer, dass er das wäre. Wahrscheinlich haben das alle angenommen.«
»Ja, ich auch. Ich wäre sonst nicht mit ihm ausgegangen. Ein verheirateter Mann käme für mich nie in Frage. Selbst dann nicht, wenn er von seiner Frau getrennt ist und beide auf verschiedenen Kontinenten leben. Am liebsten wäre ich gleich wieder gegangen. Doch stattdessen habe ich ihn gebeten, von seiner Ehe zu erzählen.«
»Und zu welchen wichtigen Erkenntnissen hat dich das gebracht? Ist es für dich nun weniger schlimm, dass er noch verheiratet ist?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass er sie noch liebt. Sicher bin ich mir nicht, aber so wie er von ihr gesprochen hat, nehme ich es an. Er hat dabei so unglücklich ausgesehen. Wahrscheinlich vermisst er sie.«
»Das tut mir leid für dich, Sarah. Ich weiß, du hast dir von diesem Abend viel versprochen. Aber meinst du nicht, dass es trotzdem mit euch funktionieren könnte? Immerhin bist du hier, bei ihm, und seine Frau ist es nicht.«
Sarah schüttelte den Kopf. »Bei Michael hätte ich immer das Gefühl, ihn teilen zu müssen oder ein Lückenbüßer zu sein. Ich glaube nicht, dass ich das möchte. Außerdem gab es eine wichtige Sache, die ich gestern Abend vermisst habe.«
»Und was war das?«
»Die Schmetterlinge im Bauch. Es war so, als würde ich mit einem guten Kumpel zusammen sein. Der Abend war schön, es hat mir Spaß gemacht, mich mit ihm zu unterhalten, aber mehr möchte ich gar nicht.«
»Und er? Weißt du, was er möchte?«
»Eine zweite Chance bei seiner Frau?«, witzelte Sarah. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, er hat nichts gesagt. Aber ich glaube nicht, dass er sich in mich verknallt hat. Es war nur ein nettes Beisammensein, da gab es keine unterschwelligen Botschaften und gefühlvolle Andeutungen. Absolut nichts.«
Am nächsten Tag traf sich Sarah mit Michael in der Cafeteria. Sie begrüßten sich wie alte Freunde, und in diesem Moment wusste Sarah es ganz genau: Sie würden nie etwas anderes sein.
»Hast du genug Zeit mitgebracht?«, wollte Michael wissen. »Oder drängelt der Kreißsaal wieder?«
»Nein, dort ist heute Herr Schwebke fürs Kinderholen zuständig. Ich übernehme nachher die Sprechstunde und kann nun in Ruhe mein Essen genießen.«
»Wunderbar! Übrigens wollte ich dir noch für den schönen Abend danken«, sagte Michael. »Ich habe es sehr genossen, ihn mit dir zu verbringen.«
»Ja, auch mir hat es sehr viel Spaß gemacht. Ich würde mich freuen, wenn wir das irgendwann mal wiederholen könnten. Nur …« Sarah zögerte. Würden ihn ihre Worte vielleicht verletzen?
»Nur?«, fragte Michael amüsiert. »Willst du deinen Satz nicht beenden? Obwohl ich mir schon denken kann, was du sagen willst.« Er zwinkerte ihr zu. »Du möchtest kein weiteres Date mit mir, sondern nur ein Treffen unter Freunden. Stimmt’s?«
Sarah nickte erleichtert. Michael machte es ihr wirklich leicht. Wahrscheinlich war er zur gleichen Einsicht wie sie gelangt. »Ja, und ich vermute, dass du das ähnlich siehst.«
»Ich weiß nicht. Ein Teil von mir hätte es wenigstens probiert. Es muss ja nicht immer gleich auf Anhieb klappen. Manchmal braucht’s vielleicht etwas länger, bis es funkt.«
Sarah sah ihn skeptisch an. »Willst du das wirklich? Hoffen, dass aus einer Freundschaft vielleicht irgendwann mehr wird?«
»Nein, du hast recht. Das wäre völliger Blödsinn. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Wahrscheinlich wollte ich mich der Illusion hingeben, dass es in meinem Leben noch etwas anderes als Arbeit und Freundschaft geben kann.«
»Arbeit und Freundschaft … Das klingt doch gar nicht so schlecht«, überlegte Sarah. »Es gibt Menschen, die weder das eine noch das andere besitzen. Wenn du mich fragst, wir haben sehr viel Glück, und es gibt gar keinen Grund zu jammern.«
Michael lachte leise. »Ich habe doch gewusst, dass du eine sehr kluge und weise Frau bist. Wahrscheinlich hat es mich deshalb zu dir hingezogen.«
»Mir ging es nicht anders. Du bist jemand, mit dem ich sehr gern befreundet wäre.«
Michael hob sein Wasserglas und sagte feierlich: »Auf unsere Freundschaft, Sarah!«
Lachend stieß Sarah mit ihm an. Sie war froh, diesen sympathischen Mann zu ihren Freunden zählen zu dürfen. Und als gute Freundin sah sie es deshalb als ihre Pflicht an, noch einmal auf Vicky sprechen zu kommen.
»Hast du jemals daran gedacht, dich mit deiner Frau auszusöhnen?«
Dieser abrupte Themenwechsel brachte Michael etwas aus dem Gleichgewicht. Um nicht gleich antworten zu müssen, trank er schnell von seinem Sprudel.
»Entschuldige, ich wollte dich damit nicht überfallen«, lenkte Sarah ein. »Es ist nur so, dass es mich das ganze Wochenende beschäftigt hat. Als du von ihr sprachst, konnte ich heraushören, dass du noch immer etwas für sie empfindest. Und da dachte ich mir, dass es noch Hoffnung für euch geben könnte.«
Bedrückt schüttelte Michael den Kopf. »Nein, die gibt es nicht mehr. Inzwischen ist einfach zu viel Zeit vergangen. Es wäre gut möglich, dass Vicky wieder in einer Beziehung ist. Für einen Neuanfang ist es nun zu spät. Und nun lass uns bitte über etwas anderes sprechen. Einverstanden?«
Sarah nickte zwar, aber es fiel ihr sichtlich schwer, es dabei zu belassen. Immer wieder fragte sie sich, ob es ihm überhaupt aufgefallen war, dass er ihre Behauptung, er empfinde noch etwas für Vicky, nicht abgestritten hatte. Doch sie spürte, dass dies nicht der richtige Moment war, um ihn darauf hinzuweisen. In der restlichen Zeit, die ihnen von ihrer Mittagspause blieb, sprachen sie nur noch über dienstliche Themen. Anschließend gingen sie gemeinsam durch die Lobby zum Fahrstuhl. Die junge Frau, die ihnen mit einem kleinen Jungen an der Hand entgegenkam, fiel Sarah sofort auf. Sie war wunderschön, schlank, mit glänzendem blondem Haar, das ihr offen über die Schultern fiel. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, ihre Haut makellos. Die Vollkommenheit wurde nur durch die große Müdigkeit und die Trauer in ihren Augen geschmälert.
Wahrscheinlich war Michael der einzige Mensch in der Lobby, dem sie nicht auffiel. Völlig unbeeindruckt von dem, was um ihn herum geschah, erzählte er Sarah, dass Dr. Norden seine Nachfolge von Franz Niedermayer offiziell gemacht hatte. In der Neurologie wurde nun offen darüber gesprochen. Doch auf einmal blieb Michael stehen und starrte entgeistert auf die beiden Menschen, die zielstrebig auf ihn zusteuerten.
»Vicky!«, stieß er schließlich hervor, als sie sich gegenüberstanden. »Was … wie …«
»Hallo, Micha«, erwiderte Vicky. Sie klang beinahe schüchtern, so, als hätte sie Angst, dass er sie abweisen würde. »Bitte entschuldige, dass ich dich hier überfalle. Aber ich muss unbedingt mit dir sprechen.«
»Ja … Ja, natürlich. Aber ich verstehe nicht …« Michael wirkte noch immer völlig durcheinander, aber auch seltsam beseelt, wie Sarah für sich feststellte. Nein, es gab keinen Zweifel, Michael Böhm war glücklich, seine Frau zu sehen. Für einen kurzen Moment glaubte Sarah fast, er würde sie in seine Arme ziehen, so froh schien er über ihr unverhofftes Kommen. Doch er hatte sich schnell wieder im Griff.
»Wieso bist du hier?«, fragte er beherrscht. »Ich versuche seit Wochen, dich zu erreichen.«
»Ja, ich weiß, aber ich konnte einfach nicht … Es ist etwas passiert. Etwas Furchtbares.« Vicky warf einen Blick auf das Kind an ihrer Seite. Erst jetzt fiel Michael auf, dass Vicky nicht allein war.
»Henry!«, rief er überrascht aus. Er ging in die Hocke und hielt seine Arme auf. Sofort riss sich der Kleine von Vicky los und schlang seine schmalen Ärmchen um den Hals des Mannes. Er gab keinen Ton von sich, sondern vergrub nur sein Gesicht an Michaels Brust. Fragend sah Michael zu Vicky auf.
»Später!«, flüsterte sie ihm tonlos zu und blinzelte dabei schnell die Tränen fort, die sich in ihren Augen gesammelt hatten.
Michael nickte. »Natürlich, Vicky«, sagte er weich. »Im Moment sieht’s bei mir allerdings schlecht aus. Ich versuche aber, etwas früher Schluss zu machen, damit wir reden können.«
»Danke, Micha. Ich werde mir inzwischen ein Hotelzimmer nehmen. Dann kann Henry ein bisschen schlafen, und du kommst dann einfach hin, wenn du Zeit hast.«
Michael schüttelte den Kopf und holte einen Schlüssel heraus. »Kommt nicht in Frage, dass du ins Hotel gehst. Fahrt in meine Wohnung. Ich habe ein Gästezimmer, das ihr benutzen könnt, solange ihr in München seid.«
»Vielen Dank, das ist lieb von dir. Wenn wir dir nicht zu viele Umstände machen, nehme ich dein Angebot gern an.«
»Meine Adresse kennst du. Nehmt euch am besten ein Taxi. Ich komme dann so schnell ich kann nach.«
Sanft löste sich Michael aus der Umarmung des kleinen Jungen. »Wir sehen uns später, Henry«, sagte er liebevoll. »Und dann musst du mir erzählen, wie dein Flug war. Das war doch bestimmt mächtig aufregend gewesen. Oder nicht?«
Henry antwortete nicht, sondern griff nach Vickys Hand. Diese Reaktion erstaunte Michael bald noch mehr als das unerwartete Auftauchen seiner Frau. Der kleine Henry war der lebhafteste und fröhlichste Junge, den er kannte. Sein Mund stand niemals still, sondern war eine schier unerschöpfliche Quelle, aus der pausenlos lustige Geschichten und unzählige Fragen heraussprudelten. Doch daran erinnerte heute nichts mehr. Henry hatte noch kein einziges Wort gesprochen. Was mochte dieses Kind so aus der Bahn geworfen haben? Vicky würde ihm später einiges erklären müssen. Nachdenklich sah er ihr nach, als sie mit Henry die Klinik verließ. Sarah, die die ganze Zeit an seiner Seite gestanden hatte, fiel ihm erst jetzt wieder ein.
»Sarah! Es tut mir leid, ich habe dich noch nicht mal vorgestellt. Ich war so geschockt gewesen. Das bin ich immer noch.« Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Eine Geste, die Sarah schon häufiger an ihm beobachtet hatte und die verriet, wie aufgewühlt er war. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass Vicky in München ist. Und Henry!«
»Wer ist Henry?«
»Unser … Vickys Neffe, der Sohn von ihrer Schwester Nancy. Ich frage mich die ganze Zeit, was er hier macht, ohne seine Mutter. Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Ja, den Eindruck hatte ich auch. Deine Frau sah aus, als hätte sie mit einem großen Kummer zu kämpfen. Du solltest so schnell wie möglich zu ihr fahren. Versuch, ein paar Überstunden abzubummeln. Du wirst dich eh nicht auf die Arbeit konzentrieren können, solange du nicht weißt, was los ist.«
Michael nickte. »Ja, das stimmt.«
Als sie auf den Fahrstuhl warteten, sagte Sarah: »Ich habe mich gewundert, dass Vicky so gut deutsch spricht. Fast akzentfrei.«
»Sie und Nancy sind zweisprachig aufgewachsen. Norah, ihre Mutter, ist Deutsche und kommt ursprünglich aus München. Das war auch der Grund, warum Vicky hier studiert hat. Sie wollte die Heimat ihrer Mutter kennenlernen. Norah hat zu ihren Töchtern schon immer ein sehr inniges Verhältnis gehabt. Nach dem Tod des Vaters sind sie noch enger zusammenrückt. Eine eingeschworene Gemeinschaft, in der ich mir manchmal wie ein Störenfried vorkam. Pure Einbildung, um ehrlich zu sein. Sie haben mir nie das Gefühl gegeben, nicht willkommen zu sein. Aber wahrscheinlich war mir in solchen Momenten einfach bewusst geworden, wie sehr ich meine eigenen Eltern und Geschwister vermisst habe.«
Der Fahrstuhl kam, und Michael verabschiedete sich von Sarah, die in ihre Sprechstunde musste. »Danke, dass du mir zugehört hast. Es tat gut, mit dir darüber reden zu können.«
Sarah lächelte. »Schon gut, Michael. Dafür hat man doch seine Freunde.«
*
Es gelang Michael, an diesem Tag früher Schluss zu machen und nach Hause zu fahren. Sarah hatte mit ihrer Vermutung, er könnte sich eh nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren, natürlich recht gehabt. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um Vicky. Noch konnte er es nicht fassen, dass sie bei ihm in München war. Und obwohl er zu wissen glaubte, dass es einen traurigen Grund für ihre Anwesenheit gab, war er in einer bizarren Hochstimmung. Er konnte es nicht verhindern, aber er war einfach nur glücklich, dass sie daheim auf ihn wartete.
Michael holte sich seinen Zweitschlüssel, der für Notfälle bei einer Nachbarin lag. Er wollte nicht klingeln und dadurch womöglich Henry aufwecken. Oder Vicky, wie Michael feststellte, als er das Wohnzimmer betrat.
