Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 15

Оглавление

Der April hatte erst begonnen und brachte bereits das sprichwörtlich wetterwendische Wechselspiel am Himmel über München. Eben noch hatten sich die charakteristischen Türme der Liebfrauenkirche hinter dicken, grauen Wolkenpaketen versteckt, aus denen ein feiner, durchdringender Regen geströmt war. Dann hatte eine frische Brise das Grau einfach beiseite geschoben, gleichsam den lichtblauen Frühlingshimmel sauber poliert, als liebliche Bühne für den nun wieder strahlenden Sonnenschein.

Dr. Daniel Norden warf einen langen Blick aus dem Fenster, entdeckte im frischen Grün der Beete hinter dem Haus Regentropfen, Diamanten gleich, die dafür sorgten, dass die zarten Blüten von Narzissen und Tulpen noch schöner schimmerten. Durch das halb geöffnete Fenster strömte frische, klare Luft herein, in der ein süßer, verheißungsvoller Duft lag. Der Frühling ließ sein blaues Band einmal mehr durch die Lüfte flattern…

»Kaffee ist fertig.« Dr. Felicitas Norden, genannt Fee, stellte die Kanne auf den schön gedeckten Frühstückstisch und lächelte ihrem Mann zu. »Kein Hunger?«

»Doch, sicher.« Er schloss den Fensterflügel und gesellte sich zu ihr. Obwohl die Nordens beruflich sehr eingespannt waren, er als Leiter der Behnisch-Klinik, sie als Chefin der Pädiatrie, nahmen sie sich doch stets Zeit für die gemeinsamen Mahlzeiten. Die knappe Freizeit sinnvoll zu nutzen, sodass auch ihr Privatleben nicht zu kurz kam, war wohl eines der Geheimnisse ihrer harmonischen Ehe. Und auch der Grund, dass sie nach vielen Jahren und mit fünf bereits erwachsenen Kindern noch immer nicht nur ein Ehepaar, sondern auch ein Liebespaar waren.

»Der Kollege Sommer macht sich. Es war eine gute Entscheidung, ihn einzustellen«, merkte der attraktive Mediziner in den besten Jahren nun an. »Er kann wirklich etwas auf seinem Gebiet.«

Fee musterte ihren Mann mit einem nachdenklichen Blick ihrer erstaunlich blauen Augen. »Er ist noch ziemlich jung für einen Chirurgen, nicht wahr?«

»Sicher.« Daniel schmunzelte. »Ich kenne deine Vorbehalte gegen Überflieger. Aber Matthias Sommer ist kein Streber. Er ist mit Leib und Seele Chirurg. Der große Eingriff gestern am offenen Herzen, das war eine erstaunliche Leistung. Ich habe mit echter Bewunderung zugesehen.«

»Hört, hört«, kam es da von der Tür her, durch die Désirée Norden das Esszimmer betrat. Das hübsche neunzehnjährige Mädchen gähnte herzhaft und ließ sich dann mit einem Seufzer auf einen Stuhl fallen. Désis Blässe und die Tatsache, dass ihre Augen nur mehr Schlitze zu sein schienen, sprachen für einen deutlichen Schlafmangel. »Auf welchem Kanal lief denn die große OP?«

»Vielleicht solltest du noch eine Runde an deiner Matraze lauschen, Liebchen«, riet Daniel Norden seiner Tochter nachsichtig. »Du siehst sehr mitgenommen aus. Party?«

»Ja, in meinem Zimmer, bis halb drei.« Sie gähnte noch einmal und stellte dann klar: »Aber nicht das, was du denkst, Papilein. Ich hatte sozusagen einen kreativen Schub. Habe zehn Entwürfe fertig gestellt. Unglaublich, aber wahr.«

Dési spielte mit dem Gedanken, Modedesign zu studieren.

»Muss das unbedingt nachts sein?«, wunderte er sich.

»Es muss sein, wenn es sein muss. So was nennt man Kreativität«, erwiderte sie seufzend und trank einen großen Schluck schwarzen Kaffee. »Irgendwann bin ich mit dem Stift in der Hand eingeschlafen. Um halb sechs hat der Professor mich dann ziemlich unsanft geweckt.«

»Wie ist denn das zu verstehen?«, wunderte Fee sich. »Konnte Janni etwa nicht mehr schlafen?«

»Ich nehme es an. Er hat seine Zimmertür zugeknallt und ist dann los marschiert, ausstaffiert wie ein Forscher oder so was.« Dési fielen schon wieder die Augen zu.

»Wohin wollte er denn in aller Frühe?«, forschte Fee nach.

Doch ihre Tochter hob nur die Schultern, legte den Kopf auf die Arme und war bereits wieder auf dem direkten Weg in Morpheus’ Reich. Fee warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.

»Soll ich sie in ihr Bett tragen?«, scherzte Daniel.

In diesem Moment wurde die Haustür aufgeschlossen und Désis Zwillingsbruder Janni erschien. Tatsächlich bot er an diesem Morgen einen eher ungewöhnlichen Anblick. Zu seiner überaus wetterfesten Kleidung hatte er sich ein Fernglas und eine Kamera um den Hals gehängt. Noch auffallender waren allerdings der entrückte Gesichtsausdruck und das milde Lächeln. Beides fiel Fees mütterlich geschultem Blick natürlich sofort auf.

Janni wollte gleich in seinem Zimmer verschwinden, doch Fee rief ihn und bot an, mit ihnen zusammen zu frühstücken.

»Danke, ich habe gar keinen Hunger, vielleicht später«, murmelte er aber nur zerstreut und war gleich darauf über die Treppe im oberen Stockwerk verschwunden.

»Siehst du, was ich sehe?«, fragte Fee ihren Mann.

»Kommt darauf an. Was meinst du, Liebes?«

»Unser Sohn ist verliebt, Dan. Man sieht es ihm an der Nasenspitze an. Es ist, als hätte er ein großes Schild umhängen, auf dem ein dickes, rotes Herz prangt.«

»Ziemlich plastisch. Und woraus schließt du das?«

Sie verdrehte die Augen. »Männer! Keinen Sinn für die Dinge des Lebens. Es war doch nicht zu übersehen.«

Dési hob den Kopf und gähnte. »Ich sollte mich noch mal aufs Ohr hauen, tut mir leid, dann bis später…«

»Warte mal einen Moment«, bat ihr Vater. »Wieso geht dein Bruder in aller Herrgottsfrühe mit Kamera und Fernglas aus dem Haus? Will er vielleicht neuerdings Wildbiologe werden?«

Das Mädchen lachte leise. »Der mit all seinen Allergien? Ein Wespenstich und das Studienjahr ist gelaufen.« Sie streckte sich. »Nein, er ist verliebt. So ein Mädchen, das morgens in aller Frühe Vögel im Englischen Garten beobachtet. Ich glaube, sie studiert wirklich Biologie.«

»Aber wie … ich meine, wo ist Janni ihr über den Weg gelaufen?«, wunderte Fee sich.

Dési erhob sich und zuckte die Schultern. »Er kam von einer Party bei einem Kumpel und ist ihr im Park begegnet.«

»Und hat dieses Mädchen auch einen Namen?«, fragte Daniel.

»Sie heißt Sissi Berger, ist hübsch und nett. Leider eine eingefleischte Frühaufsteherin, also nicht ganz passend für meinen Freundeskreis.«

»Und Janni steht nur für sie so früh auf?«, hakte Fee nach, die ihre Zwillinge als ausgesprochene Langschläfer kannte.

»Das tut er.« Dési grinste. »Er ist total verschossen in sie.«

Daniel musste schmunzeln, seine Frau hingegen schien das gar nicht lustig zu finden. Auf der Fahrt zur Behnisch-Klinik gab Fee sich auffallend wortkarg. Und als ihr Mann den Wagen auf dem reservierten Platz hinter dem Klinik-Gebäude abstellte, seufzte sie: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Irgendwann musste das ja passieren. Es ist der Lauf der Welt«, versuchte er, sie zu beruhigen.

»Was meinst du?«, wunderte Fee sich.

»Dass der Junge sich verliebt hat …«

»Ach, Dan, halte mich doch nicht für naiv. Mir geht es um etwas ganz anderes. Wenn Janni diesem Mädchen nachläuft, das wir nicht mal kennen, wenn er seine Gewohnheiten für sie ändert, dann sollten wir vielleicht …«

»Dann sollten wir uns ganz bestimmt heraushalten«, mahnte er sie mit verständnisvoller Nachsicht. »Janni ist erwachsen, er wird sich mit Recht jegliche Einmischung in sein Intimleben verbitten.«

»Ich möchte doch nur sicher gehen, dass er nicht enttäuscht wird, er ist sehr sensibel.«

»Fee, mein Herz, du bist eine wunderbare Mutter. Du hast Janni die ersten Schritte beigebracht, warst immer für ihn da, hast ihn getröstet, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte oder wenn die Gedichte von Rilke ihn zur Verzweiflung gebracht haben. Du hast ihn geführt und ihm die lange Leine gelassen. Du hast alles richtig gemacht als Mutter. Jetzt ist es an der Zeit, die Leine los zu lassen, damit dein »Kind« seine eigenen Erfahrungen machen kann. Und dazu gehört nun auch mal ein bisschen Liebeskummer.«

»Ich will nicht, dass er leidet.«

Daniel lächelte angedeutet und ließ seiner Frau den Vortritt in den Lift. »Momentan ist er verliebt. Wenn er Trost brauchen sollte, wird er dir das bestimmt sagen. Meinst du nicht?«

Der Lift hielt auf der Pädiatrie, Fee seufzte. »Du hast vermutlich recht«, gab sie widerwillig zu.

»Habe ich«, versicherte er ihr entspannt. »Bis heute Mittag, mein Schatz.« Er küsste sie zart und ­lächelte ihr aufmunternd zu. »Wir sehen uns.«

*

»Wir sind spät dran.« Aische Celik erhob sich vom Frühstückstisch und warf ihrem Verlobten einen mahnenden Blick zu. Matthias hatte mal wieder seine Nase in einer medizinischen Fachzeitschrift vergraben. Die hübsche OP-Schwester räumte rasch das Geschirr zusammen, dann griff sie auch nach der Zeitschrift, denn sie wusste, dass dies die einzige Methode war, um Matthias’ Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der junge Chirurg stutzte kurz, lächelte und zog Aische auf seinen Schoß. Sie verdrehte die Augen, kam aber zu keinem Protest, denn Matthias küsste sie erst einmal ausgiebig.

»Wir müssen zur Arbeit«, mahnte sie ihn, wobei der weiche Glanz in ihren klaren, obsidianfarbenen Augen für sich sprach.

»Wollen wir nicht mal schwänzen?«, schlug ihr Verlobter mit einem viel sagenden Lächeln vor.

»Warum nicht?«, ging sie scheinbar auf seinen Vorschlag ein. Denn sie wusste, dass er viel zu pflichtbewusst war, um es wirklich ernst zu meinen.

»Hm, und was machen wir mit Herrn Balders Gallenblase? Ganz zu schweigen von dem Magenband für Frau …«

»Sie werden eben alle auf deine Kunst verzichten müssen. Ein Kollege wird dich vertreten. Oder hältst du dich etwa für unersetzlich, mein Schatz?«

In seinen tiefblauen Augen blitzte es schelmisch auf. Als er sich vor gut­ einem Jahr in die rassige OP-Schwester mit den seelenvollen Augen verliebt hatte, war es nicht nur Aisches Schönheit gewesen, die sein Herz erobert hatte. Es war vor allem ihr trockener Humor. Und ihre Art, ihn sehr gefühlvoll auf den Arm zu nehmen. Er lachte und küsste sie noch einmal, bevor er sie auf die Füße stellte und zugab: »Ich bilde mir zwar ein, bei dir unersetzlich zu sein, mein Herz, aber in der Klinik ist das tatsächlich niemand. Deshalb möchte ich den Chef gar nicht erst auf Ideen bringen. Also, nichts wie auf zur Arbeit!«

Wenig später hatte das junge Paar die Behnisch-Klinik erreicht. Als Aische aus dem Wagen ihres Verlobten stieg, meldete sich ihr Handy. Es war Leila, ihre jüngere Schwester.

»Geh schon mal vor, ich komme gleich«, bat sie Matthias.

Der nickte und verschwand im Klinikeingang. Er wusste, dass ein Telefonat zwischen den Schwestern durchaus länger dauern konnte. Und dabei ging es nicht um die üblichen Themen wie Liebeskummer oder die neuesten Modetrends.

Aische stammte aus einer Familie, die bereits in zweiter Generation in Deutschland lebte und integriert war. Ihr Vater war Abteilungsleiter auf der Sparkasse, er spielte einmal in der Woche Skat mit seinen Freunden und ging zum Kegeln. Abgesehen von reinen Äußerlichkeiten gingen die Celiks durchaus als waschechte Münchner durch und wurden auch so angesehen. Doch es gab einen Unterschied zwischen dem sozialen Leben und dem Leben innerhalb der eigenen vier Wände. Da zeigte sich dann oft, dass Mehmet Celik eben noch sehr verwurzelt im traditionellen Denken war. Als Aische sich seinerzeit entschlossen hatte, Krankenschwester zu werden und während ihrer Ausbildung im Schwesternheim zu wohnen, hatte sie dieser Schritt eine ganze Menge Diskussionen gekostet. Der Vater hatte sie nicht gehen lassen wollen, obwohl sie bereits volljährig gewesen war. Aische hatte sich durchgesetzt, unterstützt von ihrer Mutter, die einen stillen aber nachhaltigen Einfluss auf ihren Mann ausübte.

Und nun stand Leila vor einem ganz ähnlichen Problem. Aisches Schwester hatte das Abitur in der Tasche und wollte gern Jura studieren. Per se hatte ihr Vater nichts dagegen. Er war im Gegenteil stolz auf seine kluge Tochter.

Aber dass Leila daheim ausziehen, im Studentenwohnheim leben und ganz selbstständig werden wollte, das lehnte er rundweg ab.

Aische, ihre Mutter und auch Matthias Sommer hatten bereits auf Mehmet eingewirkt, jeder auf seine Art. Und da der Familienvater seinen Schwiegersohn in spe respektierte, lehnte er dessen liberale Haltung auch nicht grundsätzlich ab. Doch es kostete ihn eben sehr viel Überwindung, sich aus dem traditionellen Rollenbild zu lösen, das er bei Eltern und Großeltern erlebt und stets für richtig gehalten hatte.

»Leila, wie geht es? Alles in Ordnung?«, fragte Aische.

»Es geht. Ich wollte dich bitten, heute Abend noch mal mit Papa zu reden. Ihr kommt doch zum Abendessen, oder?«

»So ist es abgemacht. War wieder was?«

»Na ja, gestern war eine Freundin von mir da. Stefanie Seegers, ihr Vater ist Anwalt, hat eine eigene Kanzlei. Sie will auch Jura studieren. Wir haben überlegt, ob wir vielleicht zusammen ziehen. Keine Ahnung, wie ich das Papa verklickern soll. Da könnte ich ein bisschen Unterstützung brauchen.«

»Klar, du weißt doch, dass du auf uns zählen kannst«, versicherte ­Aische. »Außerdem ist das eine gute Idee, spart Miete. Damit sammelst du bei Papa bestimmt Pluspunkte.«

Leila lachte. »In dem Fall zählt für ihn eher, dass da zwei Mädels ohne Aufsicht zusammen wohnen. Und das wird ihm ganz bestimmt nicht behagen.«

»Ich nehme an, Stefanie ist ein vernünftiges Mädchen.«

»Und ob. Außerdem hat sie einen festen Freund und ist nicht unbedingt das, was man als Partymaus bezeichnen würde.«

»Na also, wenn das kein Argument ist.«

Die Schwester seufzte. »Du kennst Papa …«

»Wir schaffen das schon. Ich muss jetzt aber zum Dienst. Wir sehen uns heute Abend. Ich werde noch mit Matthias reden, damit er dich ebenfalls unterstützen kann, okay?«

»Ich finde es super, dass er so viel Verständnis hat. Du kriegst einen richtig guten Ehemann, weißt du das?«

»Und ob.« Aische lachte. »Ich gebe ihn auch nicht mehr her.«

»Kann ich verstehen, dann bis heute Abend.«

Die junge Krankenschwester steckte ihr Handy weg und lief zum Eingang der Behnisch-Klinik. Nun musste sie sich beeilen, denn sie war wirklich spät dran, und die Oberschwester konnte keine Unpünktlichkeit leiden. Während sie in ihren Schwesternkittel schlüpfte, dachte sie darüber nach, wie sie Leila am besten helfen konnte. Diplomatie war in diesem Fall gefragt. Obwohl Aische sonst immer offen und ehrlich zu ihrem Vater war, musste sie nun doch ein wenig taktieren, damit Leila ihre Pläne in die Tat umsetzen konnte. Ganz einfach würde das wohl nicht. Aber Aische hatte ja Erfahrung auf dem Gebiet. Es war nicht ihr erster Kampf um Freiheit und das Recht, selbst über ihr Leben und ihre Zukunft zu entscheiden. Sie wusste, wie wichtig das war, und wollte es deshalb auch Leila ermöglichen.

*

Dr. Matthias Sommer hatte an diesem Tag mehrere Operationen, bei denen seine Verlobte ihm als OP-Schwester zur Hand ging. Die beiden waren auch beruflich ein eingespieltes Team und verstanden sich meist ohne viele Worte.

Als der junge Chirurg kurz vor Feierabend noch nach einem Patienten sehen wollte, traf er an dessen Bett den Chefarzt an.

Dr. Norden hatte sich gerade mit dem Patienten unterhalten und dessen Werte kontrolliert, nun bat er den jungen Kollegen, ihm auf den Klinikflur zu folgen. Während Matthias schon überlegte, ob er vielleicht etwas falsch gemacht hatte, hörte er Dr. Norden sagen: »Ich bin sehr zufrieden mit Ihren Leistungen. Die große OP gestern hat mich wirklich beeindruckt. Man sieht selten einen Facharzt, der schon in so jungen Jahren dermaßen viel Können und Geschick an den Tag legt. Ich muss zugeben, dass ich Kollegen erlebt habe, die solche Fähigkeiten auch nach mehreren Jahrzehnten ­Berufserfahrung nicht entwickeln konnten.«

Matthias war einen Moment lang sprachlos, dann aber sagte er bescheiden: »Das war doch nicht der Rede wert.«

»O doch, das war es.« Der Chefarzt klopfte dem jungen Kollegen auf die Schulter und mahnte ihn: »Sie müssen lernen, ein berechtigtes Lob anzunehmen. Das gehört dazu. Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel.«

Dr. Sommer lächelte schmal. »Ich danke Ihnen, das habe ich nicht erwartet. Und ich werde mich bemühen, Ihren Erwartungen auch weiterhin gerecht zu werden.«

»Ich habe keine Zweifel, dass Sie das werden.«

Wenig später verließen Matthias und Aische gemeinsam die Behnisch-Klinik. Ein wenig verschämt erzählte er ihr von dem großen Lob, das Dr. Norden ausgesprochen hatte, wiegelte aber zugleich ab: »Er will mich wohl motivieren, immerhin stehe ich ja noch in der Probezeit.«

»Er hat dich gelobt, weil du gut bist«, stellte Aische überzeugt richtig. »Freu dich, dass der Chef deine Arbeit zu schätzen weiß. Und sei nicht immer so bescheiden.«

»Das hat Dr. Norden mir auch geraten.«

»Na, siehst du, dann muss ja was dran sein.«

»Natürlich freue ich mich über sein Lob. Aber ich halte es einfach für selbstverständlich, dass man sein Bestes gibt. Schließlich geht es um Menschenleben.«

»Du bist eben Mediziner mit Leib und Seele. Ein bisschen Bewunderung wird da ja wohl noch erlaubt sein, oder?«

Er lachte. »Wenn du mich bewunderst, beschwere ich mich nicht, mein Schatz.«

»Das tue ich, unausgesetzt, und noch mehr, wenn du mich heute beim Abendessen wieder unterstützt, was Leilas Pläne angeht.«

»Hat sie denn mittlerweile einen Platz im Wohnheim ergattern können? Das ist ja nicht ganz einfach.«

»Sie denkt daran, zusammen mit einer Freundin, die ebenfalls Jura studieren will, eine Wohnung zu nehmen. Das müssen wir Papa heute Abend verklickern. Einfach wird es bestimmt nicht.«

Matthias lächelte schmal. »Macht nichts, ich liebe die Herausforderung …«

Die Celiks bewohnten eine geräumige Altbauwohnung im Münchner Stadtteil Haidhausen. Fatma war eine ausgezeichnete Köchin und freute sich immer sehr, ihre beiden Töchter wieder am Tisch zu haben. An Matthias Sommer hatte sie einen Narren gefressen. Sie behandelte ihren zukünftigen Schwiegersohn besonders liebevoll und verwöhnte ihn gern mit orientalischen Süßigkeiten, was der junge Mann sehr zu schätzen wusste. Zunächst aber unterhielt Matthias sich eine Weile mit Mehmet, wie es Sitte war, während Leila und Aische der Mutter in der Küche zur Hand gingen.

Dabei wurde munter geplaudert. Fatma interessierte sich sehr für die Geschichten aus dem Klinikalltag, die Aische stets mitbrachte, und hörte ihrer Älteren aufmerksam zu. An diesem Abend ging es bei den drei Frauen aber um ein anderes Thema.

»Dein Vater hat mich gestern gefragt, wann du und Matthias heiraten werdet. Ihr seid jetzt ein halbes Jahr verlobt …«

Aische warf ihrer Mutter einen knappen Blick zu und erklärte: »Wir haben noch kein Datum festgelegt. So sehr eilt es uns nicht. Ich finde es schön, verlobt zu sein, und ich glaube, Matthias geht es genauso.«

Fatma lächelte versonnen. »Ja, die Verlobungszeit ist etwas Besonderes, das stimmt. Aber du kennst deinen Vater. Er macht sich ständig Sorgen um euch Mädchen, hat Angst, dass etwas nicht stimmt, nicht so läuft, wie es sollte. Er fühlt sich eben noch immer für euch verantwortlich.«

»Das muss er sich endlich abgewöhnen, wir sind erwachsen«, sagte Leila ärgerlich. »Wenn wir seinen Rat brauchen, sagen wir das schon. Hat er denn gar kein Vertrauen zu uns?«

Fatma bedachte ihre Jüngere mit einem nachsichtigen Blick. »Das hat nichts mit Vertrauen zu tun, natürlich vertraut er euch. Aber er möchte eben, dass es euch gut geht, dass ihr glücklich seid. Und was er dazu tun kann, das tut er.«

»Ich wäre sehr viel glücklicher, wenn ich meine eigenen Entscheidungen treffen könnte.«

»Nun mach mal halblang«, bat Aische die Schwester. »Wir reden nachher mit Papa über deine Idee. Und ich bin sicher, dass wir ihn überzeugen können. Vielleicht nicht heute …«

»Und bestimmt nicht morgen.« Leila seufzte. »Schon verstanden. Geduld bringt Rosen, nicht wahr?«

»In deinem Fall wohl eher die Freiheit, die du anstrebst.«

Mehmet unterhielt sich bei Tisch angeregt mit Matthias und stellte fest: »Man hört nur Gutes über dich, Aische. Du scheinst in deinem Beruf ebenso aufzugehen wie dein Verlobter.«

»Ich arbeite gern in den Behnisch-Klinik«, bestätigte sie.

»Und wie soll das werden, wenn ihr verheiratet seid?«

»Ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird.«

»Du willst also eine berufstätige Mutter werden?« Man hörte deutlich, dass Mehmet das nicht gut fand. »Und wie stehst du dazu, Matthias? Findest du nicht, dass Kinder ihre Mutter brauchen, dass eine Mutter daheim genug zu tun hat?«

Fatma schüttelte leicht den Kopf und bedachte ihren Mann mit einem tadelnden Blick. Wie oft hatten sie schon über dieses Thema gesprochen. Mehmet war traditionell eingestellt, Fatma hatte sich ihm angepasst. Sie wusste aber, dass ihre Töchter moderne Mädchen waren, die anders dachten. Und sie hatte ihren Mann deshalb schon öfter gebeten, dieses Thema nicht zur Sprache zu bringen, wenn sie gemütlich zusammen aßen.

Der junge Mediziner hob die Schultern. »Diese Entscheidung werde ich Aische überlassen. Wir kriegen das zusammen schon hin«, sagte er optimistisch.

»Eine sehr liberale Einstellung. Ich frage mich, ob du damit auf Dauer glücklich werden wirst, Matthias.«

»Das wird sich zeigen«, sagte der diplomatisch. »Aber ich werde ganz sicher meines Lebens nicht mehr froh, wenn ich versuchen sollte, Aische etwas vorzuschreiben. Sie hat ihren eigenen Willen. Das gefällt mir an ihr.«

»Manche Leute haben eben mehr Glück als andere«, merkte Leila da spitz an. Ihr Vater bedachte sie mit einem fragenden Blick.

»Was meinst du denn damit, meine Kleine?«

»Na, zum Beispiel, dass ich nicht mehr klein, sondern längst erwachsen bin. Und gern auch so behandelt werden würde.«

»Tue ich das denn nicht?«, wunderte ihr Vater sich.

»Nein, das tust du nicht«, beharrte Leila fest. »Du siehst in mir immer noch das Kind, das man beaufsichtigen muss.«

Mehmet schmunzelte. »Ein bisschen Aufsicht hat noch niemandem geschadet. Sofern man keinen Unfug vorhat …«

»Also, das ist doch …«

Aische legte ihre Hand auf Leilas Arm und bat begütigend: »Lasst uns mal ganz sachlich darüber reden. Leila würde gern mit einer Freundin zusammen ziehen, die ebenfalls Jura studieren wird. Ihr Name ist Stefanie Seegers, und sie ist nicht nur klug und fleißig, sondern auch schon sehr verantwortungsbewusst. Habe ich das richtig widergegeben, Leila?«

Die Schwester nickte. »Stefanies Vater ist Anwalt. Vielleicht könnte ich in seiner Kanzlei ein Praktikum machen. Und die Miete würde sich auch halbieren, wenn wir uns eine Wohnung teilen.«

»Wozu Miete zahlen, wenn du hier daheim alles hast, was du brauchst?«, hielt der Vater ihr entgegen.

»Vielleicht lädtst du Stefanie mal zum Essen hierher ein, damit Papa sie kennenlernen kann«, schlug Aische vor.

»Eine gute Idee«, stimmte Fatma zu. »Wenn es ein nettes und ordentliches Mädchen ist, wäre nichts dagegen zu sagen, dass die beiden sich eine Wohnung teilen, nicht wahr, Mehmet?«

»Dagegen ließe sich sicher viel sagen. Aber bevor ich das tue, möchte ich diese Stefanie doch erst einmal kennenlernen«, gab der Familienvater nach. »Dann sehen wir weiter.«

Leila war angenehm überrascht. »Du wirst sie ganz bestimmt mögen, Papa, ganz bestimmt!«, versicherte sie eifrig.

»Wie gesagt, dann sehen wir weiter«, erwiderte er bedächtig.

Als Aische und Matthias sich wenig später verabschiedeten, dankte Leila der Schwester überschwänglich. »Ich glaube, langsam wird er weich! Nur noch ein bisschen Geduld, dann habe ich es geschafft. Und das verdanke ich nur eurer Unterstützung!«

»Noch hat er nicht ja gesagt«, erinnerte Aische das Mädchen. »Du solltest dir von diesem gemeinsamen Essen nicht zu viel versprechen. Aber ich glaube auch, dass es im Endeffekt klappen wird. Du weißt ja, Geduld …«

»… bringt die Freiheit!«, lachte Leila optimistisch.

*

Schon zwei Tage später brachte Leila ihre Schulfreundin mit nach Hause, damit der Vater sie in Augenschein nehmen konnte.

Das gemeinsame Essen verlief entspannt, und Mehmet schien seine ablehnende Haltung Leilas Plänen gegenüber allmählich aufzugeben. Das Mädchen war glücklich und schmiedete Pläne.

Fatma freute sich für ihre jüngere Tochter. Als ihr Mann aber am nächsten Morgen sehr früh einen Anruf erhielt, sollte sich mit einem Mal wieder alles ändern.

Mehmet telefonierte eine ganze Weile. Fatma war damit beschäftigt, das Frühstück zu richten, als ihr Mann die Küche betrat, die Tür hinter sich schloss und sie wissen ließ: »Das war Falils Vater. Erinnerst du dich an ihn?«

Fatma überlegte einen Moment. »Habib, dein alter Freund aus Kirkili?«, fragte sie nach.

Mehmet nickte. Als Junge war er in den Ferien jedes Jahr mit seinen Eltern in das kleine anatolische Dorf gereist, wo die Großeltern noch gelebt hatten. Dort hatte er sich mit dem Nachbarsjungen angefreundet. Dass dieser sich nach so langer Zeit wieder meldete, konnte nichts Gutes bedeuten. Fatma schwante, was los war, noch bevor ihr Mann erklärte: »Habib fordert den Verspruch zwischen seinem Sohn Falil und Leila ein.«

»Das kann nicht sein Ernst sein!«, entfuhr es Fatma.

»Es ist so Tradition. Du weißt, dass die Kinder bereits als Babys einander versprochen worden sind.«

»Ja, in Anatolien. Aber wir leben in München!«

»Das macht keinen Unterschied. Die Traditionen dürfen nicht missachtet werden. Habib hat ein Recht, den Verspruch einzufordern. Und wir können uns dem nicht widersetzen. Das ist eine Frage der Ehre.«

»Mehmet, ich bitte dich …«

»Darüber gibt es keine Diskussionen. Leila wird Falil heiraten. So ist es zwischen uns ausgemacht worden. Ich werde mich daran halten. Oder verlangst du vielleicht, dass ich ehrlos handele, Fatma?«

»Ich verlange, dass du deinen gesunden Menschenverstand benutzt, Mehmet. Dieses Versprechen ist fast zwanzig Jahre alt. Was sagt denn Falil dazu? Ist er der gleichen Meinung wie sein Vater? Und wo sollen die beiden leben? Verlangst du von Leila, dass sie auf ihr Studium verzichtet, München und das Leben, das sie kennt, verlässt, um in Anatolien in einem Bergdorf zu leben wie im Mittelalter? Das kann nicht dein Ernst sein!«

»Falil studiert in Hamburg. Sie werden ganz bestimmt nicht wie im Mittelalter leben. Was denkst du von mir? Dass ich unsere Tochter wie einen Esel verkaufe? Die beiden können hier in Deutschland leben. Wenn Falil einverstanden ist, kann Leila studieren. Das müssen die beiden dann untereinander regeln. Mir geht es hier nur um die Hochzeit, die gefeiert werden muss. Daran führt kein Weg vorbei.«

Fatma musterte ihren Mann skeptisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein moderner junger Mann sich noch diesen angestaubten Traditionen beugen und sein Leben danach ausrichten wollte.

Vermutlich hielt er ebenso wenig von dieser Verbindung mit einer Fremden, wie Leila es tun würde. Sie musste diesen Unsinn verhindern. Aber wie?

»Wenn es dir so wichtig ist, soll Falil herkommen, damit die beiden sich wenigstens mal kennenlernen können«, schlug sie begütigend vor, aber davon wollte ihr Mann nichts wissen.

»Das wäre gegen die Tradition. Sie werden sich erst bei der Hochzeit in Kirkili kennen lernen.«

»Das kann nicht dein Ernst sein, Mehmet!«

»Keine Diskussionen, es wird so gemacht, wie ich sage: Du fährst noch heute mit Leila nach Istanbul. Dort trefft ihr einen Cousin von Habib, er lebt als Kaufmann in der Stadt und wird euch nach Kirkili bringen. Alles wird für die Hochzeit vorbereitet und so ablaufen, wie es Tradition ist.«

»Da mache ich nicht mit. Das ist doch verrückt!«, widersprach Fatma ihrem Mann vehement. »Du kannst deine Tochter nicht zwingen, einen Wildfremden zu heiraten!«

Mehmet schaute seine Frau streng an. »Tu, was ich dir sage, Fatma. Ich verlasse mich darauf, dass du deine Pflicht als Mutter nicht vergessen hast. Einen Verspruch zu brechen, ist ehrlos und befleckt den guten Namen einer Familie. So etwas muss man unter allen Umständen vermeiden!«

Leila, die eben die Küche hatte betreten wollen, fuhr entsetzt zurück. Was sie da gerade gehört hatte, erschien ihr ganz einfach unfassbar. Sie sollte einen Fremden heiraten, weil irgendeine Tradition das forderte? Das war doch nicht möglich!

Doch der Vater hatte sehr entschlossen geklungen. Das bedeutete, sie musste auf der Stelle etwas unternehmen, wenn sie verhindern wollte, dass man sie aus ihrem gewohnten Leben heraus riss und ihr das antat! Hastig huschte sie ins Bad, schloss die Tür ab und zückte ihr Handy. Nun konnte ihr nur eine Person helfen: Aische!

Die Schwester war noch zu Hause, als der Anruf sie erreichte. Auch Aische war einen Moment lang perplex und fragte dann ungläubig nach: »Bist du sicher, dass du dich nicht verhört hast? Ich kann mir gar nicht vorstellen …«

»Ich auch nicht, aber es stimmt«, unterbrach Leila sie panisch. »Du musst sofort herkommen und diesen Wahnsinn verhindern. Wenn ich erst im Zug sitze …«

»Schon gut, beruhige dich. Ich bin auf dem Weg«, versprach die ältere Schwester. Aische klappte den Geschirrspüler zu und ging hinüber ins Esszimmer, wo Matthias noch Zeitung las.

»Papa will Leila verheiraten, sie soll heute noch in die Türkei fahren. Ich muss mal mit ihm reden.«

»Was?« Der junge Chirurg meinte, sich verhört zu haben. »Bei unserem letzten Gespräch war er doch ganz vernünftig. Wie kommt er denn nun auf so eine Schnapsidee?«

»Es war nicht seine Idee, ein alter Freund hat ihn angerufen. Damals, als Leila noch ein Baby war, ist sie seinem jüngsten Sohn versprochen worden. Das ist bei uns so Tradition. Dieser so genannte Verspruch kann jederzeit eingefordert werden. Man muss sich daran halten, es ist eine Frage der Ehre.«

Matthias seufzte. »Klingt ein bisschen angestaubt.«

»Ist es auch. Aber leider nicht zu ändern.«

»Ich verstehe das nicht. Dein Vater ist doch ein modern denkender Mann, hier in München geboren. Ich habe schon viele interessante Gespräche mit ihm geführt und nie festgestellt, dass er gestrige Meinungen vertritt. Wie kann er nur daran denken, seine eigene Tochter gegen ihren Willen mit einem Fremden zu verheiraten? Das ist absurd.«

»Sag ihm das, vielleicht hilft es. Du kommst doch mit?«

Er nickte. »Das lasse ich mir nicht entgehen.«

Als das junge Paar die Wohnung der Celiks erreichte, herrschte dort bereits helle Aufregung. Leila hatte sich noch immer im Badezimmer eingeschlossen und weigerte sich, heraus zu kommen. Mehmet war wütend auf seine Tochter, er konnte es nicht leiden, wenn er nicht Herr der Lage war, und machte auch seiner Frau Vorwürfe. Der Haussegen hing mehr als schief. Aische wollte vernünftig mit ihrem Vater reden, doch der fuhr sie ungewohnt autoritär an: »Das ist alles deine Schuld! Du hast deiner Schwester diese Idee von Selbstbestimmung und Freiheit eingeimpft. Ich werde es aber nicht dulden, dass Leila die Ehre und den guten Namen unserer Familie beschmutzt!«

»Das tut sie nicht. Sie ist eine gute Tochter. Denk doch daran, wie stolz du auf sie gewesen bist, als du ihr Abizeugnis gesehen hast«, mahnte Aische ihn. »Du darfst das Ganze nicht übers Knie brechen, Papa! Bitte!«

Mehmet grollte: »Ich muss mich an den Verspruch halten, alles andere ist im Moment unwichtig.«

»Aber Mehmet, so geht das doch nicht«, widersprach Matthias ihm ruhig. »Würdest du denn deine Stellung in der Sparkasse aufgeben, um in Anatolien Ziegen zu hüten, wenn irgendeine angestaubte Tradition dies fordern würde? Und wie kämst du dir vor, wenn du ganz plötzlich in einer solche Situation stecken würdest? Hättest du da nicht auch Panik?«

»Darum geht es nicht.«

»Doch, genau darum geht es«, bekräftigte Aische. »Komm, setzen wir uns zusammen und reden über alles. Das ist im Moment das einzig Vernünftige, Papa.«

Er seufzte. Man sah ihm an, dass er die Angelegenheit noch immer lieber auf seine Weise regeln wollte. Doch er gab nach, denn er wollte vor Matthias nicht wie ein alter Patriarch da stehen. »Gut, reden wir. Aber es wird nichts ändern«, knurrte er widerwillig. Fatma lächelte ihrem Mann erleichtert zu.

Aische klopfte gegen die Badezimmertür und rief: »Wir reden im Wohnzimmer darüber. Da es dich betrifft, solltest du bald nachkommen, Leila!« Eine Antwort erhielt sie nicht, denn die jüngere Schwester hatte nicht vor, an dem Gespräch teilzunehmen. Sie hatte den Vater am fühen Morgen gehört und gerade eben. Er würde nicht nachgeben, davon war Leila überzeugt. Er würde darauf bestehen, sie zusammen mit der Mutter in einen Zug nach Istanbul zu setzen, um einem antiquierten Ehrbegriff Genüge zu tun. Aber da spielte sie nicht mit, auf keinen Fall!

Als die Familie sich im Wohnzimmer aufhielt, schlich Leila sich leise aus dem Bad und in ihr Zimmer. Hastig packte sie ein paar Sachen ein und wollte die Wohnung dann so schnell wie möglich verlassen. Sie hatte bereits die Türklinke in der Hand, als ihr Vater in die Diele kam. Leila erschrak furchtbar.

Mehmet hatte nachsehen wollen, wo seine Tochter blieb. Als er sah, dass sie weglaufen wollte, verfinsterte sich seine Miene, und er herrschte sie an: »Du bleibst hier!«

Doch sie dachte nicht daran. Hektisch riss sie die Wohnungstür auf, rannte die Treppe herunter und stürzte aus dem Haus.

Leila schaute weder nach rechts noch nach links, sie wollte nur fort, verhindern, dass ihr Vater sie noch erwischte. Ihre Unaufmerksamkeit wurde ihr zum Verhängnis, denn sie bemerkte das Auto, das auf sie zukam, zu spät.

Im nächsten Moment quietschten Bremsen, das Mädchen sah den Wagen übergroß vor sich aufwachsen, und dann spürte Leila einen harten Schlag, der sie von den Beinen holte.

*

»Es wird nichts nützen, er lässt sich bestimmt nicht davon abbringen«, sagte Fatma gerade zu Aische und Matthias, als unten auf der Straße ein Auto stark abbremste. Gleich darauf stürzte Mehmet ins Wohnzimmer, kreidebleich und mit vor Schreck geweiteten Augen, und keuchte: »Matthias, schnell! Leila ist angefahren worden!«

»Wie ist das passiert?«, fragte der junge Arzt knapp.

Gemeinsam mit seinem Schwiegervater in spe eilte er aus der Wohnung. Mehmet murmelte: »Sie wollte weglaufen, ich habe sie gerade noch erwischt. Aber bevor ich sie festhalten konnte, ist sie wie verrückt davon gerannt, direkt in ein Auto!«

Matthias kümmerte sich um Leila, die bewusstlos auf der Straße lag. Der Autofahrer hatte bereits den Notarzt alarmiert, einige Menschen standen herum, jemand hatte dem Mädchen eine Jacke unter den Kopf geschoben.

Aische folgte ihrem Verlobten, um ihm zu helfen.

»Sieht nach einer commotio aus«, vermutete er.

Leila schlug kurz die Augen auf, ihre Schwester sprach beruhigend auf sie ein. Doch es dauerte nur einen Moment, bis sie wieder bewusstlos wurde.

Nach wenigen Minuten traf der Krankenwagen der nahen Behnisch-Klinik ein. Dr. Fred Steinbach trat neben Matthias und fragte: »Was ist passiert, Herr Kollege?«

Der junge Chirurg gab Auskunft, dann ging er beiseite, um den Rettungsarzt seine Arbeit erledigen zu lassen. Als Leila von Sani Jens Wiener auf einer Rolltrage in den Krankenwagen geschoben wurde, redete Dr. Sommer noch kurz mit dem Kollegen und ließ die Celiks dann wissen, dass Leilas Zustand stabil sei.

»Wie es aussieht, hat sie nur ein paar Prellungen und eine Gehirnerschütterung. Aische und ich fahren jetzt zum Dienst, sie ruft euch an, wenn wir Genaueres wissen.«

»Es ist meine Schuld gewesen, nicht wahr?« Mehmet war noch immer blass und wirkte sehr bekümmert. »Dass Leila ins Krankenhaus muss, ist nur meine Schuld.«

»Wir reden später darüber, Pa­pa«, sagte Aische und drückte kurz seine Hand, bevor sie zu Matthias ins Auto stieg.

»Dumm gelaufen, muss man da wohl sagen«, murmelte er.

»Leila hatte Panik. Ich hätte mich mehr um sie kümmern müssen, statt mit Papa zu reden«, klagte sie sich selbst an. »Ich hoffe, es stellt sich gleich heraus, dass ihr wirklich nicht mehr fehlt als eine commotio. Ich habe so schon ein schlechtes Gewissen.«

»Ich bitte dich, das musst du wirklich nicht haben. Du bist doch immer für deine Schwester da. Mach dich jetzt nicht verrückt, Liebes, niemand tut immer das Richtige.«

Sie seufzte leise. »Ich weiß, aber das macht es nicht besser.«

Dr. Erik Berger, der Leiter der Notfallambulanz in der Behnisch-Klinik, hatte Leila bereits untersucht und auf die Innere überwiesen, als Aische und Matthias nach ihr fragten.

»Nichts Ernstes«, ließ er den jungen Chirurgen knapp wissen und wollte den Untersuchungsraum verlassen.

»Können Sie nicht ein bisschen spezifischer sein, Herr Kollege?«, fragte Matthias ungehalten nach. In der Klinik war allgemein bekannt, dass der Notfallmediziner zynisch und meist unfreundlich war. Nun stutzte er kurz, lächelte schmal und versicherte: »Natürlich kann ich das. Sie hat eine leichte commotio und diverse Hämatome sowie Hautabschürfungen. Spezifisch genug, Herr Kollege?«

»Danke«, murmelte Matthias konsterniert und wandte sich mit Aische zum Gehen.

»Und um noch spezifischer zu werden: der Chef hat den Fall übernommen. Ich hoffe, Sie sind zufrieden.« Er lächelte spöttisch und knallte die Tür hinter sich zu.

Aische schüttelte den Kopf. »Er ist wirklich ein Ekel.«

Dr. Norden kümmerte sich gerade um Leila, als das junge Paar ihr Krankenzimmer betrat. Sie war noch etwas blass, lächelte den Besuchern aber tapfer entgegen. Aische setzte sich an ihr Bett, Matthias folgte Daniel Norden auf den Klinikflur, wo dieser wissen wollte: »Können Sie etwas zum Unfallhergang sagen, Herr Kollege? Fred Steinbach erwähnte, dass Sie vor Ort waren.«

»Leila ist Aisches Schwester. Es gab da einen häuslichen Disput, Aische und ich waren da, um zu schlichten.« Er lächelte schmal. »Es scheint uns nicht sonderlich gut gelungen zu sein.«

»Sie muss nur ein paar Tage zur Beobachtung bleiben, ihr Zustand hat sich schon wieder stabilisiert. Allerdings war sie nicht begeistert, als ich ihr das gesagt habe.«

»Ich vermute, sie würde lieber länger bleiben. Aus gutem Grund.« Dr. Sommer berichtete seinem Chef, was sich bei den Celiks abgespielt hatte, und wunderte sich ein wenig, weil Dr. Norden nicht sonderlich überrascht zu sein schien.