Vicky lag auf dem Sofa, in eine warme Decke gehüllt, und schlief. Sie war so schön wie in seiner Erinnerung. Nur der kummervolle Zug um ihren Mund war neu.
Als hätte sie seine Anwesenheit gespürt, schlug sie plötzlich ihre Augen auf und blinzelte ihn verschlafen an.
»Oh, ich muss eingenickt sein«, murmelte sie entschuldigend und richtete sich hastig auf.
»Dann hattest du den Schlaf wohl nötig«, erwiderte er lächelnd. »Wo ist Henry?«
»Im Gästezimmer. Er schläft jetzt. Die letzten Wochen, nein, Monate, waren ziemlich anstrengend.«
Michael setzte sich ihr gegenüber auf einen Sessel. »Hast du dich deswegen nicht bei mir gemeldet? Was ist in den letzten Monaten geschehen, Vicky?«
Vicky begann unvermittelt zu weinen. Verzweifelt versuchte sie, die vielen Tränen, die ihr über das Gesicht liefen, fortzuwischen.
Schnell sprang Michael auf und setzte sich zu ihr. Er zog sie in seine Arme und hoffte, ihr so Trost spenden zu können. Sanft strich er ihr über den Rücken und sprach mit leisen Worten auf sie ein, während sie nun haltlos weinte. Es dauerte lange, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie in der Lage war zu sprechen. Michael ließ ihr die Zeit und bedrängte sie nicht. Er würde noch früh genug erfahren, was geschehen war. Die Hauptsache war jetzt, dass er für sie da war und sie eine Schulter zum Anlehnen und Weinen hatte.
»Nancy …«, begann Vicky irgendwann schluchzend. »Sie ist tot. Sie ist einfach zusammengebrochen und dann … Meine Mutter und Henry waren bei ihr. Sie haben alles miterlebt. Die Notärzte, die versucht hatten, Nancy zu reanimieren, dann die Gewissheit, dass … Es war schrecklich.«
Michael war erschüttert. Obwohl er mit etwas Ähnlichem gerechnet hatte, traf ihn diese Nachricht bis ins Mark. Er konnte nur erahnen, wie es da erst Vicky und ihrer Familie ergangen sein musste. »Es tut mir so leid, Vicky. Wie konnte das nur passieren? Nancy war doch nie ernsthaft krank.«
»Die Ärzte sprachen von einem plötzlichen Herztod. Bei der Obduktion wurde ein angeborener Herzfehler festgestellt. Niemand hatte davon gewusst.« Wieder schluchzte Vicky laut auf. »Ihr ging es doch immer gut. Es ist so unfair! Sie war noch so jung. Und Henry … wie soll er ohne seine Mutter …«
»Er hat euch, Vicky«, sagte Michael weich. »Deine Mutter und du, ihr seid für ihn da und werdet ihm beistehen.«
Betrübt schüttelte Vicky den Kopf. »Er hat nur noch mich. Meine Mutter kann niemandem mehr beistehen. Sie braucht selbst die meiste Hilfe. Zwei Tage nach Nancys Beerdigung hatte sie einen Schlaganfall. Vermutlich durch die Aufregung. Sie braucht jetzt ständige Pflege. Ich bin bei ihr und Henry eingezogen, und ich habe eine Pflegerin eingestellt, die sich um meine Mutter kümmert.«
»Ich wünschte, ich könnte euch irgendwie helfen.«
Vicky sah ihren Mann ernst an. »Das könntest du tatsächlich, Micha. Deswegen bin ich hergekommen. Ich brauche deine Hilfe. Ich weiß, ich verlange sehr viel von dir. Immerhin sind wir nicht mehr zusammen, und dann die Scheidung … Aber … Aber bitte hör mich erst an.«
Michael nickte stumm. Er wusste nicht, was Vicky von ihm wollte. Erwartete sie etwa, dass er zurückkehrte und sie bei der Pflege ihrer Mutter unterstützte? Das konnte er unmöglich tun. Sein Zuhause war jetzt hier, in München.
»Ich habe das Sorgerecht für Henry beantragt«, erklärte Vicky.
»Natürlich. Du bist seine nächste Verwandte, und er liebt dich abgöttisch. Wo sollte er auch sonst hin?«
Vicky lachte bitter auf. »In eine Pflegefamilie, wenn es nach dem Willen der Behörden geht.«
»Wie bitte?«, fragte Michael konsterniert nach.
»Sie halten eine alleinstehende Frau, die ganztags als Ärztin arbeitet und sich nebenbei um eine pflegebedürftige Mutter kümmern muss, für ungeeignet, einen schwer traumatisierten Jungen zu versorgen.«
»Das soll doch wohl ein schlechter Scherz sein!«, regte sich Michael auf. »Es gibt niemanden, der besser dafür geeignet wäre als du. Sie können Henry unmöglich den einzigen Menschen, der ihm geblieben ist, nehmen wollen.«
»Leider stehst du mit dieser Meinung fast allein da. Ich habe alles versucht, wirklich alles. Aber die Gutachten sagen etwas anderes. Dort heißt es, dass ich momentan nicht in der Lage sei, Henry die Hilfe zu geben, die er benötigt. Er brauche psychologischen Beistand. Und nicht nur er, ich auch. Zumindest behauptet das das Jugendamt. Schließlich habe ich in letzter Zeit ja allerhand mitgemacht: die Schwester gestorben, die Mutter schwer erkrankt, ein trauerndes Kind und ein Mann, der sich scheiden lassen will.« Vicky seufzte resigniert auf. »Sie meinten, ich hätte schon genug Probleme. Ich solle mich nicht auch noch mit einem kranken Kind belasten.«
»Krankes Kind? Wieso sollte Henry krank sein? Er ist ein kleiner Junge, der einen schweren Verlust erlitten hat und deswegen trauert. Das ist doch völlig normal. Ihn deswegen als krank zu bezeichnen ist grober Unfug!«
»Henry hat sich wirklich sehr verändert«, sagte Vicky bedrückt. »Ich bin keine Psychologin, aber es wäre schon möglich, dass das bei ihm weit über eine normale Trauer hinausgeht. Es gab einen Psychologen, der Henry im Auftrag des Jugendamtes untersucht hat. Er sprach von einem pathologischen Zustand.« Vicky fing wieder an zu weinen. »Henry spricht nicht mehr, er ist in sich gekehrt, hat Albträume und kann keine Minute allein bleiben. Sein Spielzeug interessiert ihn nicht, und er will nicht zu seinen Freunden gehen. Nancys Tod ist drei Monate her, und sein Zustand hat sich seitdem nicht gebessert. Und dabei gebe ich mir doch die größte Mühe, alles richtig zu machen.«
»Das weiß ich, Vicky. Vielleicht braucht Henry einfach nur etwas mehr Zeit, um mit allem klarzukommen. Nicht alle Kinder sind gleich. Bei dem einen geht es schneller, der andere braucht länger. Und ganz nüchtern betrachtet: für das, was Henry erlebt hat, sind drei Monate ein sehr kurzer Zeitraum. Da darf man keine Wunder erwarten!«
Vicky nickte hilflos. »Du weißt das, und ich weiß das auch. Und trotzdem soll ich ihn verlieren, Micha. Aber das kann ich nicht zulassen. Ich kann ihn unmöglich aufgeben. Ich hatte Nancy immer versprochen, dass ich für ihren Sohn da sein würde, falls ihr etwas passieren sollte. Er hat doch nur noch mich. Bitte, Micha, du musst mir helfen.«
»Natürlich, Vicky. Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Aber ich weiß nicht, was das sein soll. Was kann ich machen, damit Henry bei dir bleiben darf?«
»Ich …« Vicky stockte. Sie sah Michael besorgt an. »Ich fürchte, das wird dir jetzt nicht gefallen. Ich … Ich hatte solche Angst, dass sie mir Henry wegnehmen. Da habe ich einfach ein paar Sachen zusammengepackt und habe das Land verlassen. Noch am Flughafen, bevor wir in den Flieger gestiegen sind, habe ich dem Jugendamt eine Mail geschrieben und sie über unseren Weggang informiert. Ich habe behauptet, dass es keine Scheidung geben würde. Dass wir uns wieder versöhnt hätten und nun in München leben würden, bis du deinen Vertrag mit der Behnisch-Klinik lösen kannst.«
»Vicky!«
»Ich weiß, dass das nicht meine klügste Entscheidung war«, sagte Vicky hastig. »Aber was sollte ich denn machen? Mir ist auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Ich hatte einfach nur gehofft, dass sie es so hinnehmen würden. Ich wäre dann ein paar Tage in Deutschland geblieben und dann mit Henry wieder umgekehrt. In der Hoffnung, dass uns das Jugendamt endlich in Ruhe lassen würde.«
»Ziemlich blauäugig«, höhnte er. Michael war sauer und verletzt. Und er kannte auch den Grund dafür. Vicky hatte gar nicht vorgehabt, ihn zu besuchen. Sie wäre nach Amerika zurückgeflogen, und er hätte wohl nie erfahren, dass sie zum Greifen nahe gewesen wäre.
»Also was ist passiert, dass du nun doch noch bei mir gelandet bist? Lässt sich das Amt nicht auf dein Spielchen ein?«
Vicky zuckte unter seinen harten Worten zusammen. »Micha, bitte … Ich weiß doch selbst, wie dumm das war. Ich hatte nie vorgehabt, dich da reinzuziehen. Von diesem ganzen Ärger solltest du nichts mitbekommen. Bitte, verzeih mir.«
»Sagst du mir jetzt endlich, was du von mir willst?«
Vicky sah ihn sorgenvoll an. »Als ich in München aus dem Flugzeug gestiegen bin, hatte ich bereits eine Antwort vom Amt bekommen. Sie wollen, dass ich Ihnen die Rücknahme des Scheidungsantrags beweise.«
»Ich soll den Antrag zurücknehmen?«
Vicky nickte zaghaft. »Das allein reicht ihnen noch nicht. Ich bekomme das Sorgerecht erst, wenn wir wieder alle zusammen in den Staaten leben.«
»Nein!«, stieß Michael hervor. »Wie kannst du auch nur eine Sekunde glauben, dass ich hier alles aufgebe, damit du an deiner Lüge festhalten kannst! Das wird nie passieren, Vicky! «
»Nein, nein natürlich nicht …« Vicky sah ihn so traurig an, dass es Michael fast das Herz zerriss. »Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe, dich damit zu behelligen. Ich hätte gar nicht kommen sollen. Es war nur so, ich habe doch sonst niemanden mehr.« Ihre Stimme brach, und sie stand hastig auf. »Ich geh mal nach Henry sehen.« Fluchtartig verließ sie den Raum.
Wie betäubt blieb Michael zurück. Erst jetzt konnte er über das, was Vicky ihm erzählt hatte, nachdenken. Erst jetzt verstand er auch die fürchterliche Wahrheit: Nancy, die unbekümmerte, fröhliche Nancy lebte nicht mehr. Ihr Tod musste Vicky schwer getroffen haben. Die beiden waren unzertrennlich gewesen. Sie hatte eine starke, liebevolle Freundschaft verbunden. Und Norah … Michael musste schlucken. Norah liebte ihre Töchter abgöttisch. Fast ein bisschen zu intensiv, wie Michael manchmal fand. Es verging kaum ein Tag, an dem Norah nicht mit ihrer Ältesten telefonierte. Nancy und Henry hatten sogar bei ihr gelebt. Norah hatte Nancy und ihr Baby bei sich aufgenommen, als Henrys Vater wegging. Und nun war Norah allein und krank. Dieses leere Haus musste schrecklich für sie sein. Und die Tatsache, dass sie nun pflegebedürftig war und selbst Hilfe brauchte, machte es ihr bestimmt nicht leichter, mit dem Verlust ihrer jüngeren Tochter fertigzuwerden.
Wenn er daran dachte, wie schwer es für Vicky und Norah gerade war, schämte er sich für sein Verhalten. Sie hatte es ihm gesagt, es gab niemanden, den sie um Beistand bitten konnte. Und was hatte er getan? Er hatte sie zurückgewiesen und in ihrem Kummer allein gelassen. Den Trost, den sie so dringend brauchte, hatte er ihr verwehrt. Ohne darüber nachzudenken oder nach einer anderen Lösung zu suchen, hatte er ihre Bitte abgeschmettert. Auch wenn ihre Ehe zu Ende war, gab es doch immer noch ein unsichtbares Band, das sie verband und das dafür sorgte, dass er ihr helfen wollte.
Michael ging zum Gästezimmer am Ende des Flurs und öffnete leise die Tür. Vicky lag neben dem Jungen auf dem breiten Doppelbett und hob ihren Kopf, als er hineinsah. Michael entdeckte die frischen Tränenspuren auf ihren Wangen. Er ärgerte sich, dass sie sich hierher zurückziehen musste, um sich ihrem Kummer zu stellen. Früher hatten sie sich immer gegenseitig getröstet. Einer hatte sich auf den anderen verlassen können und darauf vertraut, dass er in schlechten Zeiten nicht allein war. Vicky hatte wirklich niemanden mehr.
Vorsichtig stand sie auf und kam zur Tür. Er strich ihr sanft die Haare aus dem verweinten Gesicht und flüsterte leise: »Komm, wir setzen uns ins Wohnzimmer und reden noch einmal darüber. Einverstanden?«
Sie nickte stumm und folgte ihm.