»Die Geschichte mit den arrangierten Heiraten ist immer wieder Anlass für herbe Konflikte in türkischen Familien, egal, wie lange sie schon in Deutschland leben. Vor Jahren ging es so weit, dass es sogar zu einer Sache auf Leben und Tod wurde. Ich erinnere mich an einen besonders tragischen Fall. Ein junges Mädchen, eben achtzehn, sollte einen wesentlich älteren Mann heiraten, der noch dazu brutal und rücksichtslos war. Sie fürchtete sich so sehr vor ihm, dass sie vor der Hochzeit Schlaftabletten nahm. Sie landete hier, doch es war zu spät. Die Entgiftung griff nicht mehr, sie fiel ins Koma und starb ein halbes Jahr später.«

»Das ist schlimm, so sinnlos.«

Der Chefarzt der Behnisch-Klinik nickte langsam. »Uns erscheinen solche Sitten und Gebräuche oft unverständlich, manchmal sogar barbarisch. Doch Menschen ändern ihre Traditionen und Überzeugungen nur schwer. Es kommt deswegen immer wieder zu Dramen, die nicht selten ihr Ende hier bei uns finden. Zum Glück ist Leila Celik nicht schwer verletzt worden. Und was diese arrangierte Heirat angeht, da wird ihr Vater jetzt wohl noch einmal nachdenken müssen, nehme ich an.«

»Das kann man nur hoffen«, seufzte Dr. Sommer.

Aische saß währenddessen am Krankenbett ihrer Schwester, hielt ihre Hand und versicherte ihr: »Wir werden nicht zulassen, dass Papa dich zu so einem Unsinn zwingt. Du hättest nicht abzuhauen brauchen.«

Leila senkte den Blick und gab zu: »Das war falsch. Aber ich hatte die totale Panik. Was machen wir denn jetzt?«

»Zunächst bleibst du mal ein paar Tage hier. Du hast Glück, dass Dr. Norden sich selbst um dich kümmert. Er ist nicht nur ein brillanter Arzt, sondern auch ein netter und vor allem verständnisvoller Mensch. Bei ihm bist du in den besten Händen.«

»Und wenn er mich entlässt? Was dann?«

»Wir reden noch mal in Ruhe mit Papa. Und falls das nichts bringt, muss eben eine andere Lösung her. Heim kannst du in nächster Zeit nicht, so lange, bis diese Geschichte vom Tisch ist, das versteht sich von selbst.«

»Kann ich zu euch kommen?«

»Das hätte wenig Sinn. Da wird Papa dich zuerst suchen. Nein, wir müssen uns was Besseres ausdenken. Aber zuerst kriegt er noch eine Chance. Vielleicht haben der Schreck und die Sorgen um dich ihn ja von seinem Ausflug in die Vergangenheit abgebracht.«

Fatma und Mehmet besuchten ihre Tochter eine Weile später. Beide hatten sich tatsächlich große Sorgen um Leila gemacht und waren sehr erleichtert, als sich herausstellte, dass es ihr schon bald wieder gut gehen würde.

»Wir verschieben die Hochzeit«, sagte Mehmet beim Abschied zu seiner Tochter. »Du musst erst wieder ganz gesund sein. Vorher darfst du dir die Reise nicht zumuten. Ich werde mit Habib reden, er wird es verstehen. Und jetzt ruh dich aus, damit du schnell wieder auf die Beine kommst.«

Leila wollte widersprechen, aber der Vater küsste sie nur noch auf die Stirn und verließ dann ihr Krankenzimmer. Einen Widerspruch schien er von seiner Tochter nicht mehr zu erwarten. Leila schaute die Mutter ratlos an.

»Keine Sorge, wir reden ihm das aus«, versicherte Fatma ihr.

»Wirklich? Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Er ist ja wie vernagelt mit dieser Ehrensache.«

»Wir kriegen das hin. Ich lasse nicht zu, dass er dich zu einer Hochzeit ohne Liebe zwingt.«

»Aische hat angedeutet, dass sie mich woanders unterbringen will, wenn ich hier entlassen werde.«

Fatma lächelte. »Eine gute Idee. Wenn wir alle zusammen halten, wird dein Vater nachgeben, davon bin ich überzeugt.«

Leila hob die Schultern. »Ich wünschte, ich wäre es auch …«

*

»Das ist eine schwierige Situation für alle Beteiligten, auch für den Kollegen Sommer. Er wird Stellung beziehen müssen.« Dr. Norden bog vom Klinikparkplatz auf die Straße ab und fädelte sich in den dichten Feierabendverkehr ein. Er hatte schon in der gemeinsamen Mittagspause mit Fee über Leila Celik gesprochen.

»Ich möchte nicht in seiner Haut stecken«, gab sie zu. »Er kann sich leicht zwischen alle Stühle setzen.«

»Hauptsache, das passiert uns heute Abend nicht.«

Fee machte ein skeptisches Gesicht. Beim Frühstück hatte Dési verlauten lassen, dass sie nicht nur das Abendessen richten, sondern auch Sissi Berger einladen wolle. »Als nette, kleine Überraschung für den Professor und für euch«, hatte sie gesagt.

»Denkst du, Dési hält uns für neugierig?«, überlegte Fee. »Oder was hatte diese Anspielung heute Morgen sonst zu bedeuten?«

»Ich glaube, dass unsere Tochter deinen Sinn für Humor geerbt hat, mein Schatz. Wir sollten es mit Gelassenheit nehmen. Immerhin lernen wir nachher Jannis Angebetete kennen, das kann doch interessant werden …«

Dési hatte den Tisch bereits gedeckt, als ihre Eltern heimkamen, und empfing sie mit der ironischen Feststellung: »Mein Herr Bruder rotiert. Ich glaube, das Einzige, was er noch nicht anprobiert hat, ist seine Badehose. Er war schlicht und ergreifend in Panik, als ich ihm erzählt habe, wer heute Abend zum Essen kommt. Ein bisschen kindisch, oder?«

Fee bedachte ihre Tochter mit einem strengen Blick. »Den Tisch hast du schön gedeckt. Aber dass du deinen armen Bruder immer ärgern musst, finde ich gar nicht nett.«

»Er schreit danach«, behauptete Dési und eilte dann zur Haustür, denn es hatte gerade geklingelt. Gleich darauf erschien sie in Begleitung eines hübschen, jungen Mädchens, das sich den Nordens freundlich als Sissi Berger vorstellte.

»Janni kommt gleich, er macht sich noch hübsch«, spöttelte Dési. »Setzt euch, ich hole das Essen.«

»Ich finde es sehr nett von Ihnen, mich einzuladen«, sagte Sissi. »Janni und ich, wir kennen uns ja noch nicht lange.«

»Und Sie studieren Biologie?«

»Im ersten Semester, ja. Meine Eltern sind beide Wildbiologen, ich bin in Afrika, Asien und Amerika aufgewachsen. Zum Glück bekamen sie in München einen Lehrauftrag, als ich eingeschult wurde. So habe ich hier Wurzeln schlagen können.«

»Sissi!« Janni stand zögernd in der Tür zum Esszimmer.

»Komm schon, Bruderherz, an die Futterkrippe«, scherzte Dési.

Sissi lächelte Janni aufmunternd zu. »Neben mir ist noch ein Platz frei. Willst du mir Gesellschaft leisten?«

»Wenn ich darf …« Er bekam rote Ohren, als Sissi nickte.

»Janni hat heute ein ganze Menge Fotos von der einheimischen Vogelwelt unseres Englischen Gartens gemacht«, erzählte Dési unbekümmert beim Essen. »Ganz bestimmt wird er sie dir nachher gern zeigen wollen, Sissi …« Sie lächelte nonchalant in die finstere Mienes ihres Bruders, während das Mädchen wissen wollte, was er denn alles vor die Linse bekommen habe.

»Ach, nichts Besonderes. Ein Rotkehlchen, Meisen, einen Zaunkönig und ein Pärchen Gelbspötter.«

»Toll!« Sissi strahlte. »Das musst du mir unbedingt zeigen.«

»Jetzt gleich?«

»Warum denn nicht?« Sissi hielt ihm die Hand hin. »Ich bin echt neugierig.« Sie wandte sich an Fee Norden, die der kurzen Unterhaltung der beiden interessiert gelauscht hatte. »Ihr Sohn ist ein talentierter Fotograf, wussten Sie das?«

»O ja, er hat viele Talente.«

»Ehrlich?« Dési machte ein erstauntes Gesicht. »Davon wusste ich ja noch gar nichts.«

»Also jetzt …« Janni wollte auf seine Schwester los gehen, aber Sissi umging geschickt den von Dési provozierten Streit, indem sie Janni noch mal an die Fotos erinnerte. Gleich darauf war das junge Pärchen verschwunden. Dési zog einen Flunsch.

»Du hast wohl mehr erwartet«, mutmaßte ihr Vater mit feiner Ironie. »Das war nicht besonders nett von dir.«

»Finde ich auch.« Fee schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Du hast dir die allergrößte Mühe gegeben, deinen Bruder ständig zu blamieren und bloßzustellen. Warum nur?«

Dési hob die Schultern. »Weil es Spaß macht?«

Wenig später saßen die Nordens noch bei einem Glas Wein im Wohnraum. Dési wollte eine Freundin besuchen, von ihrem Bruder und seinem Gast war nichts zu vernehmen.

»Sie ist nett«, urteilte Daniel und lächelte seiner Frau zu. »Und sie hat unsere freche Tochter souverän ins Leere laufen lassen. Das fand ich schon bewundernswert.«

»Sie muss ja was Besonderes sein, immerhin ist Janni in sie verliebt«, sinnierte Fee. »Was denkst du, Dan? Könnte es was Festes werden mit den beiden?«

»Keine Ahnung. Es ist sicher noch zu früh, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«

»Ja, du hast recht.« Sie lächelte, als er einen Arm um ihre Schultern legte, und kuschelte sich an ihn. »Freuen wir uns, dass sie ein kluges und vernünftiges Mädchen ist.« Fee seufzte. »Im Gegenteil zu Dési. Woher hat sie das nur? Es kann doch nicht allein daran liegen, dass sie meinen Humor geerbt hat, oder?«

»Ein bisschen sicher. Aber das wird sich mit der Zeit noch verwachsen«, sagte er diplomatisch.

»Ach du …«

Sie küssten sich zärtlich, dann schlug Daniel vor: »Wechseln wir das Thema und denken wir mal an uns, einverstanden?«

Ihr Lächeln fiel weich aus, als sie nachgab: »Einverstanden.«

*

Leilas Zustand besserte sich rasch und nachhaltig. Am Ende der Woche waren auch die letzten Nachwirkungen ihrer leichten Gehirnerschütterung abgeklungen. Dr. Norden untersuchte seine Patientin noch einmal gründlich und ließ sie dann wissen: »Wenn Sie einverstanden sind, können Sie morgen die Klinik verlassen. Vom medizinischen Standpunkt aus spricht nichts dagegen. Wie es auf privater Ebene aussieht, kann ich aber nicht beurteilen.«

»Leider unverändert«, gab Leila zu. Sie hatte sich dem Mediziner anvertraut, der ja bereits Bescheid wusste, denn sie hatte rasch Vertrauen zu ihm gefasst. Seine verständnisvolle, väterliche Art tat Leila gut und gab ihr Mut und Sicherheit.

»Haben Sie noch einmal versucht, mit Ihrem Vater über diese Hochzeit zu reden?«, hakte er nach.

Leila schüttelte mit bekümmerter Miene den Kopf. »Das wäre reine Zeitverschwendung. Meine Mutter, meine Schwester und Matthias Sommer haben bereits mit Engelszungen auf ihn eingeredet, ohne etwas zu erreichen. Wissen Sie, Herr Doktor, mein Vater ist ein wirklich liebenswerter und kluger Mann. Als Kind habe ich zu ihm aufgeblickt. Er schien auf alles eine Antwort zu wissen. Und er war nie ungerecht. Man konnte ihm vertrauen, mit allem zu ihm kommen. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich eine Vatertochter gewesen bin. Unsere Bindung war enger als die zu meiner Mutter. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass er so autoritär und egoistisch ist. Dass er mich zu etwas zwingen will, obwohl er doch spüren muss, wie falsch das ist. Und dass er in dieser Sache so vernagelt, so stur ist. Ich habe wirklich das Gefühl, ihn gar nicht mehr zu kennen. Das ist nicht mehr der Vater, auf dessen Schoß ich gesessen und Märchen aus 1001 Nacht gehört habe.«

»Er ist es noch, Leila. Er hat sich nicht verändert, aber Sie haben es«, hielt Daniel Norden ihr entgegen.

»Wie meinen Sie das?«

»Ihr Vater sieht nun nicht mehr nur sein Kind, keine Tochter in Ihnen. Er sieht eine junge Frau, deren Schicksal ihm am Herzen liegt. Und er hat sehr genaue Vorstellungen davon.«

»Sie meinen, die Tradition ist ihm wichtiger als ich?«

»Das sicher nicht. Aber sie ist ein Teil seiner Identität. Er kann sich nicht so einfach davon lösen. Deshalb ist es auch so schwer für Sie beide, sachlich über diese Dinge zu reden.«

»Und was raten Sie mir? Was soll ich tun?«

»Wie Sie wissen, habe ich selbst erwachsene Kinder. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass Druck ab einem gewissen Alter nicht mehr zielführend ist. Es gehört zum Elternsein dazu, loszulassen und zu akzeptieren, dass die Kinder eigene Wege gehen und auch eigene Fehler machen. So ist das Leben nun mal.«

»Ich wünschte, mein Vater würde das auch so sehen. Aber für ihn zählt nur die Tradition.«

»Wenn er Sie heute noch besuchen kommt, könnte ich mal mit ihm reden«, bot Dr. Norden an. »Natürlich nur, falls Ihnen das auch recht ist. Ich möchte mich nicht ungefragt einmischen.«

»Das würden Sie tun? Ach, es wäre zu schön, wenn es Ihnen gelingen könnte, ihn zur Vernunft zu bringen.«

»Ich kann es versuchen, aber versprechen möchte ich nichts …«

»Auf jeden Fall danke ich Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Hilfe. Und wenn Sie nichts erreichen, bleibt mir wohl nur abzutauchen, wie meine Schwester es nennt …«

Mehmet Celik war ein wenig erschrocken und auch konsterniert, als der Chefarzt der Behnisch-Klinik dann das Gespräch mit ihm suchte. »Leila fehlt doch nichts Ernstes, Herr Doktor, oder?«, fragte er verunsichert.

Dr. Norden bot ihm Platz vor seinem Schreibtisch an und versicherte: »Ihrer Tochter wird es schon bald wieder gut gehen, sie ist fast gesund. Und sie hat mich gebeten, einmal in Ruhe mit Ihnen zu reden, Herr Celik. Sozusagen von Vater zu Vater.«

»Sie haben auch Kinder, Herr Doktor?«

»Oh ja, fünf an der Zahl. Und sie sind alle schon erwachsen.«

»Fünf? Vermutlich haben sie Ihnen nie Sorgen gemacht, sind bestimmt alle wohl geraten.«

»Beruflich haben sie es zu etwas gebracht, das stimmt. Aber es war bei jedem ein weiter Weg, der nicht ohne Stolpersteine geblieben ist. Kinder großzuziehen ist ein Kraft-, aber auch ein Balanceakt.« Er lächelte angedeutet. »Man fällt schon mal vom Seil und tut sich dabei weh …«

»Ich ahne, worauf Sie hinaus wollen, Herr Doktor.«

»Bitte betrachten Sie dieses Gespräch nicht als Einmischung, Herr Celik. Leila ist meine Patientin, sie hat mich um Hilfe gebeten. Deshalb …«

»Bei allem Respekt, aber ich glaube nicht, dass Sie verstehen können, worum es eigentlich geht.«

»Ich weiß es schon. Ich kenne diese Tradition des Verspruchs, sie ist in vielen Kulturen beheimatet. Und sie wird auch heute noch in zahlreichen Ländern praktiziert.«

»Vermutlich halten Sie das für antiquiert.«

»Ich maße mir darüber kein Urteil an. Es geht mir nur um Ihre Tochter. Können Sie sich vorstellen, ihr entgegenzukommen, sie nicht einfach in eine Rolle zu drängen, die ihr fremd ist und sie ängstigt?«

»Es gibt hier keinen Kompromiss, tut mir leid. Der Verspruch ist Tradition und muss eingehalten werden. Leila hat sich zu fügen, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.«

»Dann sind Sie darauf vorbereitet, Ihre Tochter zu verlieren?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Leila wird nicht mitspielen. Sie wird sich entziehen, alle Möglichkeiten nutzen, um dieser Heirat zu entgehen. Und sie wird Sie vermutlich für den Rest ihres Lebens hassen.«

Mehmets Miene verschloss sich. »Damit muss ich leben.«

»Müssen Sie das wirklich? Herr Celik, Sie sind doch ein moderner Mensch, sehen die Dinge sachlich. Traditionen formen eine Gesellschaft, geben eine Richtung vor und vermitteln Sicherheit. Sie sind durchaus als positiv zu bewerten. Aber wenn sie zu einer Bürde werden, vielleicht sogar drohen, ein Leben, einen Menschen zu zerstören, dann ist es an der Zeit, sie neu zu überdenken und zu definieren.«

»Es steht mir nicht zu, Dinge ändern zu wollen, die seit vielen Generationen üblich und bindend sind. Ich bin ja kein Revolutionär. Ich bin ein einfacher Bürger, Steuerzahler und Familienvater. Aber ich habe türkische Wurzeln. Und die sagen mir, dass ich Traditionen ehren und hochhalten muss, ob mir persönlich das nun passt oder nicht. Ich könnte nicht ohne Ehre leben, Herr Doktor. Das ist ausgeschlossen.«

»Ich verstehe. Dann muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie ohne Ihre Tochter Leila werden leben müssen.«

»Wenn das der Preis ist, den ich zu zahlen habe, um den Traditionen Genüge zu tun, muss ich mich damit abfinden.«

*

»Mit wem hast du telefoniert?« Fatma schaute ihren Mann sehr ernst an. »Sag nicht, es war Habib.«

»Ich habe ihm nur mitgeteilt, dass wir Leila heute aus der Behnisch-Klinik abholen. Und in ein paar Tagen könnt ihr dann reisen. Er war froh, dass nun alles in die Wege geleitet wird.«

»Mehmet, bitte! Sei doch vernünftig«, bat seine Frau ihn inständig. »Niemand will diese Hochzeit. Sogar Dr. Norden hat versucht, dir klarzumachen, dass du einen schweren Fehler begehst. Du musst diesen Plan endlich aufgeben!«

»Das kann ich nicht, du weißt es. Die Tradition …«

»Wenn sie unsere Familie auseinander bringt, dann ist diese Tradition nichts wert! Und der Mann, der sich trotzdem an sie hält, macht sich zum Sklaven einer falschen Idee!«

»Rede nicht so daher, das dulde ich nicht.«

Fatma senkte den Blick und seufzte schwer. »Ich habe dir nie Vorschriften gemacht, Mehmet. Ich habe all deine Entscheidungen akzeptiert, weil ich wusste, dass sie klug und richtig waren. Aber das hier … nein! Wenn du wirklich darauf bestehst, dann …«

»Dann?«

»Dann werde ich mich scheiden lassen.«

Er starrte sie ungläubig an. »Aber das … Dafür gibt es doch gar keinen Grund. Wie lieben uns, wir führen eine gute Ehe, was …«

»Ich sehe nicht zu, wie du Leilas Leben zerstörst.«

»Dieser Unsinn von Freiheit, von Selbstbestimmung! Habib hat die gleichen Probleme. Sein Sohn tut auch einfach, was er will.«

Fatma wurde hellhörig. »Fordert er deshalb den Verspruch nach all der Zeit plötzlich ein? Weil Falil nicht so lebt, wie sein Vater sich das wünscht?«

»Das hat nichts miteinander zu tun«, wiegelte Mehmet unwillig ab. Er bereute seine unbedachte Äußerung bereits.

»Ich glaube aber doch. Habib ist ein Bauer, er führt noch ein Leben wie unsere Vorfahren. Er kann nicht verstehen, dass sein Sohn ganz anders lebt. Aber das ist sein Problem.«

»Habib ist seit Kindertagen mein Freund …«

»Steht er dir vielleicht näher als unsere Tochter? Aus falsch verstandener Freundschaft kannst du doch nicht einfach Leilas Leben auf den Kopf stellen. Und Falil? Ich wette, er will sie ebenso wenig heiraten wie sie ihn.«

»Er hat eine Freundin, aber das ist … nichts Richtiges.«

Fatma lächelte schmal. »Sie ist wohl eine Deutsche.«

»Und wenn schon! Das ist Habibs Problem.«

»Ganz genau das sage ich doch. Aber du hast es zu unserem Problem gemacht. Ich glaube, ich sehe jetzt klar, Mehmet. Du und dein Freund, ihr beide denkt noch an eine Zeit, die es so nicht mehr gibt. Und an Traditionen, die nicht mehr in unser Leben passen, schon gar nicht in das Leben unserer Kinder.«

»Ich möchte nicht mehr darüber reden«, erklärte er nun ablehnend. »Fahren wir in die Klinik und holen Leila ab!«

Fatma bedachte ihren Mann mit einem ausdrucksvollen Blick, schwieg aber. Sie wusste nun Bescheid und ein klein wenig Hoffnung begann in ihrem Herzen zu keimen. Mehmet war kein fanatischer Traditionalist. Das Worte Ehre hatte er bis jetzt nie in den Mund genommen. Alles, was er nun tat, geschah lediglich aus falsch verstandener Loyalität zu einem Mann, der früher einmal sein Freund gewesen war. Fatma musste ihm das nur immer wieder deutlich vor Augen halten, um ihm auf den rechten Weg zurückzuführen. Und sie war fest entschlossen, dies zu tun, um in ihrer Familie wieder die Harmonie herzustellen, die stets geherrscht hatte, bis Mehmet jenen verhängnisvollen Anruf seines Freundes aus Kindertagen erhalten hatte …

Als die Celiks die Behnisch-Klinik erreichten, wurden sie bereits erwartet. Allerdings nicht von Leila, sondern von ihrer Schwester und Matthias Sommer. Leilas Bett war leer.

»Wo ist sie?«, fragte Mehmet seine Tochter streng.

»Sie hat gestern die Klinik verlassen und ist bei Freunden«, ließ Aische ihren Vater wissen.

»Wo?«

»Bei Freunden. Es hat keinen Sinn, wenn du mich löcherst, Papa, ich werde dir nicht sagen, wo sie ist.«

»Aische!« Der Familienvater starrte seine Tochter aufgebracht an. »Wie kannst du es wagen, dich gegen mich zu stellen? Ich bin immer noch dein Vater. Und ich verlange Respekt!«

»Ich habe Respekt. Das hier hat nichts damit zu tun. Es geht um meine Schwester und darum, sie vor einem schlimmen Fehler zu schützen, auf dem du bestehst. Das werde ich tun!«

Matthias betrachtete seine schöne Verlobte fasziniert von der Seite. Ihre Augen funkelten leidenschaftlich, stark und selbstbewusst trat sie ihrem Vater gegenüber. Eine wirklich faszinierende Frau, die sein Herz immer wieder höher schlagen ließ. »Mehmet, sei vernünftig«, bat er seinen zukünftigen Schwiegervater. »Leila ist volljährig. Sie kann wohnen, wo sie will. Du solltest das akzeptieren.«

»Du denkst, du kannst mir Vorschriften machen? Mein Junge, ich warne dich!« Er starrte Matthias böse an. »Ich dulde es nicht, dass sich Fremde in meine Familie drängen und meine Entscheidungen in Frage stellen. Was hier geschieht, geht dich nichts an! Ich will dich nicht mehr in meiner Wohnung oder in der Nähe meiner Tochter sehen, hast du verstanden?«

»Papa, wie kannst du Matthias so anfahren?« Aische war fassungslos. »Er ist kein Fremder, er gehört zu unserer Familie!«

»Das habe ich auch geglaubt, aber ich habe mich geirrt. Und du tust besser daran, dich von ihm zu trennen. Siehst du nicht, dass er gegen uns ist? Dass unsere Einstellungen, unsere Traditionen ihm fremd sind, dass er sie ablehnt? Er will dich zu etwas machen, was du nicht bist! Du gehörst nicht zu ihm, du gehörst zu uns.«

Aische schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Papa, ich gehöre zu Matthias. Er ist der Mann, den ich liebe und heiraten werde. Ich weiß nicht mal, wovon du überhaupt sprichst. Wir sind hier geboren und aufgewachsen, du auch. Unsere Wurzeln gehören zu uns, es wäre dumm und falsch, sie zu leugnen. Aber ebenso dumm und falsch ist es, an Dingen festzuhalten, die zur Vergangenheit gehören, die nichts mehr mit unserem Leben zu tun haben.« Sie schaute ihn offen an und fügte noch hinzu: »Wenn du damit Stärke beweisen willst, dann sehe ich nur Schwäche in deinen Taten!«

Mehmet hob die Hand und versetzte seiner Tochter eine Ohrfeige. Aische spürte den Schlag gar nicht, sie hörte nur das klatschende Geräusch und sah zugleich den Schmerz in den Augen ihres Vaters. Sie hatte ihm die Wahrheit ins Gesicht gesagt, auf eine Weise, die er nicht hinnehmen konnte. Doch es schmerzte ihn, denn er wusste, dass sie recht hatte. Sie wandte den Blick und verließ ohne ein weiteres Wort das Krankenzimmer, Matthias folgte ihr.

Fatma schaute ihren Mann vorwurfsvoll an, dann drehte sie sich um und wollte ebenfalls gehen. Mehmet hielt sie am Arm fest und versuchte, sich zu rechtfertigen: »Ich will doch nur das Richtige tun, das, was die Tradition verlangt. Warum könnt ihr mich nicht verstehen?«

»Du kannst uns nicht mehr verstehen, Mehmet«, erwiderte sie traurig. »Und das ist schlimm, wirklich schlimm …«

*

»Geht’s wieder?« Matthias warf seiner Verlobten einen aufmerksamen Blick zu. Nach der Auseinandersetzung mit ihrem Vater war Aische den ganzen Tag über sehr still und in sich gekehrt gewesen. Matthias hatte vorgeschlagen, nach Feierabend in das kleine Restaurant zu gehen, wo sie sich zum ersten Mal privat getroffen hatten. Es lag ganz in der Nähe der Behnisch-Klinik. Hier konnte man in gemütlichen Nischen eine gutbürgerliche, bayerische Küche genießen, wie sie beide sie gern mochten. Aische hatte an diesem Abend allerdings wenig Appetit, sie schob das Essen nur auf dem Teller herum und blickte trübselig vor sich hin.

Nun raffte sie sich zu einem Lächeln auf und seufzte: »Klar, es muss. Aber was da heute passiert ist, das hängt mir noch nach, das werde ich nicht so schnell vergessen.«

»Dass dein Vater sauer reagieren würde, war doch klar. Wir haben ihm immerhin einen dicken Strich durch seine traditionelle Rechnung gemacht«, sagte er lässig.

Sie nickte. »Ja, das war hart für ihn. Trotzdem habe ich nicht erwartet, dass er so weit geht. Diese ganze Geschichte fängt allmählich an, mir Angst zu machen. Da sind Gräben in unserer Familie aufgerissen worden, von denen niemand gewusst hat, dass sie überhaupt existieren. Ich frage mich, woran ich noch glauben kann. Alles, was bisher so selbstverständlich gewesen ist, scheint mir plötzlich in Frage zu stehen.«

»Du hast das doch schon einmal durchgemacht, als du daheim ausgezogen bist«, erinnerte er sie.

»Ja, aber das war was anderes. Mich wollte niemand zwangsverheiraten. Diese Geschichte wird unsere Familie noch ganz auseinander bringen, wenn wir nichts dagegen tun.«

»Hast du eine Idee?«

»Nein, leider nicht. Ich fahre nachher noch zu Barbara. Mal sehen, wie sie und Leila zurecht kommen.«

»Ich bin sicher, es geht den beiden gut. Jedenfalls besser als dir, mein Schatz. Du hast heute ganz schön einstecken müssen.«

»Aber ich habe auch ausgeteilt.« Sie lächelte schmal. »Früher hätte ich mich nicht getraut, meinem Vater so offen die Stirn zu bieten. Das verdanke ich dir, Matthias. Du hast mir eine ganze Menge Selbstbewusstsein vermittelt.«

»Dann hat dein Vater wohl recht. Ich habe dich sozusagen verdorben«, merkte er ironisch an.

Aische lächelte.

»Gott sein Dank …«

Später am Abend fuhr die junge Frau zu ihrer guten Freundin Barbara Walter, die in Schwabing wohnte. Barbara und Aische waren Schulfreundinnen, der Kontakt war nie abgerissen. Die etwas chaotische, aber gutherzige Fotografin hatte sofort zugesagt, Leila fürs Erste aufzunehmen.

Als Aische auftauchte, hockten die beiden jungen Frauen am Küchentisch, tranken Rotwein und plauderten über Gott und die Welt. Leila wirkte so entspannt wie lange nicht.

»Ihr scheint euch ja gut zu vertragen«, stellte Aische erleichtert fest und nahm das Weinglas, das Barbara ihr reichte.

»Deine Schwester ist ein Schatz. Sie kann so lange hier wohnen, wie sie möchte.« Barbara lachte, dass ihre klaren, grünen Augen nur so blitzten. »Sie hat einen richtig guten Ordnungssinn. Der geht mir leider völlig ab. Sie hat sogar angeboten, hier ein bisschen aufzuräumen …«

Aische lachte. »Ich fürchte, das wäre vergebene Liebesmüh.«

»Na ja, das Genie beherrscht eben das Chaos«, scherzte Barbara und erhob sich. »Ich lasse euch mal allein, damit ihr in Ruhe reden könnt. Bin in meiner Dunkelkammer.«

Leila schaute die Schwester beklommen an. »War’s schlimm?«, fragte sie zaghaft. Sie schämte sich, weil sie Aische die Konfrontation mit dem Vater überlassen hatte, auch wenn sie wusste, dass es nicht anders möglich gewesen war. Trotzdem mochte Leila es nicht, wenn andere ihre Kämpfe ausfochten. Sie wollte für sich selbst einstehen.

»Es ging so. Er hat getobt, Matthias nieder gemacht und mir eine geschmiert. Aber wir haben dicht gehalten.«

»Er hat – was? Das kann ich nicht glauben. Er hat doch nie …«

»Heute war eben alles anders. Papa kann es nicht ertragen, dass wir uns gegen ihn stellen. Es ist ihm schon ziemlich schwer gefallen, mich gehen zu lassen. Jetzt will er sich mit Gewalt durchsetzen. Er ist voll auf dem Paschatrip.«

Leila seufzte. »Ich hätte nicht abtauchen sollen.«

»Es war die einzige Möglichkeit, sonst wärst du jetzt schon mit Mama auf dem Weg nach Istanbul, schon vergessen?«

»Natürlich nicht. Ich habe mit deiner Freundin darüber geredet und festgestellt, dass eine Außenstehende oft die besten Ideen hat. Sie hat mir geraten, Falil zu kontaktieren. Er studiert in Hamburg und wird vermutlich ebensowenig heiraten wollen wie ich. Wenn wir uns zusammen tun, können wir den Vätern vielleicht diese Schnapsidee ausreden, was meinst du?«

»Ich finde, es ist einen Versuch wert.«

Leila lächelte ein wenig. »Prima. Leider kann ich die Sache mit Stefanie Seegers jetzt wohl vergessen. Sobald ich mich mit ihr zusammen tue, wird Papa mich einkassieren, denkst du nicht auch? Das ist zu riskant, oder?«

Aische musste nicht lange überlegen. »Ich glaube schon. Du solltest fürs Erste hier bleiben.«

»Gern, ich verstehe mich wirklich gut mit Barbara. Aber ich brauche eine dauerhafte Lösung, spätestens, wenn das neue Semester anfängt.«

»Deine Bewerbung fürs Studentenwohnheim läuft doch noch. Sobald was frei wird, kannst du umziehen.«

»Okay, dann machen wir es so.« Leila seufzte. »Es tut mir leid, dass du wegen mir jetzt Ärger mit Papa hast. Und Matthias hat das ganz bestimmt nicht verdient. Im Grunde geht es ihn nicht mal was an, trotzdem hat er mir geholfen. Da ist wohl eine dicke Entschuldigung fällig.«

»Das schon, aber nicht von dir, sondern von Papa.«

»Meinst du, er sieht irgendwann ein, dass er im Unrecht ist?«

»Ich hoffe es sehr. Wir müssen erst mal abwarten, bis die Gemüter sich ein bisschen abgekühlt haben. Jetzt kann uns nämlich nur noch eines weiterhelfen, Vernunft. Die ist in letzter Zeit bei uns leider sehr vernachlässigt worden.«

*

»Soll ich nicht doch mitkommen zum Bahnhof?« Matthias warf Aische einen fragenden Blick über den Frühstückstisch zu.

»Du hast heute Vormittag eine OP, kannst nicht einfach frei nehmen wie ich«, erinnerte sie ihn langmütig. »Ich komme mit Falil schon zurecht.«

»Wenn du meinst …«

Sie stutzte. »Bist du beleidigt?«

»Nein, natürlich nicht«, versicherte er, doch das klang eher nach dem Gegenteil.

»Was ist los, Lieber? Willst du es mir nicht sagen?«

Der junge Chirurg seufzte. »Was dein Vater gesagt hat …«

»Er war sauer, wütend, hat blind um sich geschlagen. Du solltest das, was er von sich gegeben hat, nicht überbewerten.«

»Das tue ich nicht. Aber ich habe mich plötzlich wirklich wie ein Außenstehender gefühlt. Und das war nicht sehr angenehm.«

»Ich kenne das Gefühl. Es hat nichts damit zu tun, dass ich türkische Wurzeln habe und deine Eltern aus Traunstein kommen. So eine Zerreißprobe, wie wir sie gerade erleben, hat auch ihr Gutes. Sie legt verborgene Konflikte frei.«

»Und was soll daran gut sein?«

»Wir lieben uns, Matthias. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir eine gute Ehe führen werden und ein gutes gemeinsames Leben. Aber da sind eben Unterschiede, die nicht einfach vergehen, wenn du mir einen Ring an den Finger steckst. Damit müssen wir leben, das gehört dazu, wenn wir zusammen bleiben wollen.«

»Ich habe nie ein Problem damit gehabt.«

»Ich auch nicht. Aber wir leben nicht auf einer einsamen Insel, wir haben viele Verbindungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Und dazu zählt eben auch meine Familie.«

»Vielleicht sollten wir auswandern. Auf die Fidschis …«

Sie lächelte. »Keine schlechte Idee. Wir eröffnen einfach eine Privatklinik und behandeln nur betuchte Patienten. Ein Leben in ­Luxus und ohne Verwandtschaft, himmlisch …«

Matthias schüttelte angedeutet den Kopf. »Das würden wir keine Woche aushalten. Also schön, dann sehen wir uns heute Nachmittag. Grüß Falil unbekannterweise von mir.«

»Ich hoffe, er liegt auf unserer Wellenlänge und unterstützt uns. Er ist wirklich der Einzige, der die Väter vielleicht zur Vernunft bringen kann, bevor unsere Familie zerbricht …«

Wenig später machte Matthias sich auf den Weg zur Arbeit, während Aische zum Hauptbahnhof fuhr, um den jungen Mann abzuholen, auf den sie so große Hoffnungen setzte.

Falil Özug sah aus wie ein smarter Jungmanager. Groß, schlank, mit modischem Haarschnitt, Anzug und Aktenköfferchen. Er drückte Aische zur Begrüßung freundlich die Hand und sagte: »Das ist ein ganz schöner Schlamassel, nicht wahr? Ich habe schon zehnmal mit meinem Vater telefoniert, ohne etwas zu erreichen. Er besteht auf diesem Unsinn und ist sturer als alle Maulesel zusammen, die er je im Leben besessen hat.«

»Kannst du dir erklären, wieso?«, fragte Aische.

»Ich kenne den Grund, aber das macht es nicht besser.« Er deutete auf ein kleines Café, das gegenüber des Bahnhofs lag. »Hast du ein bisschen Zeit, Aische? Dann trinken wir einen Mokka zusammen, und ich erzähle dir alles.«

Sie hatte nichts dagegen. »Ich habe mir den Vormittag frei genommen. Nachher bringe ich dich zu Leila. Sie wohnt im Moment nicht zu Hause, aus naheliegenden Gründen …«

Falil nickte. »Verstehe.«

Als sie dann an einem der schmalen Tische saßen und Mokka tranken, erzählte der junge Mann ihr: »Ich bin in Kirkili geboren und aufgewachsen. Dort gibt es nur eine Dorfschule, aber wir hatten einen klugen Lehrer. Er hat festgestellt, dass mehr aus mir werden kann als Viehhirte und meinen Eltern empfohlen, mich in die Stadt zu schicken, damit ich eine weiterführende Schule besuchen kann. Mein Vater war stolz auf seinen klugen Sohn, hat mich zu Verwandten nach Instanbul geschickt. Dort habe ich Abitur gemacht und mich entschlossen, Jura zu studieren.« Er lächelte schmal. »Bis dahin war alles gut. Ich besuchte meine Eltern einmal im Jahr, sie waren nach wie vor stolz, besonders als ich bereits während des Studiums eine Stelle als Assesor in einer großen Sozietät in Hamburg annehmen konnte. Ich schreibe momentan meine Promotion, arbeite schon an eigenen Fällen. Beruflich läuft es für mich.«

»Und wieso kam dein Vater dann auf die Idee, dich mit Leila zu verheiraten?«

»Es liegt an Magret. Wir sind seit drei Jahren zusammen und wollen heiraten, sie kriegt nämlich ein Kind von mir. Magret ist ebenfalls Anwältin, eine elegante Blondine mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein.« Falil hob die Schultern. »Wie es die Tradition will, habe ich sie meinen Eltern vorgestellt. Das war ein Fehler. Mein Vater war sofort gegen die Heirat. Wir haben uns lange gestritten und sind dann ohne Versöhnung auseinander gegangen. Meine Mutter leidet seither unter dem Streit. Sie mag Magret, und sie würde uns gern eine große Hochzeit daheim in Kirkili ausrichten, wie es Tradition ist. Aber Papa will davon nichts wissen. Für ihn ist Magret ein rotes Tuch. Ich vermute, er sucht sein Heil nun in diesem Verspruch und hofft, dass sein Sohn zwar ein Hamburger Anwalt, aber zugleich auch ein richtiger Muslim bleibt, wie er sich das vorstellt. Es ist schwer, die alten Vorstellungen aus seinem Kopf zu verscheuchen, vielleicht sogar unmöglich.«

Aische hatte Falil aufmerksam zugehört, nun atmete sie innerlich zumindest ein wenig auf. Falil war nicht nur gegen die Zwangshochzeit mit Leila, er stand selbst kurz davor, eine eigene Familie zu gründen. Es lag also ebenso in seinem Interesse, diese Geschichte ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. »Wir sind uns also einig, dass der Verspruch gebrochen werden muss. Das wird Leila sehr gefallen.«

»Dass wir uns einig sind, wird nicht viel nützen. Jedenfalls nicht bei meinem Vater. Er beharrt stur auf seinem Recht.«

»Aber vielleicht bei unserem Vater. Ich schlage vor, wir fahren jetzt zu Leila, sie sollte all das, was du mir erzählt hast, erfahren. Und dann können wir überlegen, wie und wo du mit unserem Vater darüber reden kannst.«

*

»Ich finde ihn nett.«

Barbara bedachte Leila mit einem kritischen Blick. »Du wirst doch nicht am Ende noch weich werden?«

»Quatsch! Falil hat eine andere, wird bald heiraten, weil die beiden ein Baby kriegen. Ich sage nur, dass er okay ist. Ich hatte, ehrlich gesagt, ein bisschen Angst vor einem Traditionalisten mit Bart und strengen Ansichten. Aber er ist in Ordnung und wird mir helfen. Das ist schließlich auch in seinem eigenen Interesse.«

»Eine ganz schön komplizierte Geschichte«, urteilte die junge Fotografin und schaltete die Kaffeemaschine aus. »Und das alles nur, weil Falils Vater gegen seine Freundin ist?«

»Es sieht so aus. Für uns ist das positiv. Wenn er Papa klar machen kann, dass es hier nicht nur um Traditionen geht, sondern um ganz persönliche Motive, wird er hoffentlich endlich nachgeben.«

»Heißt das, du ziehst aus? Schade!«

»So bald noch nicht. Wir wissen ja auch nicht, ob es überhaupt klappt. Und wenn Papa sich weiter querstellt, muss ich auf Tauchstation bleiben …«

»Mein Tauchbecken steht dir zur Verfügung«, scherzte Barbara, nahm das Tablett mit dem Kaffee und dem Geschirr und steuerte das Wohnzimmer an. Leila brachte den Kuchen.

Aische und Falil unterhielten sich angeregt. Sie hatten festgestellt, dass sie sich bereits als Kinder begegnet waren, bei einem Familienurlaub in Kirkili, als Aische eben acht gewesen war. Leila konnte sich daran nicht mehr erinnern.

»Und wie wollen wir vorgehen?«, fragte sie den jungen Mann gespannt. »Willst du mit unserem Vater reden?«

Falil nickte. »Nachher besuche ich eure Eltern. Aische und ihr Verlobter kommen mit, als Rückendeckung sozusagen.«

Leila seufzte. »Ich wünschte, ich könnte auch dabei sein. Schließlich geht es ja um mich.«

»Das wäre keine gute Idee.« Falil scherzte: »Euer Vater wird gleich den Immam rufen und uns auf der Stelle trauen lassen.«

»Du hast recht.« Sie grinste Barbara an. »Tauchstation!«

»Ich weiß zwar nicht, was damit gemeint ist, aber ich werde mein Bestes geben, euren Vater zu überzeugen.«

»Er ist ein hoffnungsvoller Junganwalt. Er wird das schaffen, da bin ich mir sicher«, merkte Aische an.

»Und wenn nicht?« Leila schaute bekümmert von einem zum anderen. »Falil ist sozusagen unsere letzte Hoffnung.«

»Wir dürfen nicht schwarz sehen. Bis jetzt besteht Papa doch in erster Linie aus alter Freundschaft zu Habib auf diesem Verspruch. Er versteckt sich zwar hinter Ehre und Tradition, aber Mama ist sicher, dass er Habib einen Gefallen tun will«, war Aische überzeugt. »Wenn du es schaffst, ihm die Augen zu öffnen, Falil, wird er nachgeben. Du musst ihm nur ganz deutlich machen, dass er auf keinen Fall mit dir rechnen kann. Du wirst bald eine andere heiraten, die dein Kind bekommt. Das ist das beste Argument überhaupt. Damit können wir punkten!«

Matthias erschien nach Feierabend bei Barbara, machte sich mit Falil bekannt und fuhr dann mit seiner Verlobten und dem Studenten zu den Celiks. Er hatte sich anmelden wollen, aber Aische hielt das für keine gute Idee. Sie wollte ihrem Vater nicht die Möglichkeit geben, sich auf dieses Gespräch vorzubereiten. Er sollte plötzlich mit der Wahrheit konfrontiert werden. Aische war überzeugt, dass sie nur so etwas erreichen konnten.