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Michael, als Vicky neben ihm Platz genommen hatte. »Ich kann hier nicht weg. Aber ich möchte dir trotzdem gern helfen. Vielleicht fällt uns ja gemeinsam etwas anderes ein.«
»Ich weiß nicht, was das sein könnte«, erwiderte Vicky unschlüssig. »Die Ansage des Jugendamtes war eindeutig.«
»Den Scheidungsantrag kann ich zurücknehmen. Ich gehe gleich morgen zu meinem Anwalt und veranlasse das. Aber die andere Bedingung, die Rückkehr nach San Francisco, kommt für mich nicht in Frage. Mir wurde hier eine Oberarztstelle angeboten. Das ist die große Chance für mich. Die kann ich nicht ausschlagen, Vicky.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Versuch, beim Jugendamt auf Zeit zu spielen. Von mir aus schreib Ihnen, dass wir zurückkommen werden, aber ich hier nicht so schnell aus meinem Vertrag rauskomme. Behaupte, dass du solange mit Henry bei mir bleiben möchtest, weil du glaubst, dass ihm ein Ortswechsel guttun würde. Wenn du willst, gehe ich morgen zu Frau Dr. Norden. Sie ist Fachärztin für Kinderpsychiatrie und könnte sich vielleicht um Henry kümmern und ihn behandeln. Seine Therapie, die er auf keinen Fall abbrechen darf, wäre dann ein weiterer Grund dafür, dass wir noch nicht zurückfliegen können. Was hältst du davon?«
»Ich danke dir, Micha. Das ist mehr, als ich erwarten dürfte. Vielen Dank!«
»Schon gut, Vicky. Wir sind schließlich immer noch Freunde.«
Vicky sah ihn lange an, bevor sie antwortete: »Ja, natürlich, das sind wir. Und ich bin sehr froh, dass wir bleiben dürfen. Ich werde nachher meine Mutter anrufen und ihr das sagen. Das wird nicht einfach werden. Sie ist jetzt ganz allein und braucht mich. Es ist zwar eine Pflegerin da, die sich um alles Notwendige kümmert, aber sie kann keine Familie ersetzen.«
»Rede mit ihr. Ruf sie an und erklär ihr, wie viel davon für Henry abhängt. Sie wird nicht wollen, dass er in eine fremde Familie kommt.«
Plötzlich sprang Vicky auf und lief an ihm vorbei zum Gästezimmer. Und da hörte er es auch: ein leises Wimmern, das sich stetig steigerte, und schließlich in ein lautstarkes Wehklagen überging. Als er ins Zimmer kam, sah er Henry weinend in Vickys Armen liegen, und Michael spürte den tiefen Schmerz der kleinen Kinderseele.
Er setzte sich zu den beiden aufs Bett und streichelte über Henrys Rücken. »Gibt es etwas, was ich tun kann?«, fragte er Vicky leise.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er braucht einfach seine Zeit, um sich zu beruhigen und die bösen Träume loszuwerden. In ein paar Minuten geht es ihm besser.«
Michael erinnerte sich an den Moment vor sechs Jahren, an dem er Henry das erste Mal in seinen Armen gehalten hatte. Ein kleines, süßes Baby, nur ein paar Stunden alt, dessen Vater sich aus dem Staub gemacht hatte und das nur wenige Jahre später auch noch seine Mutter verlieren sollte.
Michael hatte zu Henry von Anfang an eine ganz besondere Beziehung gehabt. Vielleicht hatte er in ihm das Kind gesehen, das er nie haben würde. Da es in Henrys Leben keinen anderen Mann gab, war es für Michael selbstverständlich gewesen, für ihn da zu sein, wenn er ihn brauchte. Er hatte Henry das Fahrradfahren beigebracht, ihn zum Angeln mitgenommen oder zu einem Baseballspiel. Für Henry musste eine Welt zusammengebrochen sein, als Michael nach München gegangen war. Schon damals musste er mit einem herben Verlust klarkommen. Und nun war sogar seine Mutter fort. Michael wusste, das war mehr, als ein Kind aushalten konnte. Es wunderte ihn deshalb nicht, wie schlecht es Henry ging. Doch nun waren sie zusammen, und er würde alles tun, damit es seinem kleinen Freund wieder besser ginge. Alles, außer Deutschland zu verlassen.
*
Gleich am nächsten Morgen ging Michael zu Fee und erzählte ihr von Henry.
»Ich habe heute Nachmittag Zeit«, sagte Fee auf der Stelle. »Rufen Sie Ihre Frau an. Wenn es ihr passt, kann sie gern vorbeikommen. Wir sollten es nicht auf die lange Bank schieben. So wie sich das anhört, braucht der kleine Henry ganz dringend Hilfe.«
Vicky nahm Fees großzügiges Angebot sofort an und fuhr zur verabredeten Zeit in die Behnisch-Klinik. Von Fee Norden wurde sie wie eine alte Bekannte begrüßt.
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen, Vicky. Auch wenn die Umstände alles andere als schön sind. Es tut mir sehr leid, was Ihrer Familie widerfahren ist.«
»Danke, Frau Norden. Ich kann es immer noch nicht fassen. Es sind inzwischen drei Monate vergangen, aber es kommt mir vor, als wäre es erst gestern geschehen. Es tut noch immer so weh.«
Fee nickte verständnisvoll. Es war ein Trugschluss zu glauben, dass die Zeit alle Wunden heilen würde. Es wurde irgendwann leichter, weil man lernte, mit dem Schmerz umzugehen, aber er würde nie ganz verschwinden.
Fee begrüßte Henry. »Hallo, Henry. Du weißt vielleicht, dass ich mit deinem Onkel Michael zusammenarbeite. Er hat mir oft von dir erzählt, und ich freue mich deshalb sehr, dich endlich kennenzulernen.«
Henry erwiderte ihren Gruß nicht, sondern betrachtete angestrengt seine Schuhe. Nach dem, was Michael ihr berichtet hatte, erwartete Fee keine andere Reaktion von dem Kind. In ihrem Beruf hatte sie gelernt, geduldig zu sein. Es ließ sich nichts erzwingen, wenn der Patient nicht bereit dafür war.
Fee sah zu Vicky. »Michael sagte mir, dass Henry sehr gut deutsch spricht. Es dürfte also keine Verständigungsprobleme geben.«
»Nein, die gibt es nicht«, entgegnete Vicky. »Sie wissen vielleicht noch, wie wichtig es meiner Mutter war, dass wir zweisprachig aufwuchsen. Da hat sie auch keine Ausnahme bei ihrem Enkel geduldet. Henry lebt seit seiner Geburt im Haus seiner Oma. Sie hat mit ihm nur Deutsch gesprochen, sodass er die Sprache wie seine Muttersprache beherrscht.« Niedergeschlagen fügte sie hinzu: »Im Moment spricht er weder deutsch noch englisch. Er sagt überhaupt nichts mehr.«
»Darum kümmern wir uns später«, sagte Fee schnell. Sie wollte im Beisein des Jungen nicht weiter auf seine Schwierigkeiten eingehen. Nicht sie sollten im Mittelpunkt stehen, sondern die schönen Dinge im Leben. Dinge, über die Henry wieder zu seiner Unbeschwertheit zurückfinden würde.
»Wir haben hier im Haus eine Tagesklinik, in die ich Henry aufnehmen könnte«, erklärte Fee. »In einer kleinen Gruppe mit fünf anderen Kindern würde Henry hier den Tag verbringen. Mit therapeutischer Begleitung können alle gemeinsam spielen, malen, singen oder einfach nur das machen, woran sie Freude haben. Sie könnten ihn morgens herbringen und holen ihn am Nachmittag wieder ab.«
Henry riss erschrocken die Augen auf und umklammerte schreckensbleich Vickys Bein.
Geschickt verbarg Fee ihr Lächeln. Diese Reaktion, so dramatisch sie auf einen Außenstehenden auch wirken mochte, war genau das, was sie sich erhofft hatte. Henry bekam also durchaus mit, was in seiner Umgebung geschah und worüber gesprochen wurde. Der Fall war also weitaus unkomplizierter, als sie anfangs befürchtet hatte.
»Noch besser wäre es natürlich, wenn Sie die ganze Zeit über bei ihm bleiben würde«, sagte Fee und registrierte erfreut, wie sich Henry augenblicklich entspannte. »Ich bin davon überzeugt, dass es Ihnen gefallen wird.«
Seit zwei Wochen wurde Henry in der Behnisch-Klinik behandelt. Michael nahm Vicky und Henry morgens in seinem Wagen mit und holte sie am Nachmittag wieder ab. Wenn er länger arbeiten musste, fuhren die beiden mit dem Taxi zurück.
In der ganzen Zeit blieb Vicky immer an Henrys Seite. Noch war Henry nicht bereit, sie gehenzulassen. Doch allmählich stellten sich kleine Erfolge ein. Henry schien interessierter an seiner Umwelt zu sein. Hatte er am Anfang das Spiel der anderen Kinder nur teilnahmslos beobachtet, kam es nun immer häufiger vor, dass er ein Buch in die Hand nahm, um darin zu blättern. Er ließ es sogar zu, dass Michael am Abend das Baden übernahm, während sich Vicky um das Essen kümmerte.
Wenn Henry in der Tagesklinik seinen Mittagsschlaf machte, konnte sich Vicky für eine Stunde in eine ruhige Ecke zurückziehen und sich um wichtige Angelegenheiten kümmern. Sie telefonierte mit ihrer Mutter und organisierte deren Pflege, verlängerte die unbezahlte Freistellung bei ihrem Chef und unterrichtete regelmäßig das Jugendamt über die Fortschritte, die Henry machte. Seit sie das Amt über ihre Absicht, vorerst in München zu bleiben, informiert hatte, herrschte Funkstille. Vergeblich und in banger Erwartung sah sie mehrmals täglich in ihrer Mailbox nach. Doch es kam keine Antwort. Ob das nun etwas Gutes oder Schlechtes bedeutete, wusste sie nicht. Diese Ungewissheit belastete sie, und die Sorgen nahmen jedes Mal zu, wenn sie ihr leeres Postfach sah. Der einzige Lichtblick war dann Michael, der mittags, so oft es ihm möglich war, vorbeikam, um sie abzulenken, ihr gut zuzureden, oder mit ihr einen Kaffee trank und von seinen Fällen berichtete.
Wenn sie zusammensaßen und miteinander sprachen, war es fast wie früher. Dann vergaß sie, dass ihr Zusammenleben nur eine Farce war und ihre Ehe ein Scherbenhaufen. Ihr wurde dann bewusst, wie sehr sie ihn in den letzten Monaten vermisst hatte. Und oft wünschte sie sich, sie könnten die Zeit einfach zurückdrehen, um es diesmal besser hinzubekommen.
Vicky verließ die Cafeteria, in der sie die letzte Stunde verbracht hatte. Heute war der erste Tag, an dem sie Henry während der Spielstunde alleingelassen hatte. Sie hatten mit diesem kurzen Zeitraum angefangen, um zu sehen, wie es Henry damit ergehen würde.
Die Zeit in der Cafeteria war nur schleppend vergangen. So schön es hier auch war, sie musste immerzu an Henry denken. Wie fühlte er sich? Litt er, weil sie fortgegangen war? Nur das Wissen, dass Fee eine erfahrene Ärztin war, die sie zurückrufen würde, falls es Probleme geben sollte, hatte sie diese Warterei überstehen lassen. Doch nun wollte sie ihn nur noch in ihre Arme schließen.
Sie war überrascht, als sie vor der Tagesklinik auf Michael traf.
»Ich wollte nachsehen, wie es ihm geht«, erklärte er. »Ich musste die ganze Zeit an ihn denken.«
Vicky nickte. »Ja, ich auch.«
Gemeinsam gingen sie hinein. Im Dienstzimmer trafen sie auf Fee Norden. »Es geht ihm ausgezeichnet«, begrüßte Fee sie sofort mit einem verständnisvollen Lächeln.
»Er hat die Trennung von Vicky also gut verkraftet«, atmete Michael erleichtert auf.
»Ja, bestens. Das ist ein sehr gutes Zeichen. So langsam lernt Henry wieder, darauf zu vertrauen, dass ihn nicht alle Menschen verlassen. Der Tod seiner Mutter hat starke Ängste in ihm ausgelöst. Die Befürchtung, dass sich alles wiederholen könnte, ist ständig präsent. Er hat erlebt, wie schnell ein geliebter Mensch für immer aus seinem Leben verschwinden kann. So wie es seine Mutter getan hat oder auch sein Vater. In gewisser Hinsicht wurde er ja auch von ihm in Stich gelassen.«
Michael nickte bedrückt. »Und von mir auch.«
»Micha, nicht!«, rief Vicky erschrocken. »Bitte belaste dich jetzt nicht damit. Du konntest doch nicht anders!«
»Ach nein? Musste ich wirklich gleich das Land verlassen? Ich hätte doch wissen müssen, was das für Henry bedeuten würde. Er hatte zu mir aufgesehen und mir vertraut. Und als Nancy starb und seine Oma so krank wurde …« Michael nahm Vickys Hand. »Ich hätte für ihn da sein müssen. Und für dich.«
Fee überraschte Michaels kleiner, emotionaler Ausbruch nicht. Seit er in München war, hatte sie das Gefühl gehabt, dass er noch nicht mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte. Und seine Worte bewiesen ihr, dass das wohl nie passieren würde.
»Ich glaube, Sie sollten sich beide zusammensetzen und in Ruhe über alles reden«, sagte sie feinfühlig. »Am besten gleich heute Abend, wenn Henry im Bett liegt und schläft. Es gibt so viele unausgesprochene Dinge zwischen ihnen. Sie müssen das unbedingt klären. Nicht nur für sich, sondern auch für Henry.«
»Für Henry?«, fragte Vicky erstaunt.
Fee nickte. »Natürlich. Kinder in diesem Alter sind äußerst empfindsam. Sie nehmen Spannungen unbewusst wahr und werden dadurch verunsichert. Gerade für Henry ist das nicht gut. Das, was er braucht, sind Normalität und ein stabiles Umfeld.«
Sie waren auf den Flur hinausgegangen, als sich die Tür zum Therapieraum öffnete und Henry herauskam. Kaum hatte er Vicky entdeckt, rannte er auf sie zu. Voller Stolz hielt er ihr das Bild entgegen, das er gemalt hatte.
Vicky schloss ihn erst mal kurz in ihre Arme, bevor sie sich seinem Kunstwerk widmete. »Das ist wunderschön geworden, Henry. Du hast ja das Flugzeug gemalt, mit dem wir hergeflogen sind.«
Henry nickte. »Ja, unser Flugzeug.«
Dieser kurze Satz verschlug Vicky die Sprache. Mit Tränen in den Augen sah sie zu Michael hoch. Sie wusste, dass er verstehen würde, warum ihr das so nahe ging: Es waren die ersten Worte, die Henry seit dem Tod seiner Mutter sprach. Michael lächelte Vicky zu, dann strich er Henry über den Kopf. »Das hast du toll gemacht, Großer. Flugzeuge malen ist ja wohl das Schwerste, was es gibt.«
»Weiß ich doch«, entgegnete Henry knapp.