Fatma machte große Augen, als sie den drei Besuchern die Tür öffnete. »Das ist eine Überraschung, kommt rein!« Sie drückte Falil lange die Hand. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er ein dünner, hoch aufgeschossener Junge in geflickten Hosen gewesen. Er hatte sich wirklich herausgemacht, das war nicht zu übersehen! »Ich freue mich, dich wieder zu sehen.«

»Ich freue mich auch, Tante Fatma. Obwohl die Umstände meines Besuchs in München doch ziemlich seltsam sind.«

Sie seufzte. »Geht ins Wohnzimmer, ich sage Mehmet Bescheid.«

Es dauerte eine Weile, bis der Familienvater auftauchte. Er begrüßte Aische und Matthias distanziert, Falil hingegen drückte er sehr herzlich die Hand, fragte nach seiner Familie und sagte dann offen: »Ich würde dich gern als Schwiegersohn in meiner Familie willkommen heißen. Leider ist Leila aber nicht hier. Sie sträubt sich gegen den Verspruch, aber das wird sich noch ändern. Alles soll so ablaufen, wie es Tradition ist.«

»Eben darüber wollte ich mit dir reden, Onkel Mehmet.«

»So? Was hast du auf dem Herzen? Nur heraus mit der Sprache.« Er deutete auf das Sofa und setzte sich neben Falil.

Aische und Matthias hielten sich im Hintergrund, denn nun lag es an dem jungen Mann, die verfahrene Lage zu klären. Aische ging in die Küche und half ihrer Mutter, etwas zu essen zu richten.

»Er macht eine guten Eindruck. Ist er denn auf unserer Seite?«, fragte Fatma ihre Tochter gleich.

Aische nickte. »Er hat eine Freundin, die ein Baby von ihm bekommt. Die beiden wollen schon bald heiraten.«

Fatma war perplex. »Aber wieso besteht Habib denn dann auf dem Verspruch? Das ergibt doch gar keinen Sinn.«

»Falils Freundin entspricht nicht seiner Vorstellung von einer Muslima. Na ja, sie ist ja auch keine, sondern eine emanzipierte Kollegin von Falil. Offenbar hat Habib Angst, dass sein Sohn ihm ganz entgleiten und sich zu einem anderen Menschen entwickeln wird. Damit kann er nicht umgehen. Und dieser Verspruch ist wohl so etwas wie ein Rettungsanker für ihn. Ein letzter Versuch, den Einfluss auf seinen Sohn nicht völlig zu verlieren.«

Fatma seufzte. »So ein Unsinn. Falil wird immer Habibs Sohn bleiben. Aber er führt jetzt das Leben, das er will. Das muss sein Vater doch begreifen.«

»Kein Wunder, dass Habib und Papa Freunde sind. Die beiden sind sich wirklich erschreckend ähnlich«, sagte Aische.

Als Fatma und ihre Tochter das Wohnzimmer betraten, nahm Matthias ihnen den Kaffee ab und warf seiner Verlobten dabei einen sprechenden Blick zu. Sie setzte sich zu ihm und hörte ihren Vater sagen: »Das ändert aber doch nichts an dem Verspruch. Wir sind der Tradition verpflichtet, Falil!«

»Mag sein. Ich sehe das nicht so. Es geht hier ja auch nicht wirklich um die Tradition, sondern um ein persönliches Problem, das mein Vater bei dir abgeladen hat, Onkel Mehmet. Und das er auf dem Rücken deiner jüngeren Tochter austragen will. Findest du das denn wirklich fair?«

»Ich fürchte, ich verstehe dich nicht.«

»Schau, ich habe mit Leila geredet. Sie ist meiner Meinung. Wir wollen beide unser Leben so leben, wie es uns gefällt. Deine jüngere Tochter ist ein kluges Mädchen, ich bin sicher, sie wird mal eine gute Anwältin. Das ist ihr Ziel, das bedeutet ihr etwas. Und wenn sie später heiraten will, ist das auch ihre Entscheidung. Aber eben nicht jetzt und unter Zwang. Ganz davon zu schweigen, dass ich nicht mehr frei bin. Papa will das nicht akzeptieren. Ihm geht es darum, eine in seinen Augen unpassende Schwiegertochter gegen eine auszutauschen, mit der er einverstanden ist. So etwas geht nicht. Und das ist auch kein Freundschaftsdienst, Onkel Mehmet. Wenn du meinem Vater ein wirklicher Freund sein willst, dann stellst du dich auf unsere Seite und redest offen mit ihm. Er muss begreifen, dass es in meinem Leben Dinge gibt, die er nicht mehr beeinflussen kann.«

»Vielleicht ist er dazu einfach nicht in der Lage«, gab Mehmet zu bedenken. »Du verlangst viel von deinem Vater, Falil.«

»Ich verlange nur, dass er mir vertraut und meine Entscheidungen akzeptiert.«

Aische seufzte; diese Worte kamen ihr sehr bekannt vor.

»Das verlangt auch Leila«, warf Fatma ein. »Die Jungen sind sich also einig, Mehmet. Willst du nicht noch einmal in aller Ruhe darüber nachdenken?«

»Ich weiß nicht …«

»Wie lange kannst du in München bleiben, Falil?«, wollte sie wissen. »Wir würden uns freuen, wenn du in unserem Gästezimmer wohnen möchtest.«

»Ich muss morgen wieder nach Hamburg zurück, es tut mir leid. Aber ich nehme euer Angebot gern für eine Nacht an.«

»Dann könnt ihr noch ein wenig reden.« Fatma lächelte dem jungen Mann aufmunternd zu.

Wenig später verabschiedeten sich Aische und Matthias.

»Was denkst du, Mama? Kommen wir einen Schritt weiter?«, fragte sie skeptisch.

»Falil ist ein kluger Junge, er wird deinen Vater bestimmt überzeugen.«

Sie drückte ihre Tochter. »Grüß Leila und sag ihr, sie muss nur noch ein klein wenig durchhalten.«

*

Obwohl Falil an diesem Abend noch lange mit Leilas Vater debattierte, erreichte er letztendlich doch nichts. Mehmet blieb bei seiner Haltung. Sein alter Freund hatte den Verspruch ihrer Kinder eingefordert, und diese Forderung musste erfüllt werden.

Dass Falil eine andere heiraten würde, erschien Mehmet nicht einmal wichtig. Ihm ging es darum, seine Verpflichtung zu erfüllen. Er beharrte darauf, dass dies eine Frage der Ehre sei.

So blieb Leila nichts weiter übrig, als weiterhin bei Barbara Walter zu wohnen und darauf zu warten, dass im Studentenwohnheim etwas frei wurde. Sie litt unter der Situation, obwohl sie mit der jungen Fotografin bereits Freundschaft geschlossen hatte und sich nach wie vor bei ihr wohl fühlte. Doch nach wie vor hing auch das symbolische Damoklesschwert über ihrem Kopf, nach wie vor fühlte Leila sich wie eine Schwerverbrecherin, die ihrem Vater nicht mehr unter die Augen treten konnte, obwohl sie sich doch nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Ihre Mutter besuchte sie regelmäßig, sprach ihr Mut zu und versicherte Leila immer wieder, dass sie alle auf ihrer Seite waren. Doch an der Situation änderte sich nichts.

Zwischen Aische und ihrem Vater blieb die Atmosphäre gespannt. Matthias bemühte sich zu vermitteln, aber Mehmet ging auf nichts ein. Er behandelte den jungen Arzt wieder freundlich, doch eine gewisse Distanz blieb zwischen ihnen bestehen und machte Aische sehr zu schaffen.

Schließlich meldete Falil sich wieder bei ihr.

Sie saß gerade im Schwesternzimmer, machte Pause, als der junge Mann anrief.

»Wie sieht es bei euch aus?«, wollte er wissen. »Haben sich Leila und Onkel Mehmet in der Zwischenzeit ausgesprochen?«

Aische schnaubte. »Schön wär’s. Da hat sich leider nichts getan. Und wie sieht es bei dir aus?«

»Ich bin gestern Vater geworden.«

»Herzlichen Glückwunsch! Junge oder Mädchen?«

»Ein Junge, der Stammhalter sozusagen. Mein Vater hätte bestimmt seine helle Freude daran. Wenn er es wüsste …«

»Aber, Falil, soll das heißen …«

»Magret und ich haben vor einer Woche geheiratet. Daraufhin hat mein Vater jeden Kontakt abgebrochen.« Er seufzte. »Der Riss ist also da und nicht mehr zu kitten.«

»Aber das bedeutet doch auch, dass der Verspruch hinfällig ist, dass wir diese ganze Geschichte abhaken können.«

»Deshalb rufe ich an. Du kannst Leila sagen, dass ihr vorbestimmter Bräutigam nun eine eigene Familie hat«, scherzte er lau. »Euer Vater sollte sich mit den Tatsachen abfinden, auch wenn der meine es vermutlich nicht schaffen wird.«

»Und wie soll es nun weitergehen?«

»Für uns? Keine Ahnung. Meine Mutter steht nach wie vor auf unserer Seite. Sie wird bald nach Hamburg kommen, uns besuchen. Zwischen ihr und Magret gab es ja auch nie ein Problem.«

»Und dein Vater?«

»Er wird vermutlich zu Hause bleiben und weiterhin den Beleidigten spielen. Dabei hätten wir ja mehr Grund … Aber Schwamm drüber. Ich hoffe, Onkel Mehmet wird jetzt zur Vernunft kommen. Er war ja auch wie vernagelt bei dieser Geschichte. Ich habe es bei meinem Besuch in München nicht geschafft, ihm das auszureden. Jetzt seid ihr dran.«

»Du hast Nägel mit Köpfen gemacht, uns eine gute Vorlage geliefert.«

»Das ist mir nicht schwer gefallen, ich hatte es sowieso vor«, merkte er mit leiser Ironie an. »Ich wünsche euch, dass es besser für euch läuft als zwischen mir und meinem Vater.«

»Ja, hoffen wir das Beste.«

Matthias zeigte sich erfreut, als Aische ihm von Falils Anruf berichtete. »Hast du schon mit Leila geredet?«, wollte er wissen. »Jetzt könnte sie doch eigentlich das Versteckspielen aufgeben und wieder nach Hause zurückkehren. Zumindest so lange, bis sie ein Zimmer im Wohnheim kriegt.«

»Ich habe sie gleich angerufen, nachdem ich mit Falil geredet habe. Sie ist und bleibt vorsichtig, will erst mal abwarten, wie Papa auf die Neuigkeiten reagiert.«

»Aber ihm bleibt doch jetzt nichts anderes übrig als nachzugeben. Ich meine, was er durchsetzen wollte, ist hinfällig. Denkst du, er könnte trotzdem …«

Aische seufzte. »Das weiß man nie so genau. Ich habe Mama angerufen und ihr gesagt, dass wir heute Abend zum Essen kommen. Damit bist du doch einverstanden, oder?«

»Natürlich. Vorausgesetzt, ich kann pünktlich Feierabend machen. Aber das wird schon klappen.«

Dr. Sommer wollte am frühen Abend gerade seine Station verlassen, als plötzlich seine Kollegin Dr. Christina Rohde vor ihm stand und ihn bat, ihr im OP zu assistieren.

»Ein Unfall am Ring, zwei Schwerverletzte«, ließ sie ihn knapp wissen, während sie zu den Waschräumen eilten.

Matthias dachte an Aische, doch es blieb keine Zeit, um ihr noch Bescheid zu sagen. Kaum fünf Minuten später stand er neben Dr. Rohde am OP-Tisch und musste seine ganze Konzentration auf den Eingriff richten. Ein junger Mann war mit seinem Motorrad auf einen LKW geprallt. Er und seine Sozia waren bei dem Unfall schwer verletzt worden. Der junge Mann hatte massive innere Blutungen.

»Die Milz ist nicht nur gequetscht, sondern gerissen. Wir haben auch noch Rupturen an den Nieren und im Lungengewebe.« Dr. Rohde seufzte. »Fangen wir mit der Milz an. Ich brauche ein freies Sichtfeld!«

»Blutdruck fallend, Puls erhöht«, mahnte der Narkosearzt.

»Wir müssen uns beeilen, sieht mir nach einem hämorrhagischen Schock aus«, murmelte die Chirurgin. »Herr Kollege, können Sie …«

»Kammerflimmern!«, klang die Stimme des Anästhesisten durch den OP. »Herzstillstand!« Seine Worte wurden von dem schrillen Dauerton der Anzeige am Medikamententurm unterstrichen.

»Reanimieren«, bestimmte Dr. Rohde knapp. »Schalten sie den Krach aus!«

Dr. Sommer setzte die Elektroden an, doch der elektrische Impuls brachte keine Änderung in der Anzeige. Er versuchte es noch einmal, während Dr. Rohde Adrenalin spritzte. Auch die direkte Herzmassage zeigte keinen Erfolg. Schließlich mussten die Chirurgen den Patienten aufgeben.

»Notieren Sie den Todeszeitpunkt«, wies Dr. Rohde die OP-Schwester knapp an, dann verließ sie zusammen mit Matthias Sommer den Operationssaal, um nach dem zweiten Unfallopfer zu sehen. Ihr Zustand war ernst, aber stabil.

Die beiden Chirurgen standen noch geschlagene zwei Stunden am Tisch, bis die junge Frau außer Lebensgefahr war.

Christina Rohde wies einen Pfleger an, die frisch Operierte auf Intensiv zu legen, dann bedankte sie sich bei Dr. Sommer. »Ohne Sie hätte ich es nicht geschafft. Das war gute Arbeit, präzise und perfekt.«

»Ich habe Ihnen nur zugearbeitet, Frau Kollegin«, erinnerte er sie bescheiden. »Und wir haben einen Patienten verloren.«

»Das war nicht unsere Schuld.«

»Ich weiß.« Matthias Sommer streifte die blutbefleckten, sterilen Handschuhe ab, um sich die Hände waschen zu können. »Es macht mir trotzdem immer wieder zu schaffen. Ich bin nicht gut darin, einen Patienten zu verlieren.«

»Das ist keiner von uns, glauben Sie es mir nur.«

»Sie haben mehr Routine, mehr Abstand, Frau Kollegin.«

»Das sieht nur so aus. Im OP sollte man keine persönlichen Regungen zeigen, das erschwert die Arbeit. Aber glauben Sie mir, nach ­Feierabend kommen die Gefühle schon wieder hoch. Und manchmal nicht zu knapp …«

»Das finde ich tröstlich.«

Dr. Rohde hob erstaunt die Augenbrauen, Matthias Sommer versicherte ihr: »Ich dachte, es geht nur mir so, dass ich eben noch nicht genügend Berufserfahrung habe. Aber wenn Sie das auch erleben, fühle ich mich nicht mehr unzulänglich.«

»Das sind Sie ganz bestimmt nicht, Herr Kollege. Noch mal danke, dass Sie eingesprungen sind. Und jetzt sollten Sie für heute Schluss machen, bevor noch mal was dazwischen kommt …«

Matthias zuckte zusammen, als er auf die Uhr sah. Aische! Er griff nach seinem Handy, um sie sofort anzurufen.

»Wo steckst du denn?«, wollte sie entnervt wissen. »Wir warten schon seit zwei Stunden mit dem Essen.«

»Es tut mir leid, aber es gab einen Notfall, als ich gerade gehen wollte und …«

»Habe ich mir schon gedacht. Kommst du denn jetzt?«

»Bin schon auf dem Weg«, ver­sicherte er.

*

Als Matthias eine Weile später bei den Celiks klingelte, öffnete Aische ihm und ließ ihn wissen: »Dicke Luft. Papa hat mit Habib telefoniert, nachdem ich ihm alles erzählt habe. Der ist sauer und hat seinen Frust an Papa ausgelassen. Er hat ihn einen schlechten Freund genannt. Angeblich ist nur er daran schuld, dass Falil das »Teufelsweib« geheiratet hat, wie er Magret bezeichnet. Hätte Leila sich nicht geweigert, seine Frau zu werden, dann könnte jetzt alles gut sein. Das ist sein Standpunkt. Und Papa hat ein schlechtes Gewissen.«

»Aber das ist doch Unsinn. Er muss endlich einsehen, dass die ganze Sache von Anfang an total verkorkst war und nie geklappt hätte. Selbst wenn Falil noch ungebunden gewesen wäre.«

»Sag du ihm das, vielleicht glaubt er dir.«

Matthias hob die Schultern. »Ein Versuch kann nicht schaden.«

Mehmet gab sich allerdings reserviert seinem zukünftigen Schwiegersohn gegenüber. Und als der das leidige Thema anschnitt, blockte er sogar ganz ab.

»Ich will nichts mehr davon hören«, knurrte er. »Meine Töchter haben es sich anscheinend in den Kopf gesetzt, alles, was ich sage, misszuverstehen und alles, was ich anordne, zu missachten. Ich muss mich wohl damit abfinden, ein schlechter Vater zu sein«, beschwerte er sich bitter.

»Aber, Papa, das stimmt doch nicht.«

»Es stimmt. Doch ich will nicht daran schuld sein, wenn ihr unglücklich seid. Tut, was ihr wollt, nehmt keine Rücksicht mehr auf mich. Ich werde mich nicht mehr einmischen.«

Aische legte eine Hand auf den Arm des Vaters und bat ihn versöhnlich: »Lass uns diese ganze dumme Geschichte einfach vergessen. Rede mit Leila, sprecht euch aus. Du wirst sehen, es ist gar nicht so schwer, diesen kleinen Schritt zu tun.«

»Wir wollen endlich wieder eine Familie sein, kein Haufen von Gegnern, die sich bekämpfen«, bat Fatma.

»So ist es ja nicht gewesen.« Mehmet musterte seine Frau mit leiser Ironie. »Ihr habt euch zusammengetan, gegen mich. Und das kann ich nicht so einfach vergessen. Es ging ja nicht nur um den Verspruch, es ging auch um Respekt. Und ich muss leider feststellen, dass meine Töchter mich nicht respektieren.«

»Papa, wie kannst du nur so etwas sagen? Du weißt …«

Mehmet erhob sich und blickte abweisend auf Aische nieder. »Die letzten Wochen haben mir bewiesen, dass ich in dieser Familie nichts gelte. Ihr tut, was ihr wollt. Schön, wenn ihr es so wollt, muss ich das wohl hinnehmen.«

»Mehmet, deine Familie liebt dich«, mahnte Matthias ihn. »Wir alle bemühen uns doch nur, die Harmonie wieder herzustellen. Niemand hat vor, an deiner Stellung als Familienoberhaupt zu rütteln. Wieso auch? Bis zu dieser Geschichte haben wir uns doch wirklich gut miteinander verstanden.«

»So? Davon habe ich nichts gemerkt. Wären wir tatsächlich eine harmonische Familie, hätten meine Töchter mich wohl kaum verlassen. Selbst du, Fatma, hast mir mit Scheidung gedroht.«

»Aber doch nur, weil du darauf bestanden hast, Leila zu dieser Heirat zu zwingen«, wagte sie einzuwenden.

»Der Grund ist unerheblich.« Er senkte den Blick und fuhr bekümmert fort: »Vielleicht war das ja ein Wink des Schicksals. Eine Zerreißprobe, die unsere Familie nicht bestanden hat.«

»Mehmet!« Fatma schüttelte vehement den Kopf. »Rede doch nicht so daher, dazu besteht wirklich kein Grund. Wir haben alle Fehler gemacht, aber eine Versöhnung muss doch möglich sein.«

»Wenn Leila morgen herkommt, willst du dich dann nicht mit ihr aussprechen, Papa?«, schlug Aische ihm noch einmal vor.

Doch er wehrte ab. »Ich möchte sie nicht mehr sehen. Es ist besser, wenn jeder seiner Wege geht.«

»Das kann nicht dein Ernst sein«, entsetzte sich Fatma.

»Ich habe es mir bestimmt nicht gewünscht. Aber die Dinge haben sich nun so entwickelt, dass ich keinen Weg zurück mehr sehe. Ihr habt es so gewollt, jetzt müsst ihr auch mit den Konsequenzen leben.« Damit verließ er das Zimmer.

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen, schließlich schlug Matthias vor: »Ich werde noch mal mit ihm reden.«

»Nein, lieber nicht.« Fatma lächelte ihm ein wenig zu. »Ich weiß, du meinst es gut. Aber das hätte jetzt doch keinen Sinn. Wir sollten ihm Zeit lassen, ein bisschen Abstand wahren. Zeit ist jetzt das Einzige, was uns helfen kann.«

»Dann ist es wohl auch besser, Leila kommt nicht zurück.«

Fatma seufzte schwer, denn sie vermisste ihre jüngere Tochter und wünschte sich nichts mehr, als sie endlich wieder in ihrer Nähe zu ­haben. Doch momentan schien das nicht angeraten.

»Sie hat doch ein Zimmer im Wohnheim in Aussicht …«

Aische nickte. »Ja, Mama, du hast recht. Wir sollten die Dinge wohl wirklich erst mal auf sich beruhen lassen. Eine Versöhnung kann man nun mal nicht erzwingen …«

*

Zwei Wochen später konnte Leila umziehen. Sie richtete sich das kleine Zimmer auf dem Unicampus gemütlich ein und startete in ihr erstes Semester.

Zum Einstand und Beginn eines ganz neuen Lebensabschnitts lud sie ihre Mutter, Aische, Matthias und Barbara zum Essen ein und bedankte sich bei allen für ihre Hilfe und Unterstützung. Dass der Vater fehlte, lag nicht an Leila. Sie hatte ihn angerufen und gebeten, auch zu kommen, doch er hatte rundweg abgelehnt und sich auf nichts eingelassen.

»Du musst Geduld haben«, riet die Schwester ihr. »Papa hat sich mit einigem abzufinden. Das ist nicht einfach für ihn.«

»Ich finde es schade, dass er jetzt nicht hier ist. Er könnte sehen, dass ich ein ordentliches Zimmer habe, dass da nichts ist, wofür er sich schämen muss …«

Barbara lachte. »Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, gestand Leila ihr zu. »Papa ist schließlich kein ewig Gestriger, auch wenn er sich in letzter Zeit so benommen hat.«

»Ihr werdet euch bestimmt versöhnen, es dauert nur eben seine Zeit«, sagte Fatma beschwichtigend.

Leila seufzte. »Ja, ich hoffe es sehr …«

Allerdings sah es in den kommenden Wochen nicht nach einer Versöhnung zwischen Vater und Tochter aus. Mehmet ging Aische und Matthias aus dem Weg und erwähnte nicht einmal mehr Leilas Namen. So sehr Fatma sich auch bemühte, auf ihren Mann einzuwirken, er blieb stur. Es schien, als habe der gebrochene Verspruch die Familie Celik tatsächlich auseinander gebracht.

Dann aber geschah etwas, was alles ändern sollte …

Es war ein lauer Frühsommerabend, an dem Leila noch unterwegs war. Sie hatte sich nach dem letzten Seminar mit ein paar neuen Freunden in einem Lokal in der Nähe verabredet und wollte vorher noch schnell etwas Geld am Automaten holen.

Der Geldautomat befand sich in der Nähe der Mensa, an einer eher unübersichtlichen Stelle. Leila durchquerte ein kleines Wäldchen, das zu dieser Jahreszeit gern von Liebespaaren aufgesucht wurde. Hier standen bequeme Bänke, und alles war sehr eingegrünt. Leila passierte eine Bank, auf der ein Pärchen dicht beisammen saß und Händchen hielt. Dann lief sie eine Treppe hinunter und sah schon die Mensa vor sich. Das schmucklose Gebäude aus grauem Beton stammte aus den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts und war rein zweckmäßig gebaut. Einzig die etwas größeren Fenster peppten den Eindruck ein wenig auf. Nun lag das Gebäude in der Dunkelheit des Abends, nirgends brannte Licht. Der Geldautomat war neben dem Seiteneingang angebracht worden. Leila suchte in ihrer Tasche nach der EC-Karte, als sie meinte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Sie drehte sich um, doch da war nichts. Nur die beiden großen Birken, deren Laub leise im Abendwind rauschte. Leila hob die Schultern und durchwühlte ihre Tasche. Das Teil war zwar praktisch, wenn es darum ging, ein paar Hefte und Bücher mehr unterzubringen. Doch kleinere Teile verschwanden in den Tiefen und waren wirklich schwer zu finden.

Endlich erwischte sie ihren Geldbeutel und griff zu. Im gleichen Moment hörte sie etwas. Ein leises Rascheln, dann etwas wie Schritte. War da vielleicht jemand?

Leila wurde es nun doch unbehaglich zumute, denn ihr wurde bewusst, dass sie hier ganz allein war. Die Stelle war vom Weg aus nicht einzusehen. Tagsüber herrschte immer Betrieb, aber jetzt, am Abend, war niemand in der Nähe. Vielleicht wäre es besser gewesen, früher an das Geld zu denken.

Leila schaute sich einmal gründlich um, und da sie niemanden entdecken konnte, beschloss sie, sich nicht weiter um die seltsamen Geräusche zu kümmern. Sie war von Natur aus nicht ängstlich und ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen.

Ohne auf die Umgebung zu achten, nahm sie ihre Karte heraus und schob sie in den Geldautomaten. Gleich darauf zog sie einen Zwanziger aus dem Automaten und verstaute ihn samt Karte wieder in ihrem Geldbeutel.

Na also, alles gut gegangen, sagte sie sich. Sei kein Angsthase! Beschwingt wollte sie auf den Weg zurückkehren, als plötzlich, wie aus dem Nichts, jemand vor ihr stand. Eine dunkle Gestalt, gut einen Kopf größer als Leila. Der Kerl trug ein schwarzes Hoody, dessen Kapuze er über den Kopf gezogen hatte, dazu Sporthosen und Sneaker. Eigentlich sah er ganz normal aus. Aber etwas stimmte nicht mit ihm, das spürte Leila instinktiv.

Sie wollte ihm ausweichen, doch er vertrat ihr gleich wieder den Weg, verhinderte, dass sie an ihm vorbeikam. Da nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte so unfreundlich sie konnte: »Was soll der Quatsch? Lass mich gefälligst vorbei!«

»Geld her!« Der Kerl machte einen Schritt auf Leila zu, seine Rechte schnellte vor und packte ihr Handgelenk. Und zwar so schmerzhaft fest, dass sie aufschrie. Er zog sie zu sich heran, starrte sie aus diesem schattenhaften Gesicht mit unheimlich funkelnden Augen an und wiederholte seine Forderung: »Gib mir dein Geld, aber dalli!«

»Lass mich los, oder ich schreie!« Sie versuchte, sich von ihm los zu machen, doch seine Hand war wie ein Schraubstock. Leila nahm einen unangenehmen Geruch wahr, wie Mottenkugeln, dann griff seine zweite Hand nach ihr. Da geriet sie in Panik, versetzte ihm einen harten Tritt gegen das Schienbein und riss sich mit einer heftigen Bewegung von ihm los.

Mit so viel Gegenwehr schien der Angreifer nicht gerechnet zu haben. Leila kam frei. Ein wildes Triumphgefühl erfüllte sie, während sie rückwärts torkelte. Sie wollte weglaufen, hatte aber die Treppe vergessen, deren erste Stufe direkt hinter ihr war.

Das Mädchen schlug mit dem Unterschenkel gegen die Stufe, ein heißer Schmerz durchzuckte ihr Bein. Leila strauchelte und fiel. Der Angreifer nutzte diesen Umstand. Er stürzte sich auf sie und versuchte, ihr die Tasche abzunehmen. Aber sie gab nicht so schnell auf, wehrte sich weiter verbissen.

»Gib her, du Miststück!«, schimpfte der Kerl und riss brutal an dem Umhängeriemen.

Leila wehrte ihn ab, zugleich rief sie um Hilfe. Sie dachte an das junge Pärchen auf der Bank. Sicher hörten die beiden ihre Hilferufe. Und vielleicht waren auch noch andere Leute in der Nähe. Mit diesen Gedanken machte Leila sich selbst Mut. Sie gab nicht nach, wollte dem Kerl unter keinen Umständen ihre Tasche überlassen. Fast schien es, als könnte sie ihn in die Flucht schlagen, denn er ließ kurz von ihr ab.

Leila wollte aufstehen und weglaufen, da begriff sie, dass die Gefahr noch nicht gebannt war. Im nächsten Augenblick beugte sich der Kerl über sie und hielt ihr ein Messer unter die Nase. Er kicherte irre. »Na, was sagste jetzt?«

Sie wich zurück, aber er packte sie und herrschte sie an: »Gib dein Geld her, oder ich stech dich ab!«

»Hilfe, Hilfe!« Leila schrie aus Leibeskräften.

Da sah ihr Peiniger rot. Er holte aus und stach zu. Das Mädchen spürte einen heißen Schmerz in der Brust, der sich rasend schnell in ihrem ganzen Körper auszubreiten schien und die Umgebung in grellrotes Licht tauchte. Kaum eine Sekunde später verblasste das Rot, wurde staubgrau und versank schließlich in tiefem Schwarz …

»Da hat doch jemand geschrien!«

Das Pärchen von der Parkbank erreichte Leila nur kurze Zeit später. Da hatte der Täter bereits die Flucht ergriffen. Nun kamen noch mehr Leute, und es dauerte nicht lang, bis sie die Bewusstlose mit ratlosen Mienen umstanden. Einer rief die Polizei und einen Krankenwagen, auch wenn man nicht genau erkennen konnte, was Leila fehlte. Sie lag einfach nur da wie tot.

*

»Monitor anschließen, Blutdruck, EKG, Sättigung. Ich brauche Werte, Tempo, Tempo!« Dr. Erik Berger scheuchte die Schwestern der Notfallambulanz mit knappen, gebellten Kommandos herum. Dabei schien er inmitten der Hektik die Ruhe selbst zu sein, doch das täuschte. In seinen eisblauen Augen brannte ein kaltes Licht, der unbedingte Wille zu helfen, zu retten. Das waren die Fälle, die auch einen erfahrenen Notfallmediziner an die Grenze brachten. Doch er war nicht gewillt, sich dem Druck zu beugen. Er kämpfte und war fest entschlossen zu gewinnen, dem alten Schnitter einmal mehr die Tour zu vermasseln.

»Blutdruck 60 zu 40, fallend. Puls 200, sie schmiert uns ab«, murmelte Schwester Inga, während sie eine Infusion legte.

»Hier schmiert keiner ab. Ich brauche den Herd der Blutung, da stimmt was nicht.« Dr. Berger untersuchte die Schwerverletzte mit beinahe unheimlicher Ruhe und Akribie. Selbst der Warnton, der ­einen Herzstillstand verkündete, konnte ihn nicht aus dieser Ruhe bringen.

»Reanimieren«, kommandierte er kalt.

Fünf Minuten später zeigte der Monitor wieder einen regelmäßigen Herzschlag an. Erik Berger war fündig geworden.

»Schwester Anna!« Seine Stimme knallte wie eine Peitsche durch den Behandlungsraum. »Rufen Sie oben an, wir haben hier einen Stichkanal von zwanzig Zentimetern rechts des Aortenbogens. Verdammte Schweinerei!« Er knirschte mit den Zähnen. »Wie soll man das nähen? Den Kollegen beneide ich nicht. Beeilen Sie sich, hoher Blutverlust, die Patientin war bereits ex.«

Während die Schwester zum Telefon eilte, wurde Leila für die lebensrettende Operation vorbereitet.

Nach dem Angriff auf dem Campus hatte es nur wenige Minuten gedauert, bis der Notarzt eingetroffen war. Der Zustand des Mädchens hatte sich allerdings sehr rasch verschlechtert.

Nun ging es buchstäblich um Minuten, die über Leben oder Tod entscheiden konnten.

»Ich gebe Bescheid«, sagte die Oberschwester der Chirurgie.

Schwester Aische hatte Dienst, als Leila nach oben gebracht wurde. Dr. Christina Rohde hatte bereits einen Blick auf die Röntgenbilder geworfen und wies eine der Pflegerinnen an, Matthias Sommer aus dem Feierabend zu holen. Die erfahrene Chirurgin sah sofort, dass der lebensrettende Eingriff eine hohe Präzision und eine kaum zu erreichende Kunstfertigkeit mit dem Skalpell erforderte. Sie traute sich dies nicht wirklich zu, dem Kollegen Sommer aber sehr wohl. Sie hatte gesehen, was er konnte. Gleich darauf kehrte die Pflegerin zurück und ließ sie wissen: »Es ist Leila Celik, Schwester Aisches Schwester!«

Dr. Rohde dachte kurz nach, dann bestimmte sie: »Ändern Sie die Besetzung im OP, sagen Sie Schwester Aische aber nichts. Sie soll …« Die Chirurgin verstummte, als Aische leichenblass ins Bereitschaftszimmer getorkelt kam. Dr. Rohde bekam sie eben noch zu fassen, bevor sie umkippte.

»Kümmern Sie sich um Sie, ich muss in den OP. Sagen Sie dem Kollegen Sommer, er soll sofort nachkommen, sobald er hier ist!«

»Leila …« Aische starrte fassungslos ins Leere.

»Keine Sorge, alles wird gut. Dr. Sommer wird operieren«, versicherte die Pflegerin. »Warte, ich hole dir ein Glas Wasser und etwas zur Beruhigung.«

»Ich will mich aber nicht beruhigen.« Aische holte tief Luft und straffte sich. Als sie Leila auf der Rollliege gesehen hatte, war ihr das wie ein böser Traum erschienen. Und noch immer hatte sie das Gefühl, dass dies nicht wahr sein konnte.

Am Vortag hatten sie noch miteinander telefoniert, die Schwester war fröhlich gewesen, hatte eine Menge zu erzählen gehabt. Und nun lag sie wie tot da, leichenblass, schwer verletzt. Das konnte, das durfte doch einfach nicht möglich sein! Aische lehnte das Beruhigungsmittel ab, folgte stattdessen Dr. Rohde in den Waschraum. Die Chirurgin schüttelte den Kopf. »Sie nicht, das OP-Team ist umbesetzt. Warten Sie auf Ihren Verlobten und setzen Sie ihn ins Bild.«

»Ich will zu meiner Schwester, ich muss …«

Dr. Christina Rohde bedachte Aische mit einem strengen Blick, und so klang auch ihre Stimme, als sie anordnete: »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe, oder aber ich muss Ihr Verhalten als Arbeitsverweigerung werten und entsprechende Konsequenzen ziehen. Jetzt halten Sie mich nicht länger auf!« Sie wandte sich ab und war gleich darauf im Operationssaal verschwunden.

Aische stand noch einen Moment lang unschlüssig auf dem Fleck. Sie war bemüht, ihre Gefühle und Gedanken zu ordnen, was ihr nicht eben leicht fiel. Die Angst um Leila erfüllte ihr Herz und machte es ihr unmöglich, logisch zu denken. Doch sie wusste, dass Dr. Rohde recht hatte. Panik war unprofessionell und half nun keinem, am wenigstens Leila. Aische riss sich mit Gewalt zusammen und verließ den Waschraum. Kaum fünf Minuten später traf Matthias ein. Er war ebenso verstört wie Aische. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geflüchtet, dort Schutz und Trost gesucht. Doch dafür blieb nun keine Zeit. Während der junge Chirurg sich umzog und wusch, informierte seine Verlobte ihn über alles Wichtige.

»Rette Leila«, bat sie ihn inständig, bevor er den OP betrat.

Er schaute ihr fest in die Augen und nickte, dann ging er.

Dr. Rohde arbeitete bereits mit einem Katheter am Herzen von Leila. Sie atmete auf, als Dr. Sommer neben sie trat.

»Der Stichkanal hat die Aorta nur gestreift, es gibt aber Auswölbungen, deshalb haben wir den Blutfluss abgesenkt. Das OP-Feld ist minimal und schwer einsehbar. Sie müssen den Verschluss hier setzen und es gibt nur einen Versuch, Herr Kollege«, erklärte sie ihm, während er die mikrochirurgischen Instrumente am Ende des Katheters übernahm. »Beeilen Sie sich, wir hatten eben den zweiten Herzstillstand. Ihr Zustand ist kritisch.«

»Senken Sie den Blutfluss noch einmal.«

»Aber …«

»Nur für zehn Sekunden, das genügt mir.« Dr. Matthias Sommer verdrängte den Gedanken, dass es Leilas Herz war, an dem er nun arbeitete. Er sah konzentriert auf den Monitor, brachte den Wundverschluss in die richtige Lage und schob ihn dann mit ruhiger Hand so in den Stichkanal, dass dieser versiegelt wurde. Das Ganze dauerte nicht einmal eine Minute. Dr. Rohde sah fasziniert zu. Als es geschafft war, wies sie den Narkosearzt an, die Minderung des Blutflusses zu beenden. Kurzzeitig stieg Leilas Blutdruck an, sackte dann wieder ab. Es dauerte einige Minuten, bis er sich in normalen Parametern eingependelt hatte.

»Das war’s«, seufzte Matthias. »Mehr können wir nicht tun.« Er zuckte leicht zusammen, als das OP-Team, allen voran Christina Rohde, ihm Applaus spendete.

»Eine reife Leistung«, lobte sie unverhohlen.

Der junge Chirurg schüttelte leicht den Kopf. »Warten wir ab, was die nächsten Stunden bringen.«

Auch wenn Matthias sehr viel auf die Meinung von Dr. Norden gab, seinen Rat hatte er scheinbar noch nicht beherzigt: Er wusste einfach nicht, wie er mit einem offenen Lob umgehen sollte. Fast flüchtete er aus dem Operationssaal und eilte zu Aische, die ihm über den Klinikflur vor dem OP entgegen gelaufen kam. »Wir konnten sie stabilisieren. Jetzt müssen wir abwarten.«

»Ich wusste, dass du es schaffst.« Weinend vor Erleichterung fiel sie ihm um den Hals. »Danke, Matthias, du hast meiner Schwester das Leben gerettet!«

»Hab ich gern gemacht«, sagte er lässig. »Vielleicht kann ich so wieder ein paar Pluspunkte bei deinem Vater sammeln …«

Sie schnäuzte sich und lächelte schmal. »Sei nicht immer so bescheiden. Ich muss jetzt meine Eltern anrufen. Denen steht der Schock ja noch bevor …«

*

Gut eine halbe Stunde später erreichten die Celiks die Behnisch-Klinik. Matthias hielt sich derweil auf der Intensivstation auf und kümmerte sich um Leila. Der Kollege Schulz hatte nichts dagegen, denn die Glanzleistung des jungen Chirurgen hatte sich bereits in der Klinik herum gesprochen. Auch Dr. Norden schaute auf einen Sprung vorbei und ließ sich von Dr. Sommer den Eingriff schildern. Als selbst der Klinikchef sich von seiner Leistung beeindruckt zeigte, kehrte Matthias verschämt auf seine eigene Station zurück.

Aische saß mit ihren Eltern in der Besucherecke. Fatma erhob sich sofort, als Matthias aus dem Lift trat, und eilte auf ihn zu. In ihren Augen stand die Frage, die sie nicht mehr aussprechen musste, denn er lächelte ihr aufmunternd zu und versicherte ihr: »Sie wird wieder gesund.«

»Gott sei Dank!« Fatma kamen vor Erleichterung die Tränen. Matthias führte sie zurück in die Besucherecke und setzte sich zu den anderen.

»Da war eben ein Kommissar«, erzählte Aische ihm. »Es gibt zwar keine Zeugen für den Überfall, aber ein Verdächtiger ist bereits in der Nähe der Uni festgenommen worden. Wohl ein Drogenabhängiger, der Leila berauben wollte.«

»Wie schrecklich«, entsetzte Fatma sich. »Ich dachte, auf dem Campus sind die Studenten sicher.«

»Es ist ein großes, unübersichtliches Gelände«, hielt Mathias ihr entgegen. »Dort hat jeder Zugang. Normalerweise macht man sich darüber keine Gedanken, aber so etwas kann wohl überall in der Stadt passieren, auch auf dem Campus.«

Mehmet, der die ganze Zeit schweigend neben Aische gesessen hatte, rief plötzlich aufgebracht aus: »Das ist nur meine Schuld. Ich hätte es Leila niemals erlauben dürfen, dort zu wohnen. Ich wusste doch, dass es gefährlich ist. Und jetzt liegt sie auf der Intensivstation und …« Er brach ab, sprang mit einem Ruck auf und eilte den langen Klinikflur entlang.

Aische wechselte einen fragenden Blick mit ihrer Mutter, die leise seufzte. Matthias erhob sich und folgte Mehmet. Er fand seinen Schwiegervater in spe ganz am Ende des Gangs, wo er reglos in einer Ecke stand und die Wand anstarrte.

»Mehmet, was ist los? Wieso gibst du dir die Schuld an dem, was geschehen ist? Es war ein Überfall, ein Verbrechen.«

»Es war meine Schuld«, beharrte er stur. »Ich hätte Leila davor beschützen müssen. Es war falsch, mich von ihr abzuwenden. Ich habe mich an meiner Tochter versündigt.«

»Das ist nicht wahr. Ihr hattet Streit, so was kommt vor. Leila ist erwachsen. Sie lebt ihr eigenes Leben, du kannst sie nicht vor negativen Erlebnissen beschützen.«

»Ich kann und ich muss! Schließlich ist es meine Aufgabe als ihr Vater. Aber ich habe erbärmlich versagt.«

»Mehmet …«

»Du verstehst das nicht, Matthias. Ich habe einen schlimmen Fehler begangen. Als Habib mich anrief und an den Verspruch erinnerte, da dachte ich nur an die Tradition, daran, ehrenhaft zu handeln. Diese Dinge haben in meinem Leben nie eine Rolle gespielt. Wenn du mich davor gefragt hättest, als was ich mich sehe, dann hätte ich gesagt: Ich bin Münchner mit türkischen Wurzeln. Aber die Betonung hätte auf Münchner gelegen. Habib hat mich an Dinge erinnert, die ich längst vergessen hatte. Plötzlich fühlte ich mich unzulänglich, wie ein Mann, der seine Herkunft leugnet, seinen Ahnen Schande macht. Ich wollte es richtig machen, deshalb habe ich Leila zu dieser Heirat zwingen wollen, gegen jede Vernunft. Ich habe nicht mal zugehört, als Falil extra nach München gekommen ist, um die Dinge richtigzustellen. Ich war wie besessen von dieser Sache. Und als sie sich dann quasi in Luft aufgelöst hat, fühlte ich mich leer, hilflos, wie jemand, dem man den Boden unter den Füßen wegzieht. Ich hatte völlig die Orientierung verloren. Da habe ich meinen Frust an Leila ausgelassen. Das war falsch. Ich habe sie aus dem Haus getrieben. Und es ist meine Schuld, dass sie überfallen wurde. Wäre sie daheim gewesen, hätte das nie passieren können.«

»Ich glaube nicht, dass es da einen Zusammenhang gibt. Du solltest dich deswegen nicht schuldig fühlen.«

»Ich tue es aber. Ich habe alles falsch gemacht …«

»Das stimmt doch nicht. Denk einmal an die Zeit vor dem Verspruch. Da wart ihr eine harmonische Familie. Ich glaube, dass es in jeder Familie Konflikte gibt, wenn die Kinder groß werden und eigene Wege gehen wollen. Das ist normal. Hätte dein Freund Habib dich nicht aus sehr eigennützigen Motiven heraus um Hilfe gebeten, wäre es nie so weit gekommen. Und es ist ja auch nicht zu spät, sich zu versöhnen. Wenn Leila wieder gesund ist, solltet ihr das tun. Ich weiß, dass sie nur auf ein Wort von dir wartet, Mehmet.«

»Denkst du das wirklich? Ich habe sie sehr enttäuscht.«

»Deine Töchter lieben dich, das solltest du doch wissen. Leila hat die ganze Zeit auf eine Versöhnung mit dir gewartet. Alles, was sie jetzt an Neuem und Aufregendem erlebt, das will sie nicht nur mit Aische teilen, sondern auch mit ihren Eltern. Sie weiß ja schließlich, dass ihr Vater stolz auf sie ist. Er sollte es ihr nur mal wieder sagen …«

*

Als Leila am nächsten Tag das Bewusstsein wieder erlangte, saß ihre Schwester an ihrem Bett. Aische hatte sich frei genommen, denn sie wollte ganz für die Schwester da sein, konnte sich nun doch auf nichts anderes konzentrieren.