Als Vicky und Michael kurz darauf mit Henry die Tagesklinik verließen, um sich im Klinikpark die Beine zu vertreten, sah Fee ihnen nach. Sie hatten Henry in ihre Mitte genommen und hielten ihn an den Händen. Jeder, der ihnen begegnete, würde vermuten, eine normale, glückliche Familie zu sehen. Wie tief die Zerrüttung saß und dass die Ehe der Erwachsenen nur noch auf dem Papier bestand, würde niemand glauben. Und Fee glaubte es nun noch weniger als bisher. Zwischen Vicky und Michael war noch nicht alles vorbei. Zwischen ihnen gab es immer noch eine enge Verbundenheit, wie man sie nur unter Liebenden fand.
*
Am Nachmittag kam Michael in die Tagesklinik. Vicky und Henry zogen sich gerade ihre Jacken an und machten sich fertig für die Heimfahrt.
»Tut mir leid«, sagte Michael mit echtem Bedauern. »Ich kann heute nicht mit euch nach Hause fahren. Es ist ein wichtiger Termin dazwischengekommen, und es wird heute spät werden.«
»Das ist nicht schlimm, Micha«, versicherte Vicky rasch. »Ich bin dir so schon unendlich dankbar für das, was du für uns machst.«
»Du weißt, dass das nicht nötig ist. Ich bin gern für euch da.«
Als ein verlegenes Schweigen eintraf, sagte Michael schnell: »Kommt, ich bring euch noch zum Taxistand.«
Doch Vicky schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich denke, wir nehmen heute kein Taxi, sondern fahren mit dem Bus«, verkündete sie und erntete dafür erstaunte Blicke von Henry und Michael.
Von Fee wusste Vicky, wie wichtig Normalität für Henry war. Diese Taxifahrten hatten nichts mit Henrys normalem Alltag zu tun. Zuhause war er entweder im Auto mitgefahren oder aber im Bus.
»Busfahren ist doch viel spannender«, sagte sie betont fröhlich. »Man sieht viel mehr von der Umgebung und kann auch noch ein paar Schritte von der Haltestelle bis zur Wohnung laufen. Das wird uns bestimmt guttun.«
Michael schien von diesem Vorhaben noch nicht restlich überzeugt zu sein. »Weißt du denn, mit welcher Linie du fahren musst? Kennst du auch die Haltestelle, an der ihr rausmüsst, um umzusteigen?«
Vicky lächelte, als sie seine besorgte Miene sah.
»Natürlich weiß ich das. Keine Angst, wir werden schon ankommen. Ich bin doch nicht völlig fremd in München. Immerhin habe ich hier mehrere Jahre gelebt. Und für alle Fälle habe ich ja noch meinen Telefonjoker. Ich ruf dich an, wenn ich nicht weiterweiß.«
Als sie zusammen mit Henry im Bus saß, beglückwünschte sich Vicky für ihre Idee, auf das Taxi zu verzichten. Henrys erstaunte Augen, mit denen er durch die große Glasscheibe nach draußen sah und die vielen fremden Eindrücke aufnahm, ließen ihr Herz vor Freude schneller schlagen. Wenn sie ihn so ansah, konnte sie daran glauben, dass er bald wieder ein fröhlicher, unbeschwerter kleiner Junge sein würde, dem es Spaß machte, die Welt zu entdecken. Natürlich war es noch ein weiter Weg, aber sie hatten den ersten, schwersten Schritt bereits hinter sich gebracht.
Von der Bushaltestelle bis zu dem Wohnhaus, in dem Michael lebte, waren es keine hundert Meter. Es war ein wunderschöner, warmer Tag.
Die Sonne schien, der strahlendblaue Himmel, auf dem sich nur einige Schönwetterwolken zeigten, brachte nicht nur Vickys Gesicht zum Leuchten. Auch Henry sah aus, als wäre er rundum glücklich und zufrieden.
Unterwegs kamen sie an einem kleinen Supermarkt vorbei, und spontan fasste Vicky den Entschluss hineinzugehen.
»Was hältst du davon, etwas Leckeres fürs Abendessen einzukaufen?« Als Henry nickte, fragte sie: »Hast du einen besonderen Wunsch? Wir könnten eine Pizza mit frischem Teig machen oder Spaghetti mit Tomatensoße. Oder vielleicht doch lieber eine Gemüsepfanne mit Reis?«
»Nö, Spaghetti. Und Salat.«
Vicky umarmte ihren Neffen strahlend und drückte ihn fest an sich. Sie küsste seine Haare und sagte glücklich: »In Ordnung, mein Schatz. Wir machen heute Spaghetti. Und deinen Salat bekommst du natürlich auch.«
Am liebsten hätte Vicky ihm noch tausend Fragen gestellt, nur damit er weiter mit ihr redete. Doch sie wusste, sie durfte es nicht übertreiben. Sie wollte ihm nicht vor Augen führen, dass seine wiedergefundene Sprache etwas Besonderes war. Sie musste so damit umgehen, als hätte er nie aufgehört zu sprechen. Normalität, ermahnte sie sich immer wieder, während sie den Einkaufswagen durch die Gänge schob. Henry braucht Normalität.
In Michaels Wohnung angekommen, leerten sie die Einkaufstaschen und machten sich dann daran, das Gemüse zu putzen und kleinzuschneiden. Vicky erinnerte sich, wie sie früher immer alle gemeinsam gekocht hatten. Sie trafen sich jeden Freitag bei ihrer Mutter, haben zusammen in der Küche gestanden, von der zurückliegenden Woche erzählt, Pläne geschmiedet, gestritten, gelacht …
Eine eingeschworene Gemeinschaft, die den ersten Riss bekam, als Michael sie verlassen hatte. Es war danach nie wieder so gewesen wie früher. Jedenfalls nicht für sie. Sie hatte ihn an jedem einzelnen Tag vermisst und an diesen Freitagen noch mehr als sonst. Nur mit Norah, Nancy und Henry war es nicht mehr dasselbe. Und nun war ihr auch noch das genommen worden. Nancy war fort, ihre Mutter ein Pflegefall mit schwersten Beeinträchtigungen. Geblieben waren nur noch sie und Henry. Wenn sie mit diesem kleinen Jungen in der Küche stand und kochte, hatte das in Wahrheit nichts mit Normalität zu tun. Nein, es erinnerte sie nur an das, was ihr so fehlte.
Um halb sieben war es Zeit fürs Abendessen. Vicky bedauerte, dass Michael noch nicht heimgekommen war. Als Ärztin wusste sie aber, wie schnell etwas dazwischenkommen konnte. Ein akuter Notfall, ein verzweifelter Patient, der Trost brauchte, oder ein Angehöriger, dem man eine schlechte Nachricht überbringen musste.
Henry lag frisch gebadet im Bett und wartete auf seine Gute-Nacht-Geschichte, als Michael endlich ankam. Sein erster Gang führte ihn ins Gästezimmer. Er gab Henry zur Begrüßung einen Kuss und strich Vicky über den Arm.
»Tut mir leid, ich habe es nicht früher geschafft.«
»Ich weiß, Micha. Wir haben schon ohne dich gegessen. Ich möchte nur noch schnell Henry die Geschichte vorlesen, dann mach ich dir die Reste warm.«
»Das brauchst du nicht, Vicky«, erwiderte Michael leicht amüsiert. »Ich glaube, das schaffe ich auch allein. Immerhin hat das in den letzten Monaten, seit ich in München bin, ganz gut geklappt.«
»Natürlich«, gab Vicky mit belegter Stimme zurück.
»Aber wisst ihr, worauf ich jetzt besonders Lust hätte?«, fragte Michael und sah dabei nur Henry an. Der schüttelte sofort den Kopf. »Am liebsten würde ich heute das Vorlesen übernehmen. Meinst du, dass das in Ordnung für dich wäre, Henry?«
»Klar«, erwiderte Henry und rückte zur Seite, damit Michael Platz auf dem Bett fand.
Vicky reichte lächelnd das Märchenbuch weiter, gab Henry einen Gute-Nacht-Kuss und stand dann auf. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und sah zurück. Henry und Michael – im Moment waren das die beiden Menschen, die ihr am wichtigsten waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf einen von ihnen je wieder verzichten zu müssen. Und doch war ihr keiner der beiden sicher. Henry lief immer noch Gefahr, in einer Pflegefamilie zu landen, und Michael … Die Zeit mit Michael war nur geborgt. Vicky war nur hier, weil sie seine Hilfe brauchte, und er duldete sie nur in seiner Wohnung, weil er Mitleid mit ihnen hatte.
Vicky wandte sich traurig ab und ging in die Küche. In einigen Wochen würde sie wieder in Kalifornien leben, und Micha würde hierbleiben. Auch wenn er die Scheidungspapiere ihretwegen zurückgezogen hatte, waren sie doch getrennt. Wäre Nancy nicht gestorben, hätte sie die Papiere längst zurückgeschickt, und ihre Trennung wäre amtlich geworden. Für sie gab es keine Hoffnung mehr, obwohl es sich so anfühlte.
Nur weil sie keinen Schlussstrich ziehen konnte, hieß das noch lange nicht, dass es Michael genauso erging. Er hatte hier ein neues Leben begonnen. Vielleicht war er auch schon mit anderen Frauen zusammen gewesen. Vicky musste an die hübsche Ärztin denken, mit der sie Michael an ihrem ersten Tag hier in München gesehen hatte. Ob sie mehr als nur Kollegen waren?
»Ich war noch nicht mal in der Mitte der Geschichte angelangt, als er schon eingeschlafen war.« Michael war zu ihr in die Küche gekommen.
»Der Tag in der Klinik strengt ihn immer sehr an.«
Vicky füllte Michael eine große Portion auf und sah ihm dann schweigend zu, wie er aß.
»Ich bin so glücklich, dass Henry endlich wieder spricht«, sagte Michael kauend. »Pass auf, von nun an wird er immer größere Fortschritte machen. Ich finde, er wirkt auch insgesamt viel entspannter. Manchmal lächelt er sogar.«
Voller Eifer berichtete Michael von jeder kleinsten Veränderung, die er an dem Kind bemerkt hatte. Dabei fiel ihm anfangs gar nicht auf, dass Vicky sehr still war und nur einsilbig antwortete. Erst nach einer Weile wurde er stutzig. Und plötzlich sah er auch die Wehmut in ihrer Miene.
Er legte das Besteck ab und griff nach ihrer Hand.
»Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?«, fragte er sachte. »Warum habe ich den Eindruck, dass dich ein großer Kummer quält, obwohl heute doch ein Tag ist, der dich nur zum Jubeln bringen müsste?«
»Es ist nichts«, behauptete Vicky. »Mir geht es genau wie dir, ich bin sehr, sehr, erleichtert, dass Henry endlich spricht.«
»Dann hast du eine merkwürdige Art es zu zeigen.«
Als Vicky nur die Schultern zuckte und dann aufstehen wollte, hielt Michael sie auf. Sanft zog er sie wieder auf den Stuhl hinunter. »Was ist los, Vicky? Hat sich das Jugendamt gemeldet? Oder ist etwas mit deiner Mutter? Gibt es schlechte Nachrichten?«
»Nein, nein … Das ist es nicht. Es ist nur … Ach, lass uns nicht mehr darüber reden, Michael. Diese Situation ist auch so schon schwer genug.«
»Welche Situation? Meinst du damit unsere Beziehung?«
Erschrocken sah sie ihn an. Michael hatte schon immer gewusst, womit sie sich gerade plagte. Niemand kannte sie besser als er.
»Hab' ich mir doch gedacht«, sagte er seufzend. »Denkst du denn, mir geht es anders? Auch mich belastet das alles. Seitdem du hier bist, hat sich vieles für mich geändert.«
»Ich hätte nicht herkommen sollen …«
»Nein!«, rief Michael aus. »Das ist es nicht! Ich bin doch froh, dass du hier bist. Ich freue mich darüber … Aber es ist auch sehr verwirrend. Ich weiß nicht mehr, wo wir jetzt stehen. Vor dem endgültigen Aus? Sind wir wirklich so gut wie geschieden? Oder sind wir nur ein Ehepaar, das eine schwere Zeit durchmacht, dessen Liebe aber stark genug ist, um es zu schaffen?«
Vicky sah ihn mit großen Augen an. Nie hätte sie vermutet, dass ihn die gleichen Nöte quälten wie sie.
»Bitte, Vicky, rede endlich mit mir. Sag mir, ob du mich noch liebst!«
»Ob ich dich liebe?« Vicky lachte humorlos auf. »Als ob Liebe alles leichter machen würde. Du hast immer gedacht, dass es ausreichen würde, sich zu lieben. Aber das stimmt nicht! Du siehst doch, wo uns unsere Liebe hingeführt hat!«
»Ich wollte nie mehr als deine Liebe. Doch dir hat das nicht gereicht. Du wolltest ein Kind, um mit mir glücklich sein zu können.«
»Aber du hast doch immer von einer großen Familie mit vielen Kindern geträumt. Und als ich dir diesen Wunsch nicht erfüllen konnte …« Vicky brach in Tränen aus, und Michael zog sie schnell in seine Arme.
»Ich wollte doch wirklich immer nur dich, Liebling. Warum konntest du mir das nicht glauben?«
»Ich wollte dir glauben«, sagte Vicky leise weinend. »Aber ich hatte diese schreckliche Angst, dass du eines Tages feststellst, dass dein Leben leer und sinnlos ist, wenn es kein Kind darin gibt. Spätestens dann hättest du mich verlassen. Ich dachte, es wäre einfacher für mich, dich gleich gehenzulassen.«
»Und war es das? War es einfach für dich gewesen?«
»Nein, das war es nie«, erwiderte Vicky leise. »Es war das Schwerste und Traurigste, was ich je getan habe. Und das Einzige, was ich je aus tiefstem Herzen bereut habe. Ich wünsche mir so oft, ich könnte die Zeit zurückdrehen, aber das geht leider nicht.«
Michael strich ihr zärtlich mit einem Finger über die tränennasse Wange. »Wir können nichts ungeschehen machen, Liebling, aber wir können neu anfangen. Wenn du es willst und du mich noch immer liebst.«
»Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben«, konnte Vicky noch hauchen, bevor sich ihre Lippen endlich zu einem leidenschaftlichen Kuss fanden.