Es hatte lange gedauert, bis Leilas Zustand sich besserte. Die schwere Verletzung und die Operation hatten ihrem Körper alles abverlangt. Und als sie nun in das vertraute Gesicht der Schwester schaute, meinte sie kurz, noch zu träumen.

Nach dem Überfall hatte sie sich in einer Art Schwebezustand befunden, irgendwo im luftleeren Raum zwischen Leben und Tod. Sie hatte seltsame Träume erlebt, beängstigende Bilder gesehen. Trotzdem hatte dieser unwirkliche Zustand auch etwas Beruhigendes gehabt. Wie ein Schutz vor der Wirklichkeit mit dem Horror, durch den sie gegangen war.

Nun kehrte ihr Bewusstsein wieder ins Hier und Jetzt zurück. Und mit ihm kamen Schmerzen, Angst und die Erinnerung an das, was sie am liebsten verdrängt, vergessen hätte.

Aische beugte sich zu ihr, nahm ihre Hand und lächelte ihr zu.

»Da bist du ja wieder, du Schlafmütze. Wie fühlst du dich?«

Leila lauschte kurz in sich hinein, dann murmelte sie: »Seltsam. Mir tut alles weh. Was … ist passiert?«

»Kannst du dich nicht erinnern?«

»Doch, ich glaube schon. Aber ich dachte, es wäre nur ein schlechter Traum gewesen …«

»Leider nicht. Du bist auf dem Campus überfallen und niedergestochen worden. Weißt du es jetzt wieder?«

Leila nickte angedeutet. »Es war furchtbar.« Sie schluckte krampfhaft, konnte aber nicht verhindern, dass ihr bei der Erinnerung an den Überfall die Tränen kamen.

»Beruhige dich«, bat Aische. »Du musst jetzt nicht darüber reden, wenn du noch nicht kannst. Ruh dich aus, ich bin hier.«

»Ich wollte nur etwas Geld am Automaten holen«, erzählte Leila mit schwacher Stimme. »Es war wohl dumm von mir, abends allein dorthin zu gehen. Aber ich dachte, da wäre außer mir niemand. Und ich habe keine Gefahr gesehen.«

»Es war einfach Pech, dass das passiert ist.«

»Papa wird sagen, es war meine eigene Schuld.«

»Unsinn. Er hat sich große Sorgen um dich gemacht und ist nur glücklich, dass es dir schon bald wieder gut gehen wird.«

»Dieser Typ, der hat mich mit einem Messer in die Brust gestochen. Es war wie ein Albtraum. Ich konnte mich nicht wehren und habe einfach das Bewusstsein verloren.«

»Du hattest sehr großes Glück. Wäre der Stich näher am Herzen gewesen …« Aische schluckte, dann fügte sie leise hinzu: »Matthias hat dir das Leben gerettet. Er hatte schon Feierabend, als du eingeliefert worden bist. Frau Dr. Rohde hat ihn zurück rufen lassen. Und die ganze Klinik spricht jetzt von seiner Leistung. Aber du solltest es besser nicht erwähnen.« Sie musste schmunzeln. »Er kann es nicht vertragen, gelobt zu werden.«

»Dann darf ich mich nicht mal bei ihm bedanken?«

»Das schon. Matthias ist nur zu bescheiden. Er ist ein brillanter Chirurg. Dr. Norden sagte, dass er noch nie einen so jungen Arzt mit solchen Fähigkeiten erlebt hat. Allerdings ist seine Bescheidenheit ebenso groß wie sein Talent als Chirurg.«

Leila lächelte angedeutet. »Er ist wirklich ein besonderer Mann. Ich fürchte, es gibt keinen zweiten von seiner Sorte.«

»Was stört dich daran?«

»Na ja, ich möchte schließlich auch irgendwann heiraten …«

Aische musste lachen. »Dir scheint es ja schon wieder ziemlich gut zu gehen. Das wird Mama und Papa freuen, sie kommen dich später besuchen. Und da ist auch ein Kommissar, der mit dir wegen des Überfalls reden will.«

Leila wurde auf einen Schlag wieder ernst.

»Hat das nicht noch ein bisschen Zeit? Ehrlich gesagt, habe ich richtig Angst davor, auch nur an diese Sache zu denken. Es war einfach zu schrecklich.«

»Das verstehe ich. Der Kommissar kann ruhig noch etwas warten. Die Polizei hat übrigens noch gestern Abend einen Verdächtigen verhaftet, der sich in der Nähe der Uni herumgetrieben hat. Wenn du wieder auf den Beinen bist, musst du ihn dir ansehen.«

»Muss ich?« Leila warf ihrer Schwester einen unbehaglichen Blick zu. »Darauf würde ich lieber verzichten.«

»Aber wenn der es war, musst du ihn identifizieren.«

»Ich habe ihn nicht gesehen. Es war dunkel, er hatte eine Kapuze über dem Kopf. Ich kann mich nur an seine Klamotten erinnern. Aber wie sein Gesicht aussieht, weiß ich nicht.«

»Die Polizei wird schon feststellen können, ob er es war. Ich glaube, sie können das über DNA-Spuren an seiner Kleidung nachweisen. Wenn er dich überfallen hat, kriegen sie ihn auch.«

Leila nickte nur. Sie hoffte, dass ihre Schwester damit recht hatte. Denn der Gedanke, dass dieser Kerl ihr irgendwann wieder über den Weg laufen könnte, jagte ihr eine Heidenangst ein.

Aische blieb noch bei ihrer Schwester, bis die Eltern später am Tag vorbeischauten. Fatma saß lange am Bett ihrer Tochter, hielt ihre Hand und war einfach nur glücklich, dass Leila lebte. Mehmet hielt sich zunächst im Hintergrund. Bevor die Eltern sich verabschieden mussten, weil die Besuchszeit vorbei war, trat er aber an Leilas Bett, strich ihr behutsam übers Haar und lächelte ihr wortlos, aber so liebevoll zu, dass ihr Herz ganz leicht und weit wurde. Diese Geste sagte ihr mehr als Worte.

Noch stand vieles zwischen Vater und Tochter. Wenn Leila wieder gesund war, kamen sie um eine offene Aussprache nicht herum.

Das Mädchen hatte sich diese schon lange gewünscht, denn es wollte sich endlich mit seinem Vater versöhnen.

Doch auch wenn sie es schafften, ihren Streit ein für alle Mal beizulegen, blieben doch noch gewisse Differenzen bestehen. Der Vater würde ihr neues Leben nicht billigen, das hatte er ihr ja schon deutlich gemacht, bevor sein alter Freund Habib so viel Unruhe und Kummer in ihrer aller Leben gebracht hatte.

Leicht würde es gewiss nicht werden, da einen Kompromiss zu finden. Doch Leila wollte sich darum bemühen. Sie liebte ihr neues Leben als Studentin, ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Aber wirklich genießen würde sie es erst können, wenn auch ihre beiden Eltern wieder zu diesem Leben dazu gehörten.

*

Bereits zwei Tage später wurde Leila von der Intensivstation auf die Chirurgie verlegt. Dr. Norden verfolgte den Fall mit besonderem Interesse und ließ sich von Matthias Sommer auf dem Laufenden halten.

»Die Heilung hat bereits eingesetzt, der Zustand der Patientin ist stabil«, berichtete der junge Chirurg dem Chefarzt am Tag nach der Verlegung. Dieser betrachtete die Befunde und nickte dabei anerkennend.

»Sieht gut aus. Gibt es denn schon etwas Neues von der Polizei? Es hieß doch, dass der mögliche Täter bereits festgenommen werden konnte.«

»Das scheint auch zu stimmen. Der Kommissar war gestern mit einem Foto des Täters bei Leila. Sie konnte ihn zwar nicht identifizieren, weil sie sein Gesicht nicht gesehen hat. Aber es gibt offenbar eindeutige DNA-Spuren, die ihn überführen.«

»Das ist erfreulich. Wissen Sie etwas über den Täter?«

»Er ist drogenabhängig und wollte sich auf diese Weise Geld für den nächsten Schuss beschaffen, wie das wohl heißt.«

Dr. Norden nickte nachdenklich. »Beschaffungskriminalität. Damit kommen wir leider auch hier immer wieder in Berührung.«

»Leila hat es bis jetzt recht gut weggesteckt. Aber wie sich der Überfall auf lange Sicht auswirken wird, muss sich erst noch zeigen. Es war ohne Zweifel ein traumatisches Erlebnis.«

»Vielleicht ziehen Sie einen Psychologen hinzu. Wir arbeiten schon länger mit einem Verein zur Opferbetreuung zusammen. Wenn Sie wollen, setze ich mich mal mit den Leuten in Verbindung und schildere den Fall.«

Dr. Sommer nickte. »Das wäre bestimmt sinnvoll. Ich werde gleich mit Leila darüber reden.«

Nach Feierabend schaute Matthias dann noch einmal bei Leila vorbei. Aische saß an ihrem Bett, die Schwestern unterhielten sich angeregt, und man konnte fast vergessen, dass Leilas Leben erst vor wenigen Tagen an einem seidenen Faden gehangen hatte.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er freundlich.

»Ziemlich gut, mein Lebensretter«, scherzte sie.

Matthias verzog den Mund und bat: »Bitte nicht schon wieder die Platte, das hatten wir doch durch, oder?«

»Es ist ja kein Lob, nur Dankbarkeit«, sagte Aische.

»Dr. Norden hat heute angeregt, dass du dich mal mit einem Psychologen unterhalten solltest«, wechselte er nun das Thema.

»Wieso denn das? Ich bin okay«, versicherte Leila.

»Es gibt Leute, die kümmern sich speziell um Opfer von Verbrechen. Es könnte dir helfen, die Sache zu verarbeiten.«

»Wenn das bedeutet, dass ich alles noch mal durchkauen soll, nein danke«, kam es abweisend von dem Mädchen. »Die Polizei hat mich schon genug ausgequetscht. Ich möchte das Ganze am liebsten vergessen und nie wieder darüber reden müssen!«

Aische machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich glaube nicht, dass Verdrängung dir helfen wird, Leila. Du hast ein Trauma erlebt, so etwas fügt einem seelischen Schaden zu, auch wenn man es vielleicht nicht sofort bemerkt.«

»Ich halte das für übertrieben.«

»Ist es nicht. Da können Angststörungen entstehen, die dein Leben in Zukunft einschränken. Dein Unterbewusstsein …«

»Hör auf damit! Seit wann bist du Psychologin?« Leila war ganz Abwehr und erinnerte ihre Schwester in diesem Moment an den Vater. Sie hatte seinen Dickkopf wirklich geerbt.

»Bin ich nicht. Aber ich habe das schon erlebt. Patienten, die einen schweren Unfall überlebt haben, sind danach oft traumatisiert. Glaub mir, Dr. Norden hat nicht umsonst zu einer psychologischen Behandlung geraten. Du solltest dir das wirklich mal durch den Kopf gehen lassen.«

Leila hob die Schultern. »Also gut. Aber ich halte es nach wie vor für überflüssig.«

»Sie ist starrsinnig, das kommt mir bekannt vor«, merkte Matthias wenig später an, als er sich mit Aische auf den Heimweg machte. »Habt ihr Celiks eigentlich alle solche Holzschädel?«

»Massiv und schwer zu beeindrucken«, spöttelte Aische.

»Ich glaube aber, dass Leila wirklich mal mit jemanden über diese Sache reden sollte, der sich auskennt.«

»Mich musst du nicht überzeugen, ich bin ganz deiner Meinung. Und ich denke mir, Leila wird es auch noch einsehen. Wir müssen ihr nur ein bisschen Zeit lassen. Sie wird ja noch eine Weile in der Behnisch-Klinik bleiben.«

*

Fatma besuchte ihre Tochter täglich in der Klinik. Sie blieb meist, bis die Besuchszeit vorbei war, und wartete auf ihren Mann, der sie abholte. Mehmet wechselte dann nur ein paar unverbindliche Worte mit seiner Tochter und freute sich, wenn es ihr wieder ein wenig besser ging. Fatma schaute sich das eine Weile an, wartete darauf, dass ihr Mann endlich Anstalten machte, sich mit Leila auszusprechen und zu versöhnen. Doch nichts geschah. Mehmet schien eine unerklärliche Scheu vor dieser Aussprache zu haben, die doch unumgänglich war.

An diesem lauen Sommerabend brachte Fatma schließlich das zur Sprache, was ihr schon eine ganze Weile auf der Seele lag.

Die Celiks saßen beim Abendessen, Mehmet gab sich einsilbig.

»Stimmt was nicht? Hattest du Ärger in der Bank?«, fragte seine Frau ihn, doch er wiegelte ab.

»Alles wie immer, kein Grund, sich Sorgen zu machen.«

»Du hast doch aber was. Und ich kann mir denken, was es ist. Das Gleiche, was auch mich belastet. Du musst dich endlich mit Leila aussprechen, dich versöhnen. Du weißt, dass sie nur auf ein Wort von dir wartet. Aber dieses Wort musst du aussprechen, das kannst nur du allein tun.«

Er seufzte und schüttelte leicht den Kopf. »Ich kann nicht, Fatma, ich bringe es einfach nicht über mich.«

Sie musterte ihn befremdet. »Mehmet, was soll das? Du wirst Leila doch nichts mehr nachtragen? Das kann ich nicht glauben!«

»Darum geht es nicht, jedenfalls nicht direkt. Und ich habe ihr nie etwas nachgetragen. Ich weiß schon lange, dass alles mein Fehler gewesen ist.«

»Was quält dich denn dann? Ich verstehe das nicht.«

Mehmet seufzte schwer. »Ich habe als Vater versagt«, klagte er sich selbst an. »Ich wollte Leila zu etwas ganz Unsinnigem zwingen, obwohl jeder versucht hat, mir das vor Augen zu führen. Ich war wie besessen von dieser Sache. Und als Habib mir dann Vorwürfe gemacht hat, da fühlte ich mich wie ein Versager.«

»Das ist Unsinn, Mehmet. Habib hat den Schwarzen Peter, ganz eindeutig. Er ist nicht in der Lage zu akzeptieren, dass die Welt sich dreht, dass Dinge sich ändern. Statt stolz auf seinen Sohn zu sein, darauf, was er erreicht hat und dass er ein zufriedenes Leben führt, wollte er ihn zwingen, so zu sein, wie er selbst sich das vorgestellt hat. Und er hat dein Vertrauen, deine Freundschaft für seine Zwecke missbraucht.«

»Ja, ich weiß. Aber als er mir Vorwürfe gemacht hat, da fühlte ich mich einfach nur schlecht. Statt mich mit Leila auszusprechen, habe ich die ganze Sache weggeschoben, wollte nichts mehr damit zu tun haben. Das war falsch.«

»Sicher war das falsch. Aber du kannst es jederzeit ändern.«

Mehmet schaute seine Frau traurig an, in seinen Augen schimmerten Tränen, als er bekannte: »Ich dachte, wir hätten Leila verloren, für immer. Da habe ich erst begriffen, wie groß der Fehler war, den ich begangen habe, und wie sehr ich unsere Töchter liebe. Ich hätte es nicht ertragen …«

Fatma nahm seine Hand, drückte sie und lächelte ihm unter Tränen zu. »Das musst du ihr sagen, sie sollte das wissen.«

Verschämt wischte er sich über die Augen und murmelte: »Ich fürchte mich vor diesem Gespräch. Nach all den Fehlern, die ich begangen habe, da habe ich doch gar kein Recht mehr, mich in Leilas Leben einzumischen. Ich habe sie unglücklich gemacht. Und meinetwegen ist sie fast gestorben.«

»Unsinn! Das musst du dir endlich aus dem Kopf schlagen. Du hast doch an dem Überfall keine Schuld.«

»Doch, ich habe mich einfach nicht mehr um Leila gekümmert. Ich bin ihr Vater und es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen.«

Fatma lächelte ein wenig. »Du willst doch nicht etwa Habib nacheifern, oder?«

»Was meinst du damit?«, stutzte ihr Mann.

»Leila ist erwachsen. Deine Rolle als Vater beschränkt sich nun darauf, da zu sein, wenn sie zu dir kommt, wenn sie dich braucht. Aber das sagt sie dir dann schon.«

»Rätst du mir ernsthaft, mich nicht mehr um sie zu kümmern?«

»Ich rate dir nur, Leila den gleichen Freiraum zuzugestehen, den Aische dir abgetrotzt hat.«

Mehmet schaute seine Frau nachdenklich an, schließlich gab er zu: »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Es ist mir bei Aische schon schwer gefallen. Aber unsere Jüngere …«

»Leila war immer eine Vatertochter, meinst du, ich weiß das nicht? Eure enge Bindung ist etwas Besonderes. Du solltest sie nicht aufs Spiel setzen, weil du immer noch das Kind in unserer Tochter siehst.«

»Meinst du denn wirklich, dass es wieder so werden könnte wie früher?«, fragte er sie unsicher.

»Ganz sicher nicht genauso, aber auf eine andere Art ebenso schön für euch beide, davon ich ich fest überzeugt. Aber nur, wenn du über deinen Schatten springst und dich mit ihr aussprichst, das ist die Voraussetzung.« Fatma warf ihrem Mann einen aufmunternden Blick zu. »Willst du es nicht morgen einfach mal versuchen? Ich wette, es wird viel leichter, als du denkst.«

»Frau, du bist wirklich sehr hartnäckig.«

»Das sind die Celik-Frauen alle. Das müssen wir auch sein, um uns gegen euch sturschädelige Männer zu behaupten.«

»Also schön«, gab Mehmet da nach. »Ich rede mit Leila. Aber noch nicht morgen. Wenn sie wieder ganz gesund ist und aus der Behnisch-Klinik entlassen wird, einverstanden?«

Fatma bedachte ihren Mann mit einem sprechenden Blick, dann gestand sie ihm zu: »Tu das, was du für richtig hältst. Ich bin damit einverstanden, solange du dich nicht drückst.«

»Das habe ich noch nie getan«, warf er sich überzeugt in die Brust. »Und ich werde nun nicht damit anfangen.«

*

Dr. Daniel Norden lächelte, als er sich an den gedeckten Frühstückstisch setzte und feststellte: »Du hättest heute doch ausschlafen können, Liebes. Bist du nur meinetwegen aufgestanden?«

Fee erwiderte sein Lächeln und schenkte Kaffee ein. »Sei nicht so eingebildet, Dan. Ich habe noch eine Menge im Haus zu tun. Wenn die Verwaltung mich schon zwingt, meine zahllosen Überstunden abzufeiern, will ich diese Zeit auch sinnvoll nutzen.« Sie bemerkte, dass er enttäuscht war, und fügte deshalb versöhnlich hinzu: »Zum Beispiel, um meinem geliebten Mann beim Frühstück Gesellschaft zu leisten.«

Er lachte leise. »Da hast du aber gerade noch mal die Kurve gekriegt, mein süßer Schatz.«

»Gekonnt ist eben gekonnt«, scherzte Fee.

»Apropos: Die Meisterleistung des Kollegen Sommer wird heute als geheilt nach Hause entlassen. Leila Celik, Schwester Aisches jüngere Schwester.«

Fee wusste Bescheid. »Die Messerattacke.«

»Eine schlimme Geschichte. Ohne die magischen Hände unseres jungen Kollegen wäre das Mädchen nun wohl kaum mehr am Leben.«

»Du bist also noch immer sehr eingenommen von Matthias Sommer.«

»Mehr denn je. Er hat nur einen Fehler: Er ist zu bescheiden. Wenn man ihn lobt, gehen sofort die Jalousien runter. Es ist ihm richtig peinlich, er hasst es offenbar, im Mittelpunkt zu stehen. Ein bisschen seltsam, finde ich.«

»Vielleicht ist er schüchtern.«

Daniel Norden hob die Schultern. »Mag sein. Ich glaube, davon habe ich schon mal gehört, kann mich aber nicht genau erinnern.«

Fee musste schmunzeln. »Das glaube ich dir, mein Schatz.«

Wenig später machte der Klinikchef sich auf den Weg zur Arbeit, während seine Frau den Hausputz in Angriff nahm. Ein paar von der Klinikverwaltung aufgezwungene freie Tage wollten schließlich sinnvoll genutzt werden. Und da Fees Mutter den Standpunkt vertreten hatte, dass man ein Haus stets von unten nach oben auf Hochglanz brachte, verzog die hübsche Blondine sich mit einem Arsenal an Reinigungsgeräten und einem resignierten Seufzer zunächst in den Keller.

Der Vorratskeller hat auch schon bessere Tage gesehen, dachte sie bei dem Blick auf die langen, staubigen Regale, die größtenteils leer waren. Hier hatten früher Marmelade, Chutney, Eingekochtes und vielerlei Kompotte von einer fleißigen Hausfrau gekündet. Doch seit die Kinder groß waren und Fee wieder ganztags arbeitete, kam sie einfach nicht mehr dazu. Sie war froh, wenn sie es im Herbst schaffte, das Obst im Garten zu ernten und einzufrieren. Dabei war DIY doch wieder angesagt, hausfrauliche Tugenden wie Einkochen, Marmelade rühren oder Gurken süß-sauer einlegen auf dem Vormarsch. Aber woher die Zeit nehmen?

Fee begann, die Regale abzustauben, dabei stieß sie am Ende der untersten Diele auf ein Behältnis, das hier so gar nichts zu suchen hatte. Es war Jannis Fernglas, ordentlich verpackt in den dazu gehörenden Köcher. Fee stutzte. Wieso hatte ihr Sohn das Teil in die hinterste Kellerecke gestopft, obwohl es doch nun eine Hauptrolle in seinem Leben spielte? Oder vielleicht doch nicht mehr?

Die hübsche Blondine pustete sich eine Locke aus der Stirn und dachte dabei scharf nach. Wann hatte sie ihren Sohn zum letzten Mal am Morgen mit diesem Ding heimkommen sehen? Sie konnte sich nicht genau erinnern, doch es schien tatsächlich schon eine Weile her zu sein. Waren da vielleicht bereits Wolken am Liebeshorizont aufgezogen? Hatte Janni sich verletzt und unglücklich zurückgezogen und litt nun stumm vor sich hin?

War Daniel nicht der Meinung gewesen, dass ihr Sohn sich schon an sie wenden würde, wenn der Liebeskummer kam?