*
Die Normalität, die sich Vicky für ihren Neffen wünschte, zog in den nächsten Wochen ein. Es war für den kleinen Henry normal geworden, jeden Tag in die Klinik zu fahren, es war inzwischen auch völlig normal, dass seine Tante dann nicht mehr ständig in der Nähe war, und es war normal, dass sich Tante Vicky und Onkel Micha wieder gernhatten. Darüber freute er sich sogar so sehr, dass es ihm überhaupt nichts ausmachte, dass seine Tante nun nicht mehr in seinem Bett schlief. Das Gästezimmer gehörte ihm nun ganz allein. In dem großen Kleiderschrank lagen seine Sachen. Auf dem Regal über dem Bett standen das Spielzeug und die Märchenbücher. Manchmal wunderte er sich, dass Onkel Micha es nicht schaffte, die vielen Kartons, die überall herumstanden, auszuräumen. Wollte er schon wieder umziehen? Vielleicht sogar nach San Francisco? Sobald er darüber nachdachte, nahm er sich fest vor, Onkel Micha zu fragen, wenn er nach Hause kam. Doch er vergaß es immer wieder. Stattdessen erkundeten sie zusammen die Stadt, gingen ins Kino oder fuhren mit den Rädern, die Onkel Micha besorgt hatte, ins Grüne.
Henry gefiel es in München. Natürlich vermisste er seine Grandma, die nicht bei ihm sein konnte. Und es tat immer noch ganz heftig weh, wenn er an seine Mama dachte, aber er konnte es nun aushalten. Mit Frau Norden, der netten Ärztin aus der Klinik, sprach er oft darüber. Das tat ihm richtig gut, und es ging ihm dann immer viel besser. Manchmal hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn er fröhlich spielte oder lachte und dabei vergaß, dass seine Mama fortgegangen war. Frau Norden meinte dann, dass das nicht schlimm sei und dass sich jede Mama wünschte, dass es ihrem Kind gutgeht und dass es Freude am Spielen hat. Dann wurde das Herzweh kleiner, und es fiel ihm gar nicht mehr schwer, mit den anderen Kindern in der Klinik zu lachen und zu toben.
Michael war immer wieder überrascht, wie schnell sich Henry gefangen hatte. Er war fast so vergnügt und unbekümmert wie früher. Natürlich trug er noch diesen großen Kummer mit sich herum. Doch er hatte nachgelassen und war nicht mehr so unerträglich, dass es ihm die Sprache verschlug oder ihn schlimme Träume plagten.
In seiner Mittagspause traf sich Michael nun fast täglich mit Vicky in der Cafeteria. Seitdem Henry ohne seine Tante in die Tagesklinik ging, hatte Vicky viel Zeit. Michael konnte nur erahnen, wie sehr Vicky unter dieser Untätigkeit leiden musste. Noch nie war es ihr leichtgefallen, nichts zu tun oder auf der faulen Haut zu liegen. Sie brauchte eine ausfüllende Beschäftigung und Arbeit wie die Luft zum Atmen. Doch hier in München gab es für sie nichts, was sie tun konnte. Der tägliche Treff in der Cafeteria war Michaels Idee gewesen. Er hoffte, dass ihr so die Zeit, bis Henry aus der Tagesklinik kam und Michael Feierabend hatte, nicht so lang vorkommen würde.
Sie wartete bereits auf ihn und studierte die Speisekarte mit den Tagesgerichten. Michael beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. »Entschuldige, ich wurde mal wieder aufgehalten.«
»Du brauchst dich nicht jedes Mal zu entschuldigen, Liebling. Ich weiß doch, wie viel du zu tun hast.«
Als Michael sich hinsetzte, sah er Sarah Buchner am Nebentisch. Er nickte ihr zu und ärgerte sich über das schlechte Gewissen, das er verspürte. Zwischen Sarah und ihm war doch alles klar. Sie hatten sich darauf geeinigt, nur Freunde zu sein. Wohl nicht die besten, wie er sich eingestehen musste. Seit Vicky in München aufgetaucht war, hatte er sich nie wieder bei Sarah gemeldet. Hätte er ihr nicht von Vicky und Henry erzählen müssen? Sollte Sarah nicht wissen, was ihm diese beiden Menschen bedeuten? Obwohl das jetzt, nach dem Kuss, den sie zweifellos gesehen hatte, wohl nicht mehr nötig war.
»Ist alle in Ordnung mit dir?«, fragte Vicky. Michaels Stimmungsumschwung war ihr nicht entgangen.
»Ja, natürlich«, versicherte er schnell. »Ich dachte gerade an einen meiner Fälle.« Er schämte sich seiner Lüge, aber er wollte jetzt nicht mit ihr über Sarah sprechen. Als Sarah aufstand und ging, atmete er erleichtert auf. Und kurz darauf hatte er sie vergessen.
»Weißt du schon, wie lange du heute arbeiten musst?«
»Es wird wohl wieder etwas später, Vicky. Ich muss am späten Nachmittag zu einer Fallbesprechung, die sich hinziehen kann. Wartet bitte nicht mit dem Essen auf mich.«
»Henry muss pünktlich ins Bett, aber bei mir spielt es keine Rolle, wann ich esse. Ich warte gern auf dich.« Vicky lächelte. »So wie es aussieht, schein ich nichts anderes mehr zu machen.«
»Das ist bestimmt nicht leicht für dich.«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Momentan gibt es keine andere Lösung. So lange ich in München bin, ist das eben so.«
Michael versuchte, die nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. »Solange du in München bist? Wie meinst du das?«
Vicky sah ihn ratlos an. »Ich weiß nicht so recht … Keine Ahnung, was ich meinte. Am besten, wir vergessen das. Ich liebe dich, und ich will für immer mit dir zusammenbleiben. Wo das sein wird, spielt für mich keine Rolle mehr. Wir können überall glücklich sein. Ist das nicht das Wichtigste?«
»Ja«, erwiderte Michael lächelnd und küsste sie erneut. »Wir haben nie darüber gesprochen, wie und wo es mit uns weitergehen soll. Ich glaube, wir haben in den letzten Wochen dieses Thema ganz bewusst vermieden.«
»Mag sein. Wir waren einfach zu glücklich, um uns mit unliebsamen Dingen zu beschäftigen.« Vicky griff nach seiner Hand und streichelte sie. »Und dies ist jetzt auch nicht der passende Moment dafür. Lass es uns auf heute Abend verschieben, ja? Wenn Henry schläft, haben wir genügend Zeit, um uns auszusprechen und Pläne zu machen.«
Michael nickte ernst. »Wenn du meinst. Dann eben heute Abend.«
Michael sah der Aussprache mit einer gewissen Anspannung entgegen. Endlich würden sie über die Zukunft sprechen. Seit sie wieder ein Liebespaar waren, hatten sie dieses Thema tunlichst vermieden. Das konnte nur daran liegen, dass sie wussten, wie zerbrechlich ihre neue Liebe noch war. Ein falsches Wort, ein kleiner Streit könnte das, was sie sich in den letzten Wochen mühsam aufgebaut hatten, wieder zerstören. Der heutige Abend würde eine Entscheidung bringen, und er war sich nicht sicher, ob sie ihm gefallen würde.
Die letzten Wochen mit Vicky und Henry hatten ihn unheimlich glücklich gemacht. Es war, als wären sie nie getrennt gewesen. Und das Einzige, was er wollte, war, dass sich das niemals wieder änderte. Wenn sie ihn je wieder verlassen würde, wüsste er nicht, ob er es überstehen könnte. Wie sehr er sie brauchte, war ihm erst jetzt so richtig bewusst geworden.
Er war nervös, als er endlich nach Hause kam. Schon im Flur hörte er, dass Vicky mit ihrer Mutter telefonierte. Leise, um sie nicht zu stören, ging er ins Wohnzimmer. Vicky stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus, während sie sprach:
»Mum, bitte reg dich nicht auf. Wir kommen bald zurück … Du weißt doch, dass ich dich nie im Stich lassen würde … Wann ich komme? In ein paar Tagen. Vielleicht morgen oder übermorgen. Die Taschen sind schon gepackt. Ich muss hier nur noch etwas klären … Bitte wein doch jetzt nicht. Ich werde nicht bei Micha in München bleiben. Ich komme mit Henry zurück. Das verspreche ich dir …«
Michael hatte genug mitbekommen. Wie betäubt drehte er sich weg und ging ins Schlafzimmer. Er ließ sich aufs Bett sinken und starrte vor sich hin. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Das, was er gehört hatte, ergab absolut keinen Sinn. Sie hatte ihm doch erst vor wenigen Stunden gesagt, dass sie ihn liebe und dass sie für immer zusammenbleiben würden. Ganz egal, wo. Hier, in San Francisco oder an einem anderen Ort der Welt. Hauptsache, sie wären nicht mehr getrennt. Und nun? War alles nur eine große Lüge gewesen, um die Scheidung abzuwenden und das Sorgerecht für Henry zu bekommen? Michael konnte, nein, wollte das nicht glauben.
Es musste eine andere Erklärung für Vickys Worte geben. Irgendeine, bei der er sich nicht so verraten und belogen vorkäme. Doch so viel er auch grübelte, ihm fiel keine ein – weil es keine gab.
Er stand auf, holte seine Reisetasche hervor und warf wahllos ein paar Kleidungsstücke hinein. Er musste unbedingt verschwinden. Er konnte diesen Betrug nicht länger ertragen.
»Liebling! Ich habe gar nicht gehört, dass du gekommen bist.« Vickys Lächeln erstarb, als er sich zu ihr umdrehte und sie sein Gesicht sah. »Was ist los?«, fragte sie besorgt nach. Dann sah sie die volle Tasche. »Du hast gepackt? Micha, was soll das? Was hast du vor?«
»Das fragst du noch?«, schleuderte er ihr entgegen, und Vicky erschrak angesichts der Härte in seiner Stimme. »Das war alles nur Theater gewesen! Du hast mir vorgespielt, dass du mich noch liebst, und dabei ging es dir die ganze Zeit nur um das Sorgerecht für Henry.«
»Wie kannst du so einen Blödsinn behaupten?«, empörte sich Vicky. »Ich habe dich nie belogen. Ich liebe dich …«
»Ach ja?«, unterbrach er sie höhnisch. »Du sagst mir, dass du mich liebst, und deiner Mutter erzählst du, dass du es gar nicht abwarten kannst, endlich von hier zu verschwinden! Ich habe alles gehört, Vicky! Versuch gar nicht erst, eine Ausrede dafür zu erfinden. Ich habe genug von deinen Lügen! Für immer!«
Vicky waren bei seiner Anklage die Tränen in die Augen geschossen. »Bitte, lass mich doch erklären …«
»Ich will nichts mehr davon hören! Ich kann dir nicht mehr glauben!«
»Micha, so ist das doch gar nicht gewesen«, schluchzte sie laut. »Ich meinte das nicht so … bitte bleib, geh jetzt nicht …«
Michael schob sich an ihr vorbei und stürmte hinaus. Unfähig, ihm zu folgen oder ihn aufzuhalten, blieb Vicky im Türrahmen stehen und sah ihm weinend nach. Erst das Geräusch der eiligen Schritte, mit denen er die Treppe hinunterrannte, ließ sie wieder zu sich kommen. Sie lief den Flur entlang, griff im Vorbeilaufen nach dem Schlüsselbund und stürzte zur Tür hinaus. Atemlos blieb sie draußen auf dem Bürgersteig stehen und sah den Rücklichtern seines Wagens nach, der sich schneller werdend von ihr entfernte. Es dauerte lange, bis sie verstand, dass er sie erneut verlassen hatte.
*
Vicky hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Sie hatte neben dem Telefon ausgeharrt und darauf gewartet, dass sich Michael endlich bei ihr melden würde. Doch das tat er nicht. Sein Handy hatte er ausgestellt, sodass gleich seine Mailbox ansprang, wenn sie ihn anrief. Die vielen Nachrichten, die sie draufgesprochen hatte, hörte er sich wahrscheinlich gar nicht an. Er ignorierte sie, tat, als gäbe es nichts mehr zu sagen.
Je weiter die Nacht voranschritt, umso wütender wurde Vicky. Wie konnte sich Michael nur so kindisch benehmen? Stürmte aus der Wohnung, ohne mit ihr zu sprechen! Und dabei hätte sie ihm alles erklären können. Wenn er sich nicht so bockig benommen hätte, wäre dieser dumme Streit längst aus der Welt. Schon wieder liefen die Tränen über Vickys Gesicht. Hatte sie sich das Glück der letzten Wochen nur eingebildet? War es naiv gewesen zu glauben, dass ihre Liebe stark genug sei, um alle Hindernisse zu überwinden?
Die vielen Streitereien, die zum Scheitern ihrer Ehe geführt hatten, waren ihr bedeutungslos erschienen. Schließlich hatten sie aus ihren Fehlern gelernt und würden es nun besser machen. Oh, wie sehr sie sich geirrt hatte! Noch immer lief Michael davon, wenn es unangenehm wurde. Noch immer sprach er nicht mit ihr, sondern zog sich in sein Schneckenhaus zurück und glaubte nur an das, was er glauben wollte.
Kurz vor sechs in der Früh drückte Vicky den Wecker aus und ging ins Bad. Sie erschrak, als sie ihr Spiegelbild sah. Dunkle Schatten lagen unter ihren rotgeweinten Augen. Sie war erschreckend blass und sah aus, als wäre sie ernsthaft krank. So wie sie sich fühlte, sprach tatsächlich viel dafür, dass sie es war. Sie kämpfte schon seit einigen Tagen mit den ersten Symptomen einer Grippe. Sie war schwach, und oft wurde ihr schwindelig. Das und der fehlende Schlaf forderten heute ihren Tribut. Schon lange ging es ihr nicht mehr so schlecht wie an diesem Morgen.
Vicky musste sich auf den Wannenrand setzen, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde. Einer Ohnmacht nahe, krallte sie sich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Nur die Sorge um Henry ließ sie diesen Moment der Schwäche überstehen. Die Vorstellung, dass ihr kleiner Liebling sie hier bewusstlos vorfinden würde und niemanden hätte, der ihm helfen könnte, war so heftig, dass sie zu zittern begann. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie sich so weit gefangen hatte, dass sie aufstehen konnte. Sie ging mit schleppenden Schritten zurück ins Schlafzimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Erschöpft schloss sie die Augen. Nur eine Minute ausruhen, dachte sie noch, dann schlief sie ein.
»Tante Vicky!« Ein lautes Rufen weckte sie.
Henry! Sofort war sie hellwach und setzte sich ruckartig auf. Zu schnell, wie sie feststellte, als das Zimmer sich zu drehen begann.
»Tante Vicky! Wir haben verschlafen!« Henry sprang zu ihr aufs Bett und zeigte vorwurfsvoll zum Wecker. Sieben Uhr! Vicky hatte eine Stunde geschlafen, viel zu wenig, um sich fit und ausgeruht zu fühlen.
Sie zog ihren kleinen Liebling zu sich heran und gab ihm einen Kuss. »Guten Morgen, mein Sonnenschein«, sagte sie trotz ihres Kummers lächelnd. »Es macht nichts, dass wir heute ein bisschen länger geschlafen haben. Wir werden trotzdem noch pünktlich sein.«
»Das schaffen wir niemals, Tante Vicky!«
»Doch, mein Schatz. Wir werden nämlich nicht mit dem Bus fahren, sondern ausnahmsweise wieder mit dem Taxi.«
Henry nickte und sah dann zur leeren Bettseite hinüber. »Warum ist Onkel Micha nicht da?«
»In der Klinik gibt es viel zu tun. Und nun flitz schnell ins Bad und wasch dich. Ich mach uns ein leckeres Frühstück.«
Henry rannte los, und Vicky quälte sich mühsam aus dem Bett. Noch immer fühlte sie sich schlapp. Kein Wunder, bei dieser schrecklichen Nacht, die hinter ihr lag.
Trotz Taxifahrt kamen sie nicht zur rechten Zeit in der Tagesklinik an. »Tut mir leid«, entschuldigte Vicky ihr Zuspätkommen bei Fee. »Ich habe verschlafen.«
»Das macht nichts, es sind doch nur fünf Minuten.« Fee musterte die junge Frau besorgt. Sie musste nicht Ärztin sein, um zu sehen, dass es Victoria Böhm nicht gutging. Als sich Henry verabschiedet hatte und fröhlich ins Spielzimmer zu den anderen Kindern lief, sagte Fee: »Haben Sie noch ein paar Minuten Zeit, Vicky? Wir könnten uns in mein Büro setzen und zusammen einen Kaffee trinken.«
»Ja … natürlich! Ich hoffe, es gibt keine Probleme mit Henry.«
»Nein, es geht nicht um Henry.« Fee wartete, bis Vicky Platz genommen hatte. »Ich wollte eigentlich nur wissen, wie es Ihnen geht. Ich wäre eine schlechte Ärztin, wenn ich nicht fragen würde. Sie sehen nämlich nicht so aus, als wären Sie gesund.«
Vicky winkte schnell ab. »Ach, das ist nur die Müdigkeit. Ich bin nicht krank. Heute Nacht hat es mit dem Schlafen nicht so gut geklappt.«
Fee nickte zwar, blieb aber skeptisch. Dass mit Vicky etwas nicht stimmte, war ihr schon vor einigen Tagen aufgefallen. Vickys schlechtes Aussehen konnte also unmöglich an dem Schlafmangel der letzten Nacht liegen.
»Jetzt hätte ich fast den versprochenen Kaffee vergessen.« Fee stand auf. »Den werden Sie gut gebrauchen können.«
»Nein, vielen Dank, Frau Norden. Ich habe meinen Kaffeekonsum in den letzten Tagen stark herunterfahren. Irgendwie bekommt er mir zurzeit nicht so gut. Ich habe einen überempfindlichen Magen.« Vicky strich sich bei diesen Worten über den Bauch und verzog das Gesicht. »Wenn Sie nichts mehr auf dem Herzen haben, würde ich jetzt gern nach Hause fahren. Ich werde meinen Schlaf nachholen, bis ich Henry wieder abholen muss.«
»Vicky, wäre es nicht doch besser, wenn ich Sie mir mal kurz ansehe? Ich habe wirklich den Eindruck, dass Sie krank sein könnten.«
»Das brauchen Sie nicht. Es ist nur …« Sie brach ab, als sie merkte, wie ihre Stimme versagte.
»Was ist los?«, fragte Fee mitfühlend. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Vicky schüttelte traurig den Kopf. »Das können Sie leider nicht, Frau Norden.« Es gelang ihr jetzt nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten. »Michael und ich haben uns gestern Abend gestritten. Er ist einfach davongelaufen, ohne dass ich mit ihm reden konnte. Das ist auch der Grund, warum ich nicht geschlafen habe. Mir fehlt nichts … nur mein Mann.«
Fee griff nach Vickys Hand. »Ich wünsche Ihnen so sehr, dass Sie und Michael das hinbekommen. Sie lieben sich doch noch. Oder täusche ich mich?«
»Nein, das tun Sie nicht. Aber manchmal reicht es einfach nicht aus, sich nur zu lieben.«
Fee lächelte fein. »Und doch ist die Liebe das Einzige, worauf es letztendlich ankommt. Das dürfen Sie nie vergessen.«
Vicky nickte, doch sie schien nicht überzeugt.
»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Aber ich muss nun wirklich los und will Sie auch nicht länger von der Arbeit abhalten. Sie haben bestimmt genug zu tun.«
Sie stand auf und spürte augenblicklich diesen vertrauten Schwindel, mit dem sie seit Tagen zu kämpfen hatte. Sie musste hier so schnell wie möglich raus. Etwas frische Luft und es würde ihr gleich wieder besser gehen. Doch schon nach wenigen Schritten gaben ihre Knie plötzlich nach. Das Letzte, das sie hörte, war Fees erschreckter Aufschrei, dann wurde alles schwarz um sie.
Daniel Norden saß in seinem Büro, als Fee bei ihm hereinschaute. Sofort erhellte sich seine Miene. Lächelnd sah er ihr entgegen, als sie um seinen Schreibtisch herumkam, um ihm einen flüchtigen Kuss zu geben.
»Sehr kurz, aber trotzdem nett, dass du deswegen extra hergekommen bist«, sagte Daniel schmunzelnd.
»Diesmal ist das leider nicht der Grund für mein Kommen. Ich bin auf der Suche nach Michael Böhm und dachte, du könntest mir sagen, wo er ist.«
»Er hat heute früh angerufen und um ein paar Tage Urlaub gebeten. Es gibt wohl dringende familiäre Angelegenheiten zu regeln.« Daniel sah das ernste Gesicht seiner Frau und fragte: »Willst du mir nicht sagen, was los ist?«
»Ich habe vorhin seine Frau aufnehmen müssen. Sie ist in meinem Büro zusammengebrochen und war kurz bewusstlos.«
»Eine Synkope?« Alarmiert dachte Daniel an Vickys Schwester. Litt Vicky womöglich an demselben Herzfehler? Vielleicht eine Erbkrankheit? Eine Synkope, also eine kurzzeitige Ohnmacht, konnte viele Ursachen haben. Ein niedriger Blutdruck, verengte Blutgefäße, aber auch Herzerkrankungen.
»Ja, die Ohnmacht hat nur ein paar Sekunden gedauert, und Vicky war danach wieder hellwach. Sie auf der Inneren unterzubringen hielt ich für die beste Idee. Nicht nur wegen der Geschichte mit ihrer Schwester, sondern auch, weil sie keinen gesunden Eindruck auf mich macht. Sie hat es zwar auf den Schlafmangel geschoben und auf den Streit mit Michael, aber mein Gefühl sagt mir, dass mehr dahintersteckt.«
»Und dein Gefühl hat dich nie getrogen, Feelein. Es ist gut, wenn Vicky gründlich untersucht wird.«
»Ja, die letzten Untersuchungen laufen gerade. Ich will gleich wieder auf die Innere gehen und mit Dr. Schön die Befunde durchsprechen. Vorher wollte ich versuchen, Michael zu erreichen. Er sollte wissen, was mit seiner Frau los ist. Außerdem muss er sich um Henry kümmern, falls Vicky länger hierbleiben wird.«
»Du erwähntest einen Streit …«
»Ja, einen ziemlich heftigen sogar. Michael hat danach die Wohnung verlassen und ist seitdem unauffindbar.«
Daniel sah auf die Uhr. »Bis um vier ist der Kleine in der Tagesklinik gut aufgehoben. Ich bin mir sicher, dass wir seinen Onkel schnell finden werden. Ich habe da auch schon eine Idee.«
»Ach ja?«, fragte Fee verwundert.
Daniel lächelte, als er ihre ungläubige Miene sah. »Wenn ein Mann nach einem Streit seine Frau verlässt, wo geht er dann hin? Zu einem guten Freund natürlich.«
»Danny!«
*
Michael saß in Dannys Küche und starrte missmutig aus dem Fenster. Mittlerweile wusste er, wie dumm und kindisch es war, einfach aus der Wohnung zu stürzen, ohne mit Vicky vernünftig geredet zu haben. Ihm fiel ein, dass sie ihm das oft vorgeworfen hatte. Er sei immer davongelaufen, wenn es für ihn schwierig wurde. Es war nicht das erste Mal, dass er darüber nachdachte, ob sie damit womöglich recht hatte. Er hatte stets gedacht, dass ihre Trennung die Konsequenz aus den vielen Streitereien gewesen sei. Aber in Wirklichkeit hatten sie nie richtig gestritten. Sobald es anfing, ungemütlich zu werden, war er aus dem Haus gelaufen. Er hatte ihnen jedes Mal die Gelegenheit genommen, sich auszusprechen, ihre Probleme in den Griff zu bekommen und sich zu versöhnen. So wie gestern.
Michael trank aus seiner Kaffeetasse und verzog angewidert das Gesicht. Der Kaffee war eiskalt und schmeckte unangenehm bitter. Wie lange saß er hier eigentlich schon? Nach einem Blick auf seine Uhr stellte Michael erschrocken fest, dass Danny schon vor Stunden in seine Praxis gegangen war. Hatte er etwa den ganzen Vormittag damit verbracht, hier herumzusitzen und in seinem Selbstmitleid zu baden? Es wurde Zeit, dass er etwas unternahm. Er musste mit Vicky sprechen und sich anhören, was sie zu sagen hatte. Vielleicht war alles nur ein Missverständnis, und er hatte ihr Unrecht getan. An diese Hoffnung klammerte er sich. Er wollte, dass es so war. Dann würden sie sich versöhnen und hinterher über ihren dummen, sinnlosen Streit nur lachen. Und selbst wenn … Michael musste erst tief Luft holen, bevor er diesen Gedanken zulassen konnte. Und selbst wenn das, was er aus diesem Telefonat herausgehört hatte, wahr sein sollte, würde er damit klarkommen. Sie würden eine Lösung finden, denn dass sie sich liebten, daran zweifelte er schon lange nicht mehr.
Er kippte den kalten Kaffee weg und stellte die Tasse in den Geschirrspüler. Hinter ihm öffnete sich die Küchentür, und Danny kam herein. Sofort wusste Michael, dass etwas geschehen sein musste. Noch nie hatte er seinen Freund so ernst erlebt.
»Was ist los?«, fragte er in panischer Angst, noch bevor Danny etwas sagen konnte. »Ist etwas mit Vicky? Geht es Henry gut?«
Dass Danny noch ernster wurde und mit seiner Antwort zögerte, befeuerte seine Ängste. »Verdammt, Danny, rede endlich mit mir!«
»Henry geht es gut. Du musst dir um ihn keine Sorgen machen.«
»Vicky …«, stieß Michael entsetzt hervor. Sein Puls begann zu rasen und seine Beine gaben nach. Um ihn drehte sich alles. Nancys Herztod! Sollte Vicky etwa … Die Vorstellung, dass er Vicky nie wiedersehen würde, brachte ihn fast um. Nur unterschwellig bekam er mit, dass Danny ihn schnell auf einen Stuhl drückte.
»Bitte reg dich nicht so auf, Micha. Noch weiß niemand, wie schlimm es um sie steht. Sie ist im Büro meiner Mutter bewusstlos geworden und wird nun behandelt. Mein Vater konnte mir noch nicht mehr dazu sagen.«
Michael sprang auf. »Ich muss zu ihr.«
»Ich weiß. Deshalb bin ich auch hergekommen. Ich werde dich in die Behnisch-Klinik fahren. In deinem Zustand wäre es keine gute Idee, wenn du dich ans Steuer setzen würdest.«
Als sie gemeinsam zum Wagen liefen, versuchte Danny noch einmal, seine Mutter zu erreichen. Von seinem Vater wusste er, dass sie sich um Vicky gekümmert hatte. Wahrscheinlich könnte sie ihm etwas über Vickys Zustand verraten. Doch sie nahm nicht ab. Er startete das Auto und fuhr zügig los. Je schneller sie in der Behnisch-Klinik ankamen, umso eher hätte sein Freund Gewissheit.
»Ich hätte mich mehr um sie kümmern müssen«, sagte Michael unglücklich neben ihm auf dem Beifahrersitz. »Als sie mir von Nancys Herzleiden erzählt hat, habe ich sie noch nicht mal gefragt, ob bei ihr denn alles in Ordnung ist. Ich habe es einfach verdrängt.« Er lachte bitter auf. »So wie ich es mit allen Dingen mache, die mir unangenehm sind.«
»Bitte hör auf, dich mit Selbstvorwürfen zu zerfleischen. Noch wissen wir doch gar nicht, was los ist. Als Arzt weißt du doch am besten, wie sinnlos es ist, sich wilden Spekulationen hinzugeben.«
»Ja, aber ich weiß auch, dass ich als Arzt und als Ehemann versagt habe. Dieser blöde Streit gestern! Ich habe doch gesehen, wie sehr er sie aufgeregt hat. Und trotzdem habe ich sie alleingelassen und habe dann auch noch mein Telefon ausgeschaltet, damit sie mich nicht erreichen kann. Ich bin ein eiskalter, gefühlloser Mistkerl. Ich verdiene diese Frau nicht!«
Danny warf seinem Freund einen Seitenblick zu, schwieg aber. Es brachte nichts, ihm die Gewissensbisse, mit denen er sich jetzt quälte, ausreden zu wollen. Was er auch sagen mochte, sein Freund würde es ihm nicht glauben. Er würde sich nicht von ihm überzeugen lassen, dass er ein herzensguter Mensch war, der auch mal einen Fehler machen darf.