»Da hast du dich anscheinend geirrt, Dan«, seufzte sie, schnappte sich das Fernglas und lief die Treppe hinauf.

Dési kam gerade heim, musterte die Mutter überrascht und fragte dann: »Kann ich dir was helfen?«

»Ja, das kannst du vielleicht …«

»Moment, ich ziehe nur was Altes an, dann geht’s los.«

»Nein, warte. Ich hatte da an eine andere Hilfe gedacht.« Sie hielt das Fernglas hoch. »Weißt du etwas darüber?«

Dési verzog den Mund. »Schon, aber …«

»Janni will nicht, dass ich davon erfahre?«, fragte Fee alarmiert. »Hat er denn kein Vertrauen mehr zu mir?«

»Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Er schämt sich einfach. Die Sache mit Sissi ist ziemlich in die Hose gegangen. Und jetzt tut er einfach so, als wäre nichts gewesen.«

Fee musterte ihre Tochter aufmerksam. Es schien ihr schon erstaunlich, wie einfühlsam sie sein konnte, wenn es ihrem Bruder schlecht ging, obwohl sie ihn im Normalfall mit Hingabe und Leidenschaft bis aufs Blut ärgerte.

»Wenn du ihn trösten willst, er ist in seinem Zimmer. Ich glaube, das wird er sich gerade so gefallen lassen.«

Fee lächelte.

»Danke. Und hier …« Sie drückte ihrer Tochter ein Staubtuch in die Hand. »Die Spiegel müssen poliert werden.«

»Alle?«, entsetzte Dési sich.

»Alle«, bestätigte ihre Mutter und nahm leichtfüßig die Treppe nach oben.

Das Mädchen warf einen Blick in den großen, verschnörkelten Dielenspiegel, legte das Staubtuch darunter und murmelte: »Für mich sieht der sauber aus. Solange man sich noch darin erkennen kann, ist das doch okay …«

Janni lag auf dem Bett und hörte Musik. Sofort forschte seine Mutter in seiner Miene. War er blass, sah er unglücklich aus? In beiden Fällen war ein eindeutiges »Ja« fällig. Umgehend erfüllte heißes Mitleid und der Wunsch zu trösten ihr Mutterherz.

Behutsam setzte sie sich auf die Bettkante und lächelte ihm liebevoll zu.

Janni nahm den Kopfhörer ab und fragte: »Ist was los, Mam? Soll ich was helfen?«

»Nein, eigentlich dachte ich mir, dass ich …«

Janni rückte seine Hornbrille zurecht und verzog ärgerlich den Mund. »Dési kann einfach nicht ihren großen Mund halten.«

»Aber, Liebchen, wenn du Kummer hast, sollst du doch zu mir kommen. Das hast du immer so gemacht.« Sanft strich sie ihm das Haar aus der Stirn. »Oder hast du kein Vertrauen mehr?«

»Ach, Mama, ich … will einfach nicht darüber reden.«

»Was ist vorgefallen zwischen dir und Sissi? Ich wette, es war nicht deine Schuld«, ergriff sie sofort rundum Partei für ihn.

»Doch, war es«, widersprach Janni ihr leise. »Es hat nur an mir gelegen, dass es zwischen uns nicht funktioniert hat.«

Fee riss entsetzt die Augen auf. »Das glaube ich nicht!«

»Mama, bitte …«

Sie betrachtete ihn mitfühlend. »Das hat sie dir eingeredet. Aber du darfst ihr nicht glauben. Sie ist vermutlich ein ebenso flatterhaftes Wesen wie die Schmetterlinge, die sie im Park beobachtet hat.«

Janni erwiderte ihren Blick überrascht, dann musste er lachen. »Mam, du bist einmalig. Ich hab dich lieb!«

»Ich dich auch, aber …«

»Sissi hat einen Neuen. Er ist schon Mitte zwanzig und Assi ihres Profs. Sie sagt, er hat mehr Erfahrung als ich. Und das hat ihr einfach besser gefallen.«

»Unverschämtheit«, echauffierte Fee sich. »Das ist doch nicht wahr, das war ganz bestimmt nur eine Ausrede.«

»Aber es stimmt.« Er rückte seine Brille ein wenig umständlich zurecht und gab verschämt zu: »Ich habe ja auch keine richtige Erfahrung mit Mädchen.«

Sie stutzte einen Moment, lächelte nonchalant und sagte dann überzeugt: »Du bist ein süßer, kluger Junge, alle Mädchen, die bei Sinnen sind, müssten dir zu Füßen liegen.«

»Süß, klug und unerfahren. Das waren Sissis Worte.«

»Das … das ist einfach Unsinn!«

Janni lächelte schmal. »Lass gut sein, Mam. Ich komme schon drüber weg. Danke, dass du dir immer noch Sorgen um mich machst. Aber das ist in dem Fall überflüssig. Sissi war eine Erfahrung. Eine kluge und süße Erfahrung. Ich werde sie nie vergessen.«

Fee umfing ihren Sohn mit einem Blick, der unverhohlen Stolz, aber auch ein klein wenig Bedauern ausdrückte. Janni war weitaus reifer, als sie geglaubt hatte. Er brauchte ihre Hilfe tatsächlich nicht mehr. Und das war für eine leidenschaftliche Mutter wie Fee Norden ein wirklich herber Schlag …

*

An diesem Morgen hatte Matthias Sommer Leila noch einmal gründlich untersucht. Am Vortag war sie durchleuchtet worden, nun legte der junge Arzt alle Befunde seinem Vorgesetzten vor und erläuterte: »Es gibt keine Auffälligkeiten mehr, ihr Zustand ist stabil, sie ist als genesen zu entlassen.«

Dr. Norden schaute sich alles genau an und zeigte sich damit zufrieden. »Gute Arbeit, Herr Kollege.« Dann wandte er sich an Leila und fragte sie: »Wie geht es Ihnen? Ich meine, wie ist Ihre persönliche Situation nun?«

»Den Zwangsbräutigam bin ich los. Das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir ist nach wie vor gespannt. Aber glauben Sie nur nicht, dass das an mir liegt, Herr Doktor.«

»Ich habe Ihren Vater kennengelernt und kann mir denken, dass es ihm nicht ganz leicht fällt, einen Fehler zuzugeben.«

»Ich würde mich gern mit ihm versöhnen, aber das ist leider gar nicht so einfach«, gab sie zu.

»Können Sie da nicht vermitteln, Herr Kollege?«

Matthias hob die Schultern. »Ich habe mich bemüht. Aber wie Sie bereits gesagt haben, Chef, Leilas Vater ist eine Marke für sich. Er hat einen ziemlichen Dickschädel. Und es dauert wohl seine Zeit, bis er über seinen Schatten springen kann. Wenn überhaupt …«

Wenig später kamen die Celiks, um Leila abzuholen. In den ersten Tagen sollte das Mädchen wieder daheim wohnen, Fatma wollte ihre Tochter ein wenig umsorgen und verwöhnen, bis sie sicher sein konnte, dass es ihr gut ging.

Mehmet bedankte sich bei den Ärzten und erinnerte Matthias daran, dass sie gemeinsam zu Abend essen wollten.

»Kommt nicht zu spät«, mahnte er seinen Schwiegersohn in spe. »Fatma hat sich mal wieder selbst übertroffen …«

»Da sind Sie wohl zu beneiden, Herr Kollege«, merkte Dr. Norden an, bevor er die Chirurgie verließ.

»O ja, bei den Celiks wird ausgezeichnet gekocht. Sie werden es selbst erleben können, Chef. Auf unserer Hochzeit.«

»Darauf freue ich mich schon«, versicherte Daniel.

Die Celiks fuhren noch im Studentenwohnheim vorbei, damit Leila einige ihrer Sachen holen konnte. Als sie dann heimkamen, schlug die Mutter ihr vor, sich hinzulegen und auszuruhen, bis es Mittagessen gab. Leila seufzte.

»Wenn ich so weitermache, könnt ihr mich bald rollen.«

Fatma lachte. »Höchstens in einem Fass, du Strich.«

Leila legte sich aufs Sofa, die Mutter deckte sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf schön.«

Doch daraus wurde nichts, denn Mehmet gesellte sich nun zu seiner Tochter und fragte sie, ob sie reden könnten.

»Klar. Wenn du es möchtest, Papa …«

Er schaute sie schuldbewusst an. »Es tut mir leid, alles, was passiert ist. Ich habe viele Fehler gemacht, dafür schäme ich mich. Denkst du, dass du mir trotzdem verzeihen kannst?«

»Ich wüsste nicht, was. Wir hatten Streit, weil wir verschiedener Meinung gewesen sind. Das kommt vor.«

»So einfach ist das aber nicht. Ich möchte jetzt nichts mehr totschweigen oder unter den Teppich kehren. Wir sollten ganz ehrlich zueinander sein, meine Kleine.«

»Also gut, dann sag mir, was du auf dem Herzen hast.«

»So allerlei. Zunächst die Sache mit dem Verspruch.«

Leila verdrehte die Augen. »Darüber müssen wir nun wirklich nicht mehr reden. Das hat sich doch sozusagen von selbst gelöst. Und es war ja auch nicht deine Schuld, sondern die von Onkel Habib. Wenn ich auf jemanden sauer sein wollte, dann auf ihn.«

»Heißt das, du bist nicht sauer?«

»Quatsch, warum auch? Wir haben ja eine Lösung gefunden.«

»Du kannst das so einfach vergessen?«

»Klar. Und das solltest du auch. Ich weiß, du wolltest das Richtige tun, hast gedacht, es ist auch das Beste für mich.«

»Kind, du bist so erwachsen. Ich kann das gar nicht fassen …«

»Ach, Papa, das geht von selbst. Dazu muss man nichts tun.«

»Und ich hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, weil ich geglaubt habe, ich hätte dich im Stich gelassen. Dabei brauchst du mich längst nicht mehr.«

»O doch, ich brauche dich natürlich«, widersprach sie ihm ernsthaft. »Du weißt doch, wenn ich ein Problem habe, Kummer oder nicht weiter weiß, dann komme ich immer zu dir. Das habe ich in letzter Zeit sehr vermisst.«

»Hattest du denn Kummer?«

»Hm.« Leila lächelte verschmitzt. »Mit meinem sturen Vater, der sich viel zu viel Zeit mit einer Versöhnung gelassen hat.«

Mehmet lachte leise. »Ich glaube, Falil hatte recht. Du wirst ganz bestimmt eine gute Anwältin werden.«

»Weil ich schon plädieren kann?«

»Nein, weil du den Menschen ins Herz siehst und auf den ersten Blick verstehst, was sie bewegt.«

»Ich weiß, dass du immer nur mein Bestes gewollt hast, Papa. Und ich hoffe sehr, das bleibt so. Ich habe nämlich vor, dich auch in Zukunft um Rat zu fragen.«

»Darum will ich bitten.« Er lächelte, als sie ihm um den Hals fiel, und drückte sie zärtlich an sich.

»Mein liebes Kleines, wie froh bin ich, dich endlich wieder zu haben«, sagte er dabei leise.

Leila strahlte ihn an. »Und ich erst, Papa, und ich erst!«

*

Ende August feierten Aische und Matthias Hochzeit. Obwohl sie beide die Verlobungszeit genossen hatten, schien es ihnen nun doch an der Zeit, den Bund fürs Leben zu schließen.

Fatma und Aische hatten die Planung des großen Festes übernommen, Leila hatte kräftig mitgeholfen.

Eigentlich hatte das Brautpaar ja ein kleines, überschaubares Fest feiern wollen. Doch schnell war eine lange Gästeliste zustande gekommen. Die Celiks hatten viel Verwandtschaft, Matthias drei Geschwister samt Familien. Und auf Freunde und Kollegen wollte man schließlich auch nicht verzichten.

Mehmets Skatbruder Toni Kropp war zugleich Wirt vom »Zolleck«, einer Kneipe mit großem Saal, der sich für die Familienfeier geradezu anbot. Seine Frau Marie führte einen Stand mit Blumen auf dem Viktualienmarkt und lieferte nicht nur den Brautstrauß, sondern auch die Tischdekoration.

Das Hochzeitsessen sollte aus dem Besten bestehen, was die türkische Küche zu bieten hatte, weshalb Toni Fatma gern seinen Herd überließ. Was sie zauberte, riss die Hochzeitsgäste zu wahren Begeisterungsstürmen hin. Und die mehrstöckige Torte war der Hingucker schlechthin.

Matthias hatte neben seiner Verwandtschaft auch einige Kollegen aus der Behnisch-Klinik eingeladen. Außer den Nordens war Dr. Rohde erschienen, die bei den anwesenden Junggesellen sofort für erhöhte Aufmerksamkeit sorgte.

»Geben Sie nur Acht, Frau Kollegin«, scherzte Daniel Norden. »Sonst sind Sie die nächste Braut.«

Christina Rohde lachte amüsiert und versicherte ihm: »Bisher bin ich nur mit meinem Beruf verheiratet. Glücklich.«

»Das könnte sich ändern«, merkte Fee Norden an, als ein junger Mann die Chirurgin zum Tanz aufforderte.

»Wollen wir auch mal?«, fragte Daniel seine Frau.

Sie seufzte: »Ich dachte schon, du fragst nie …«

Das Brautpaar hatte viele Hände geschüttelt und massenhaft gute Wünsche gehört. Nach dem ausgiebigen Essen saßen die Gäste dann in Gruppen zusammen und unterhielten sich angeregt.

Aische war überrascht gewesen, dass nicht nur Falil mit seiner Familie gekommen war, sondern auch seine Eltern.

»Gibt es denn mittlerweile so was wie einen Waffenstillstand zwischen deinem Vater und dir?«, fragte sie Falil.

Der lachte. »Könnte man so sagen.«

»Und wie habt ihr das geschafft?« Sie schaute Magret an, eine aparte Blondine mit klaren, rehbraunen Augen, die in dem schmalen Etuikleid sehr elegant wirkte. Dass sie erst kürzlich Mutter geworden war, sah man ihrer ranken und schlanken Figur nicht an. Sie tauschte einen vielsagenden Blick mit ihrem Mann und verriet Aische: »Mit dem ältesten Trick der Welt.« Dabei zückte sie ihr Smartphone und zeigte der Braut eine ganze Reihe zuckersüßer Babyfotos. »Habib wollte nichts davon wissen, er lehnt solche elektronischen Spielereien, wie er das nennt, rundweg ab. Also haben wir die Bilder ausgedruckt und seine Frau hat sie überall herum liegen lassen.«

»Er hatte keine Chance«, scherzte Falil. »Ein unvorsichtiger Blick, und es war um ihn geschehen …«

Während die Jungen sich darüber amüsierten, wie ein Knirps Großvaterherzen zum Schmelzen brachte, saßen die alten Freunde ebenfalls beisammen. Habib hatte dem Brautvater so einiges abzubitten. Nun stellte sich heraus, dass ihm die Freundschaft mit Mehmet doch etwas bedeutete und er den alten Freund aus Kindertagen nicht verlieren wollte.

»Du hast mich beschwindelt«, beschwerte Mehmet sich beleidigt. »Das nehme ich dir sehr übel, denn dadurch hat es in meiner Familie viel böses Blut gegeben.«

Habib nickte. Er war ein typischer anatolischer Bauer, klein und drahtig, mit abgearbeiteten Händen und einem Gesicht, in dem das Wetter seine Geschichten geschrieben hatte. In dem feinen dunklen Anzug fühlte er sich ein bisschen verkleidet. Aber dem Freund zuliebe hatte er sich fein gemacht. Und Mehmet zuliebe war er nun auch ganz offen und ehrlich.

»Es war nicht richtig, ich hätte dir gleich die Wahrheit sagen sollen«, gestand Habib ihm zu. »Aber hättest du mir dann geholfen?«

»Wobei eigentlich?« Mehmet blickte zu Falil und seiner Frau. »Die beiden sind ein schönes Paar, erfolgreich und klug. Was hast du daran auszusetzen? Von deinem Enkel ganz zu schweigen.«

Habib lächelte schmal. »Ja, sie hat einen strammen Buben geboren, das stimmt. Aber schau, Mehmet, ich passe doch nicht mehr in ihr Leben, ihre Welt. Sie müssen sich mit mir schämen.«

»So ein Unsinn! Falil ist ein guter Junge. Er würde sich nie für seinen Vater schämen. Ich kann nur hoffen, dass du dich mit den beiden versöhnt hast. Allein wegen deines Enkels.«

»Ich … habe Frieden geschlossen. Trotzdem werde ich nicht mehr nach Deutschland kommen.«

»Aber warum?«

»Der kleine Bub, er soll sich nicht schämen müssen.«

Mehmet konnte nur noch den Kopf schütteln. »Hast du denn alles vergessen, du sturer Esel? Wie war es damals, als wir Kinder waren? Die Sommerferien, die wir zusammen verbracht haben. Willst du das deinem Enkel vorenthalten? Soll er ein Stadtkind werden, das noch nie eine Ziege gesehen hat?«

Habib hob die Schultern und schwieg.

»Du bist sein Großvater. Du kannst ihm Dinge beibringen, die die anderen Kinder nicht wissen. Du kannst ihm den Teil seiner Wurzeln zeigen, den er in Hamburg nie finden wird. Denkst du denn wirklich, dass das nichts wert ist? Denn dann musst du dich tatsächlich schämen, vor dir selbst!«

»Mehmet, du bist ein kluger Kopf. Und du hast das Herz auf dem rechten Fleck.« Habib klopfte ihm die Schulter. »Ich bin froh, dich zum Freund zu haben.«

»Wir werden immer Freunde bleiben«, versicherte er.

Natürlich hatte Aische auch ihre Freundin Barbara Walter eingeladen. Und die machte sich sogleich nützlich und lieferte die Hochzeitsfotos. Sie machte auch eine Menge Aufnahmen während der Feier, unterhielt sich mit vielen Leuten und genoss das schöne Fest. Als sie Leila traf, gab es ein großes Hallo.

»Ich vermisse dich als Untermieterin«, scherzte die quirlige Fotografin. »In meiner Wohnung herrscht wieder das alte Chaos.«

Leila lachte. »Soll ich mal zum Aufräumen vorbeikommen?«

»Würdest du das tun?« Barbara stimmte in ihr Lachen ein. »War nur ein Scherz, keine Sorge. Wie geht es dir denn, Mädchen?«

Barbara war verreist gewesen, als Leila überfallen worden war, hatte aber regen Anteil am Schicksal der Freundin genommen.

»Jetzt wieder gut. Aber es war ziemlich hart …«

»Ist der Kerl, der dir das angetan hat, denn verhaftet worden?«

»Ja, er sitzt bereits im Gefängnis. Die Polizei konnte ihn noch an diesem schrecklichen Abend festnehmen. Das Messer hatte er zwar weggeworfen, aber es gab DNA-Spuren an seiner Kleidung, die eindeutig waren. Er war vorbestraft und wird viele Jahre im Gefängnis bleiben müssen. Gott sei Dank.«

»Du hast das bewundernswert weggesteckt.«

»So bewundernswert auch wieder nicht.« Leila wurde ernst, senkte den Blick und starrte in ihr halb geleertes Weinglas. »Aische und Matthias haben mir gleich geraten, mit einem Psychologen zu reden. In der Behnisch-Klinik arbeiten sie mit der Opferhilfe zusammen, die haben Spezialisten an der Hand. Ich wollte das zuerst nicht, dachte, es ist überflüssig.«

»Ich vermute, das war es nicht.«

Leila seufzte. »O nein. Nach einer Weile bekam ich nämlich Panik­attacken, wenn jemand hinter mir stand, oder wenn ich im Dunkeln draußen war. Ich fing an, mich ständig umzusehen, bei jedem Geräusch zusammen zu zucken. Und ich schaffte es nicht mal mehr, mein Zimmer zu verlassen, um zur Vorlesung zu gehen. Es war furchtbar.«

»Dann hast du eine Therapie gemacht?«

»Ja, sie läuft noch. Mittlerweile gehe ich aber nur noch einmal die Woche zu meinem Therapeuten. Ich verarbeite dieses schreckliche Erlebnis nach und nach. Aber es dauert.«

»Ja, seelische Wunden heilen langsam, ich kenne das. Mein Vater war gewalttätig, er schlug uns Kinder. Ich habe auch lange gebraucht, um damit fertig zu werden.«

»Man sieht es dir nicht an, du bist immer so fröhlich.«

Barbara hob die Schultern. »Das Leben ist zu kurz für schlechte Laune, oder?«

Leila lächelte. »Das werde ich mir merken …«

Das schöne Fest dauerte noch bis in die frühen Morgenstunden. Da waren Aische und Matthias aber bereits auf dem Weg in die Flitterwochen. Der ICE brachte sie nach Südtirol, wo sie in einem kleinen Bergdorf ungestört ihre Zweisamkeit genießen wollten.

Matthias hatte hier als Kind mit seinen Eltern oft die Ferien beim Bergsteigen verbracht. Es waren schöne Erinnerungen, die sich für den jungen Mediziner mit dem winzigen Dörfchen inmitten der majestätischen Bergwelt von Dolomiten und Ortlergruppe verbanden. Aische war noch nie dort gewesen und bewunderte die Landschaft mit wachen Augen.

Sie wohnten in einer gut ausgestatteten Berghütte, verbrachten viel Zeit in der Natur bei ausgedehnten Wanderungen. Ihre Tage waren erfüllt von Licht und Sonnenschein, blauem Himmel und weiten Matten voller Alpenrosen, Enzian und Edelweiß. Und ihre Nächte von Liebe und Leidenschaft, Zärtlichkeit und der Erfüllung, die zwei Herzen finden konnten, wenn sie nur noch einander gehören wollten.

So vergingen die Wochen wie im Flug, und schließlich hieß es, an die Heimreise zu denken. An ihrem letzten Abend standen sie eng umschlungen vor dem Fenster und betrachteten den Sonnenuntergang. Sie sprachen nicht, aber ihre Herzen verstanden sich auch so. Und sie spürten beide, dass ihr großes Glück gerade erst begonnen hatte.

Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman

Подняться наверх