Der Internist Dr. Alexander Schön sah sich nochmals alle Befunde seiner neuen Patientin an. »Bis auf diese eine kleine Unregelmäßigkeit konnten wir nichts feststellen«, sagte er schmunzelnd zu Fee. »Es spricht also nichts dagegen, sie zu entlassen. Möchten Sie ihr das sagen, oder soll ich ihr die frohe Kunde bringen?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich das gern übernehmen«, sagte Fee schnell. »Ich habe sie in den letzten Wochen gut kennengelernt und bin ein wenig vertraut mit ihr.«
»Dann wäre es wirklich am besten, wenn Sie das übernehmen und ich mich dabei zurückhalte. Sie wissen ja, dass das nicht gerade mein Spezialgebiet ist.«
»Meins eigentlich auch nicht«, erwiderte Fee belustigt. »Zumindest nicht zu diesem frühen Zeitpunkt.«
»Aber immerhin sind Sie eine Frau und Mutter und wissen, wovon Sie sprechen. Ich wäre da völlig hilflos.«
Fee lachte. »Sie übertreiben, Herr Kollege.« Als Fee aus dem Dienstzimmer gehen wollte, fiel ihr noch etwas ein: »Eins noch, Herr Schön. Ich denke, es wäre besser, wenn wir die … die Diagnose noch unter Verschluss halten, damit sie hier nicht die Runde machen kann. Immerhin geht es um die Ehefrau eines Kollegen. Es wäre nicht so gut, wenn er davon durch den Kliniktratsch erfahren würde.«
»Kein Problem, Frau Kollegin. Darum kümmere ich mich.«
»Vielen Dank.« Fee ging über den Flur zu dem kleinen Einzelzimmer, in dem Victoria Böhm untergebracht war. Die Neuigkeit, die sie nun zu überbringen hatte, würde die gesamte Welt der jungen Frau auf den Kopf stellen. Und wohl nicht nur ihre.
»Sie haben schlechte Nachrichten, nicht wahr?«, rief Vicky aus, als Fee ins Zimmer kam. »Ich sehe es Ihnen an. Es sieht nicht gut für mich aus. Habe ich den gleichen Herzfehler wie Nancy? O mein Gott, was soll dann nur aus Henry werden und aus …«
»Nein, Vicky!«, stoppte Fee ihre Patientin schnell. »Ihr Herz ist in Ordnung! Sie sind völlig gesund!«
»Wirklich?«, fragte Vicky voller Zweifel. »Aber warum bin ich dann einfach umgekippt so wie …« Vicky schniefte leise, als sie weitersprach: »So wie Nancy. Bei ihr war das auch so gewesen. Sie war nicht krank, ihr ging es blendend. Und dann – von einer Sekunde auf die andere war alles vorbei.«
Vicky begann zu weinen und fand sich sofort in den Armen der Ärztin wieder. Schluchzend lehnte sie den Kopf an Fees Schulter. »Es tut mir leid, ich will mich nicht so gehenlassen, aber irgendwie … Ich weiß auch nicht. Die letzten Monate waren die härtesten meines Lebens gewesen. Es sind so viele schlimme Sachen passiert. Erst hat mich Michael verlassen, kurz darauf stirbt Nancy, und meine Mutter bekommt einen schweren Schlaganfall. Ich muss mich um sie kümmern und um Henry, der mit dem Tod seiner Mutter nicht zurechtkommt. Und als ob das noch nicht reichen würde, spielt auch noch das Jugendamt verrückt und will mir Henry wegnehmen. Ich kann jetzt einfach nicht mehr.«
»Das müssen Sie auch nicht, Vicky«, erwiderte Fee weich. »Lassen Sie einfach los! Niemand verlangt von Ihnen, immer stark zu sein. Wir haben alle unseren schwachen Moment, in dem wir uns dem großen Druck beugen müssen. Ihrer ist jetzt gekommen. Weinen Sie ruhig und reden Sie sich von der Seele, was Sie belastet. Sie werden feststellen, dass es Ihnen hinterher viel besser geht.«
Vicky nickte und schaffte es, sich wieder zu beruhigen. Sie war etwas verlegen, als sie sich aus Fees Umarmung löste und ihre Tränen fortwischte.
»Geht’s denn wieder?«, fragte Fee einfühlsam.
»Ja, im Augenblick jedenfalls. Aber um ehrlich zu sein, ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen soll. Die letzten Wochen hier in München waren wundervoll gewesen. Ich hatte endlich wieder Hoffnung gehabt. Michael war an meiner Seite, wir liebten uns, und ich wusste, dass ich nun alles schaffen könnte. Aber dann, dieser sinnlose Streit gestern. Ich wollte ihm doch alles erklären, aber er hat mir noch nicht mal zugehört.«
»Sie werden noch die Gelegenheit bekommen, sich mit ihm auszusprechen.«
»Sind Sie sicher?«, zweifelte Vicky. »Er hat mich schon einmal verlassen und nicht um unsere Ehe gekämpft. Ich habe Angst, dass unsere Liebe diesmal endgültig zerbrechen könnte.« Und schon wieder musste Vicky weinen. »Tut mir leid, Frau Norden«, schluchzte sie leise. »Ich bin sonst nicht so eine Heulsuse. Das ist völlig untypisch für mich.«
»Schieben Sie es einfach auf Ihre Hormone«, sagte Fee lächelnd.
»Hormone?« Vicky setzte sich aufrechter hin und fragte konsterniert nach: »Was soll denn mit meinen Hormonen nicht stimmen?«
»Sie bekommen ein Baby, Vicky. Wussten Sie das nicht?«
»Nein!« Vicky schlug die Hände vor den Mund. »Aber das ist völlig unmöglich! Das muss ein Irrtum sein!«
»Ihre Blutwerte sagen etwas anderes. Sie wissen ja, dass wir Ihnen Blut abgenommen haben. In der Probe wurde das Schwangerschaftshormon hCG nachgewiesen. Die Beschwerden, die Sie haben, lassen sich auf die Schwangerschaft und den psychischen Stress, dem Sie zurzeit ausgesetzt sind, zurückführen. Mit etwas Ruhe, leichter Kost und ausreichend Schlaf wird es Ihnen schnell besser gehen.«
Vicky starrte die Ärztin immer noch entgeistert an. »Schwanger?«, fragte sie fassungslos. Das war das Einzige, was sie aus dem, was Fee Norden gerade zu ihr gesagt hatte, herausgehört hatte. »Und … und es gibt keinen Irrtum? Bin ich wirklich schwanger?«
»Ja, das sind Sie. Der Befund ist eindeutig.«
Vicky lachte plötzlich laut und sehr glücklich auf. »Ich bekomme ein Baby? Ganz sicher?«
Auch Fee musste nun lachen. Für einen kurzen Augenblick hatte sie die Befürchtung gehabt, dass dieses Kind nicht willkommen sein könnte. Aber vor ihr saß eine glückliche, junge Frau, die sich über dieses Geschenk aus tiefstem Herzen freute.
»Nun, ganz sicher kann man natürlich erst sein, wenn das kleine schlagende Herz beim Ultraschall zu sehen ist. Aber auch so gibt es keinen Zweifel an Ihrer Schwangerschaft. Wissen Sie, wie weit Sie sein könnten?«
»Nein, leider nicht. Mein Zyklus ist immer sehr unregelmäßig gewesen. Alle Ärzte waren bisher sogar der Meinung, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass ich schwanger werden könnte. Michael und ich, wir hatten es jahrelang vergeblich versucht. Und nun?« Vicky lachte wieder. »Ich freue mich riesig, aber ich verstehe es nicht. Ausgerechnet jetzt, da ich nicht mehr damit gerechnet habe, soll es geklappt haben?«
»Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Ich habe in den letzten Jahren viele Frauen kennengelernt, denen es ähnlich ergangen ist. Sie hatten jahrelang auf ihr Wunschkind gewartet. Schließlich hatten sie alle Hoffnungen aufgegeben, und dann passierte das kleine Wunder doch noch. Ich freue mich sehr für Sie, Vicky. Und ich glaube fest daran, dass Sie und Michael wieder zusammenfinden werden. Wenn er erst mal erfährt …«
»Nein!«, unterbrach Vicky die Ärztin schnell. »Er soll es nicht erfahren. Bitte sagen Sie ihm nichts.«
Fee sah die junge Frau verdutzt an.
»Meinen Sie nicht, dass er ein Recht darauf hat, von seinem Kind zu wissen? Oder … oder ist er nicht der Vater?«
»Natürlich ist das Baby von ihm. Für mich hat es nie einen anderen Mann gegeben. Aber ich will nicht, dass er sich nur deswegen mit mir aussöhnt. Das wäre nicht richtig. Ich würde mich wahrscheinlich immer fragen müssen, ob er nur wegen des Kindes zurückgekehrt ist. Ich möchte mir seiner Liebe sicher sein können. Können Sie das verstehen, Frau Norden?«
Fee nickte. »Das kann ich sogar sehr gut verstehen. Wir wollen ja alle um unserer selbst willen geliebt werden. Bei viel zu vielen Ehen bilden die gemeinsamen Kinder das einzige Fundament. Ein sehr wackliges, wenn Sie mich fragen. Aber zum Glück weiß ich, dass das bei Ihnen und Ihrem Mann nicht der Fall ist. Er liebt sie. Ich habe gesehen, wie er in den Wochen, in denen Sie bei ihm waren, aufgeblüht ist.«
»Genau wie ich«, sagte Vicky leise.
»Sie werden das hinbekommen. Reden Sie mit ihm, wenn er kommt.«
»Und wenn er nun nicht kommt? Vielleicht will er mich ja gar nicht sehen?« Vicky ärgerte sich, dass ihr schon wieder die Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte nur hoffen, dass das kein Dauerzustand werden würde. Doch im Moment konnte sie nichts dagegen tun. Diesem Gefühlsansturm war sie hilflos ausgeliefert. Wenn wenigstens Michael bei ihr wäre. »Niemand weiß, wo er ist. Er hat sich nicht bei mir gemeldet, und ich erreiche ihn nicht.«
»Wir werden ihn finden. Es gibt übrigens schon eine ganz heiße Spur. Wahrscheinlich konnte ihn mein Mann inzwischen finden. Und sobald Michael erfährt, dass Sie in der Klinik liegen, wird er herkommen.«
*
Dass Fee mit ihrer Vermutung richtig lag, sah sie, als sich die Fahrstuhltüren vor ihr öffneten und Michael Böhm herausgestürzt kam.
»Langsam, Herr Böhm!«, empfing sie ihn lächelnd. »Es besteht kein Grund zur Eile. Ihre Frau wird Ihnen nicht davonlaufen.«
»Wo ist sie? Wie geht es ihr? Was konnten Sie feststellen?«, sprudelten die Fragen, die ihn die ganze Zeit über gequält hatten, aus ihm heraus.
»Ihr geht es wieder besser, und es besteht kein Grund zur Sorge.«
»Aber ihr Herz …«
»Dem Herzen Ihrer Frau geht es ebenfalls gut. Aber mehr darf ich Ihnen nicht sagen. Sie wissen ja am besten, dass mir die ärztliche Schweigepflicht das verbietet.«
»Aber ich bin der Ehemann, Frau Norden!«, erwiderte Michael leicht vorwurfsvoll.
Fee sah ihn warmherzig an und sagte mit einem sanften Lächeln: »Ja, das sind Sie, Herr Böhm. Deswegen ist es gut, dass Sie jetzt hier sind. Gehen Sie zu Ihrer Frau, und reden Sie mit ihr. Sie wird Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen. Es spricht übrigens nichts dagegen, sie zu entlassen. Jedoch nur, wenn sie nicht den ganzen Tag allein verbringen muss. Sie braucht unbedingt Gesellschaft, und dabei denke ich nicht an Henry.«
»Das weiß ich, Frau Norden. Ich bleibe bei Vicky. In den nächsten Tagen habe ich sowieso frei. Bitte sagen Sie mir, was ich tun kann, damit es ihr wieder besser geht.«
»Reden Sie mit ihr! Seien Sie für sie da! Mehr braucht es nicht.«
Als Michael zu Vicky ins Zimmer kam, schlief sie. Leise, um sie nicht zu wecken, nahm er sich einen Besucherstuhl und setzte sich an ihr Bett. Sie sah unnatürlich bleich aus, so, als besäße sie nicht genügend roten Blutfarbstoff. Ob sie an Eisenmangel litt? Michael nahm sich vor, den Stationsarzt nach Vickys Blutbild zu fragen. Von Fee Norden würde er nichts herausbekommen, aber vielleicht war Alexander Schön etwas gesprächiger. Doch das verschob er auf später. Im Moment wollte er nirgends lieber sein als bei Vicky.
Obwohl sich Michael nicht rührte, schlug Vicky nach einigen Minuten die Augen auf.
»Micha … du bist hier …«
»Natürlich, mein Liebling.« Michael stand von seinem Stuhl auf und setzte sich auf die Bettkante. Er griff nach ihrer Hand und atmete auf, als sie das zuließ. »Ich war bei Danny. Sein Vater hat ihn angerufen und gesagt, dass du aufgenommen wurdest. Es tut mir so unendlich leid. Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen. Du bist doch das Wichtigste in meinem Leben. Ich liebe dich so sehr, Vicky.«
»Und trotzdem bist du gestern einfach gegangen.«
»Ja, weil ich ein Idiot bin. Ich habe mich kindisch und dumm benommen. Und das nicht zum ersten Mal. Mit meinem Verhalten hätte ich schon einmal fast unsere Ehe zerstört.«
Als Vicky ihn bei diesem Eingeständnis erstaunt ansah, fuhr Michael mit reuevoller Miene fort: »Ich hatte die ganze Nacht Zeit, um über uns nachzudenken. Dabei schnitt ich nicht besonders gut ab. Ich habe sehr vieles falsch gemacht, und es tut mir entsetzlich leid. Wenn ich es irgendwie ungeschehen machen könnte, würde ich es tun, aber das geht leider nicht. Doch ich kann mich ändern und werde von nun an immer für dich da zu sein. Das verspreche ich dir. Ich liebe dich doch so sehr. Und wenn du in San Francisco leben willst, werde ich dich begleiten. Ich möchte nicht einen Tag mehr von dir getrennt sein.«
Vicky strahlte ihn glücklich an, und Michael verstand das als Aufforderung, sie endlich zu küssen. Doch schon nach kurzer Zeit löste Michael seine Lippen von ihrem Mund. Liebevoll strich er ihr über die Wange.
»Ich hatte große Angst um dich. Sagst du mir jetzt endlich, was mit dir los ist? Ich habe vorhin Frau Norden getroffen, doch sie wollte mir nichts verraten.«
»Ich hatte sie darum gebeten. Ich wollte es dir selbst sagen, aber erst nach unserer Versöhnung. Ich wollte mir deiner Liebe wirklich sicher sein.«
Bei diesen Worten erstarrte Michael. Also war es doch etwas Ernstes. Auf alles gefasst, wartete er darauf, dass sie endlich weitersprach. Als sie das nicht tat, sondern ihn nur selig anlächelte, wurde er noch nervöser.
»Wie schlimm es auch ist, Vicky, mein Liebling, wir werden das zusammen irgendwie schaffen«, versuchte er, sie und sich selbst zu beruhigen.
Vickys Lächeln vertiefte sich. »Davon bin ich fest überzeugt, mein Schatz. Bei dieser Angelegenheit sind wir nämlich beide gefragt.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, küsste ihn und sagte dann überglücklich: »Wir bekommen endlich unser Baby!«
Schon eine Stunde später verließen beide die Behnisch-Klink. Michael brachte seine Frau nach Hause und bestand darauf, dass sie sich hinlegte.
»Du hast in der letzten Nacht kaum geschlafen, Liebling. Ich weiß, dass das meine Schuld ist, und deswegen bin ich auch dafür verantwortlich, dass du den fehlenden Schlaf jetzt nachholst. Du brauchst ihn.« Sanft strich er über ihren flachen Bauch. »Und unser Baby braucht ihn auch.«
»Du hast mich überzeugt«, sagte Vicky gähnend. »Aber leg dich bitte für ein paar Minuten zu mir. Ich muss dir doch noch das Telefonat mit meiner Mutter erklären.«
»Das kannst du später machen, wenn du ausgeschlafen hast.«
Vicky schüttelte den Kopf, wartete, bis Michael neben ihr lag, und schmiegte sich dann an ihn. »Ich möchte jetzt darüber reden. Du sollst wissen, was passiert ist und wie es zu diesem unglückseligen Streit kam.« Sie seufzte. »Der gestrige Tag war einfach nur schrecklich. Er begann mit einer Mail vom Jugendamt.«
»Das Amt hat sich endlich gemeldet?«
»Ja, ihnen gefällt nicht, dass ich mit Henry das Land verlassen habe. Außerdem haben sie durchklingen lassen, dass sie nicht davon überzeugt sind, dass wir uns versöhnt haben und wieder zusammen sind. Jedenfalls bestehen Sie darauf, dass Henry zurückkehrt. Ein Gericht soll darüber entscheiden, was aus Henry wird. Ich habe gleich zurückgeschrieben und um Aufschub gebeten, damit Henry hier noch seine Therapie beenden kann. Ich wollte nicht untätig rumsitzen und auf die nächste Mail des Amtes warten. Deshalb habe ich im Anschluss mit Frau Norden darüber gesprochen. Sie wird sich mit dem Jugendamt in Verbindung setzen und bestätigen, dass Henrys weitere Therapie in München fortgesetzt werden muss. Sie hat mir außerdem die Telefonnummer eines Anwalts gegeben, der auf internationale Sorgerechtsfälle spezialisiert ist. Ich habe ihn sofort angerufen und alles mit ihm durchgesprochen. Er übernimmt den Fall und wird sich in meinem Namen mit den Behörden auseinandersetzen. Ich hoffe, dass wir nun endlich vorankommen werden.«
»Es tut mir leid, womit du dich rumplagen musstest, mein Liebling. Ich wünschte, ich wäre für dich dagewesen und hätte dir beigestanden.«
»Du hast den ganzen Tag gearbeitet, Micha. Die Aussicht, dass ich mit dir am Abend über alles reden kann und du mir Mut machen wirst, hat mir genügend Kraft gegeben.«
»Ja, aber als ich dann endlich kam, war ich unausstehlich. Nachdem ich das Gespräch mit deiner Mutter mitbekommen hatte, war die Angst, du könntest einfach so aus meinem Leben verschwindest, so groß, dass bei mir eine Sicherung durchgebrannt ist.«
»Ich hatte nie vorgehabt zu verschwinden. Du hast dir hier ein neues Leben aufgebaut, und ich würde nie von dir verlangen, das alles hinzuwerfen. Diesmal bin ich an der Reihe, in der Fremde neu anzufangen. Mit der Hilfe des Anwalts werden wir es schaffen, dass das Jugendamt uns bald in Ruhe lässt.«
»Du meinst es tatsächlich ernst. Aber was ist mit deiner Mutter? Sie denkt, dass du in den nächsten Tagen zurückkommen wirst.«
Aus Vickys Gesicht verschwand die Fröhlichkeit. »Ja, das denkt sie, weil ich es ihr jeden Tag mindestens einmal erzähle. Die bittere Wahrheit ist, dass ich sie jedes Mal anlüge. Immer wieder, wenn wir telefonieren, sage ich ihr, dass ich in ein oder zwei Tagen nach Hause kommen werde und dass die Taschen bereits gepackt sind. Schon nach kurzer Zeit hat sie alles vergessen. Wenn ich es ihr am nächsten Tag erneut erzähle, ist es für sie so, als würde sie es zum ersten Mal hören. Sie hat keine Ahnung, dass ich schon seit sechs Wochen hier bin und dass wir immer wieder darüber reden, dass ich bald zurückkomme.«
»Ist der Schlaganfall dafür verantwortlich?«
»Ja, sie hat nicht nur körperliche Ausfälle davongetragen. Ihr Wesen hat sich stark verändert, und sie hat große Probleme mit dem Gedächtnis. Es muss ständig jemand bei ihr sein, der auf sie aufpasst. Mir gefällt es nicht, dass ich sie immer wieder anlüge, aber sie ist dann ruhiger, und es macht sie glücklich, wenn auch nur für kurze Zeit. Diese glücklichen Momente möchte ich ihr nicht nehmen. Sie hat nicht mehr viele davon.«
Michael zog seine Frau enger in seine Arme. »Du machst das wunderbar, Vicky. Ich verspreche dir, dass es von nun an leichter für dich sein wird. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde dir bei allem, was ansteht, helfen. Ich werde für dich und Henry da sein, für deine Mutter und natürlich auch für unser Baby.«
Er küsste zärtlich ihren Haarschopf. Als sie ihm nicht antwortete und gleichmäßige Atemgeräusche zu hören waren, wusste er, dass sie endlich eingeschlafen war. Obwohl auch er in der letzten Nacht kein Auge zubekommen hatte, konnte er jetzt nicht schlafen. Zu viel ging ihm durch den Kopf. Sein Versprechen, für sie da zu sein, hatte er ernst gemeint. Dafür war er zu jedem Opfer bereit. Wichtig war nur, dass er mit seiner kleinen Familie zusammen sein konnte.
*
Vicky schlief noch, als Michael die Wohnung verließ, um in die Behnisch-Klinik zu fahren. Henry musste aus der Tagesklinik abgeholt werden, und es gab noch ein anderes Problem, um das er sich zu kümmern hatte. Für Vicky lag eine Nachricht auf dem Nachtschrank, damit sie sich keine Sorgen machte, falls sie vor seiner Rückkehr aufwachen sollte.
»Guten Tag, Frau Baumann«, begrüßte er die Assistentin des Chefarztes, als er zu ihr ins Vorzimmer kam.
»Dr. Böhm!«, rief Katja erfreut aus. »Was machen Sie denn in Ihrem Urlaub hier?«
»Ich will nachher Henry abholen. Und ich wollte Sie um einen Termin beim Chef bitten.« Er zeigte zur offenen Tür, die in das Büro von Daniel Norden führte. »Es wäre schön, wenn er in den nächsten Tagen etwas Zeit für mich hätte.«
»Die habe ich jetzt schon, Herr Böhm«, rief Daniel aus seinem Zimmer. Sekunden später tauchte er auf. »Falls es Ihnen jetzt passt, können wir gern reden. Kommen Sie rein!«
Michael war sichtlich nervös, als er auf dem Besucherstuhl, der vor Daniels Schreibtisch stand, Platz nahm. Er hatte eigentlich gehofft, dass ihm etwas mehr Zeit bliebe, um sich auf dieses Gespräch vorzubereiten.
»Meinen herzlichsten Glückwunsch!«, begann Daniel. »Meine Frau hat mir erzählt, dass Sie bald Vater werden. Ich hoffe, Vicky geht es inzwischen besser.«
»Ja, vielen Dank, Dr. Norden. Sie schläft jetzt. Ich …«
Michael brach unbeholfen ab. Er hatte nicht gedacht, dass es ihm so schwerfallen würde, das Unvermeidliche auszusprechen.
Natürlich sah Daniel, dass es keine guten Nachrichten waren, die seinen fähigsten Neurologen zu ihm führten. Zumindest waren es keine guten für die Behnisch-Klinik. In dem Moment, als er von Victoria Böhms Auftauchen in München erfahren hatte, war er sich ziemlich sicher gewesen, dass der junge Arzt für dieses Gespräch zu ihm kommen würde.
»Sie möchten die Behnisch-Klinik verlassen. Habe ich recht?«
»Ich möchte es nicht, Dr. Norden, aber ich muss.«
»Ihre Frau will also zurück nach San Francisco.«
»So ist es diesmal nicht. Sie hat mir versichert, dass sie hierbleiben würde, aber mir ist dieses Opfer einfach zu groß. Ich kann es nicht annehmen. Ihre Mutter hatte einen Schlaganfall und braucht sie. Und dann gibt es auch noch unseren Neffen. Das Jugendamt besteht darauf, dass er zurückkommt. Wegen der Therapie, die Henry hier gerade macht, können wir die Abreise wahrscheinlich noch hinauszögern. Aber dann? Weder für Henry noch für Vicky wäre es gut, wenn sich ein endloser Kampf mit den amerikanischen Behörden anbahnen würde. Die einfachste und beste Lösung für alle wäre es deshalb, wenn wir nach Henrys Therapie zurückkehren und dort unser gemeinsames Leben weiterführen.«
»Wäre das auch die beste Lösung für Sie?«
»Ja«, erwiderte Michael lächelnd und mit fester Stimme. »Natürlich ist auch Bedauern dabei, wenn ich die Behnisch-Klinik und München verlasse. Sie wissen, wie gut es mir hier gefällt. Ich werde Ihnen für ewig dankbar sein, dass Sie mir die Chance gaben, hier zu arbeiten. Aber mein Platz ist da, wo meine Familie ist. Und für meine Familie ist München nun mal nicht der richtige Ort. Ich möchte, dass Vicky und Henry glücklich sind.« Michael lachte leise. »Und natürlich auch meine Schwiegermutter.«
»Dann bleibt mir wohl nur noch, Ihnen alles Gute zu wünschen, Herr Böhm. Und sollte es Sie und Ihre Familie irgendwann wieder nach München verschlagen, sind Sie hier immer herzlich willkommen.«
Am Abend berichtete Daniel seiner Frau davon.
»Es ist schön, dass du dich über Michaels Glück aus ganzem Herzen freuen kannst, obwohl sein Weggang eine große Lücke hinterlassen wird«, sagte sie im Anschluss anerkennend.
»Vielleicht hat’s geholfen, dass mich kurz zuvor Erik Berger besucht hat. Ihm geht es blendend. Die Reha ist beendet, es laufen nur noch ambulante Behandlungen, die aber völlig hirnrissig und der reinste Schwachsinn sind.«
Fee lachte: »Seine Worte, stimmt’s?«
»Wessen sonst?«, fragte Daniel grinsend zurück. »Er ist der festen Überzeugung, fit genug zu sein, um die Notaufnahme zu übernehmen.«
»So schwer verletzt, wie er war, kann ich mir das kaum vorstellen. Glaubst du ihm etwa?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Ihm nicht, aber dem Entlassungsbericht der Rehaklinik und dem Attest seines Arztes. Und beide Seiten bescheinigen einhellig, dass ein stundenweiser Einstieg vertretbar sei. Ich muss gestehen, mir kommt das sehr gelegen. Besonders nach dem Gespräch mit Michael Böhm. Erst Franz Niedermayer, der sich nur noch der Lehre widmen will, und nun auch noch sein designierter Nachfolger, den es zurück in die Staaten zieht. Ich muss in nächster Zukunft gleich zwei Neurologenstellen besetzen. Das dürfte nicht einfach werden.«
»Nein, sicher nicht.« Fee gab ihm einen Kuss. »Für die Klinik mag das wirklich schlimm sein, aber wenn ich an die beiden jungen Leute denke, die endlich wieder zueinander gefunden habe, kommt bei mir einfach keine Trauerstimmung auf.«
»Nein, bei mir auch nicht«, stimmte Daniel ihr lächelnd zu. »Im Großen und Ganzen ist die Geschichte sogar fantastisch ausgegangen. Nicht nur, dass eine Ehe gerettet wurde, auch Henry geht es wieder gut, und ein Baby wird die Familie endlich komplett machen. Kann es etwas Schöneres geben?«
Dafür bekam Daniel gleich noch einen Kuss. »Ich habe doch immer gewusst, dass tief in dir drin ein großer Romantiker steckt.«
Daniel erwiderte ihren Kuss innig. Dann raunte er ihr zu: »Kein Wunder, bei dieser Frau …«