Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 21
ОглавлениеEs war nicht leicht, mit dem Rettungswagen durch den dichten Feierabendverkehr zu fahren. An den meisten Kreuzungen der Münchner Innenstadt stauten sich die Autos in endlos langen Schlangen, die ein Durchkommen fast unmöglich machten. Selbst Blaulicht und lautstarke Sirenen halfen da kaum weiter. Markus Never, der als Feuerwehrmann eigentlich hinter das Lenkrad eines schwergewichtigen Löschfahrzeugs gehörte, schien das allerdings nichts ausmachen.
Ruhig und routiniert, als ginge es nicht um Leben und Tod, wich er geschickt anderen Fahrzeugen aus, schlängelte sich durch enge Rettungsgassen oder gab Gas und beschleunigte, wenn es möglich war. So fuhr er Meter um Meter weiter, ohne jede Spur von Stress oder Anspannung.
Der Beifahrersitz neben ihm war leer. Rettungssanitäter Jens Wiener kämpfte im Inneren des Wagens um das Leben ihres Patienten. Ein schwerer Schlaganfall, wie der erfahrene Sanitäter vermutete. Jens hatte deshalb entschieden, den Mann schnellstmöglich in die Klinik zu bringen.
Seit zwei Wochen fuhr Oberbrandmeister Markus Never nun schon den Rettungswagen. Halbzeit: Noch zwei weitere Wochen, und er würde wieder seinen Dienst bei der Berufsfeuerwehr verrichten. Normalerweise löschte Markus nämlich Brände oder half bei der Bergung von Unfallopfern. Nicht selten mussten er und seine Kollegen dann auch medizinische Notfallmaßnahmen bis zum Eintreffen der Rettungsärzte und Sanitäter übernehmen. Große Probleme bereitete ihnen das nicht. Schließlich hatten alle Feuerwehrleute auch eine zusätzliche Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert. Doch bei den meisten lag das schon etliche Jahre zurück. Hin und wieder die Kenntnisse aufzufrischen, das war deshalb unerlässlich. Und wo war das besser möglich als auf einem Rettungswagen?
Markus drosselte das Tempo, als er die Einfahrt zur Behnisch-Klinik nahm. Die Zentrale hatte ihr Kommen bereits angekündigt. Deshalb wunderte er sich nicht, Dr. Berger, den leitenden Notfallmediziner, und zwei Schwestern dort zu sehen. Kaum hatte Markus angehalten, eilte Erik Berger zum Heck des Rettungswagens und riss die Türen auf.
»In den Schockraum mit ihm«, entschied er nach einem kurzen Blick auf den bewusstlosen Patienten.
Der Schockraum der Aufnahme war mit allen nötigen medizinischen Geräten ausgestattet, um schwere Notfälle zu versorgen und sie zu stabilisieren, damit sie in den OP oder auf die Intensivstation gebracht werden konnten.
Dem Patienten ging es zunehmend schlechter, sodass sie den Weg bis zum Schockraum im Laufschritt zurücklegten. Hier wurde er sofort an die Überwachungsgeräte angeschlossen.
»65 Prozent Sauerstoffsättigung«, las Schwester Anna vom Oximeter ab.
»Intubation«, ordnete Erik Berger an. Nur Sekunden später führte er mit routinierten Handgriffen einen Schlauch in die Luftröhre des Mannes ein und schloss ihn an das Beatmungsgerät an.
Dr. Daniel Norden, der Chefarzt der Behnisch-Klinik, kam dazu. »Die Intensivstation weiß Bescheid«, informierte er. »Wenn er halbwegs stabil ist, kann er gleich hoch.«
Für die Männer vom Rettungsdienst war ihre Arbeit hier beendet. Das war ihre letzte Fahrt gewesen, und für sie begann nun der Feierabend. Als sie einen kurzen Abschiedsgruß in den Raum warfen, sagte Erik Berger: »He, wenn Sie noch ein bisschen Zeit haben, genehmigen Sie sich doch einen Kaffee in der Cafeteria. Und schlagen Sie unbedingt bei den Zimtschnecken zu. Die sind heute besonders gut. Ich lade Sie ein.«
Anna warf ihrer Kollegin Inga Lundmann einen bezeichnenden Blick zu, während sie eine Infusion anschloss.
»Nun lassen Sie mal gut sein, Herr Berger«, erwiderte Jens Wiener grinsend. »Sie müssen uns nicht jedes Mal einladen, wenn wir hier auftauchen. Sie werden sowieso auf ewig in unserer Schuld stehen.«
»Toll, dass Sie darauf auch noch rumreiten müssen«, grummelte Berger, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Und nun verschwinden Sie endlich, damit ich hier in Ruhe weitermachen kann. Und was meine Schulden betrifft: Dies war meine letzte Einladung. Jetzt ist Schluss!«
»Ja, ja, das haben Sie beim letzten Mal auch schon gesagt«, lachte Jens beim Hinausgehen. Auf dem Flur fragte er Markus: »Wollen wir den Zimtschnecken eine Chance geben? Du weißt, wie toll die schmecken.«
»Klar, aber wir bezahlen unsere Rechnung selbst. Berger muss mit diesem Blödsinn endlich aufhören.«
»Wird er schon. Keine Sorge. Du bist zu selten in der Notaufnahme, um ihn so gut zu kennen wie ich. In spätestens ein oder zwei Wochen ist er wieder der alte Stinkstiefel.« Jens Wiener überlegte kurz und sagte dann lächelnd: »Eigentlich ist er das jetzt schon. Er kann nur nicht den Gedanken ertragen, jemandem etwas schuldig zu sein.«
»So ein Blödsinn! Wir hatten damals doch nur unsere Arbeit gemacht.«
Das sah Dr. Daniel Norden auch so. Vor einiger Zeit hatten die Männer von der Rettungswache und der Feuerwehr in einer dramatischen Aktion Erik Berger aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen. Stundenlang hatte er dort schwerverletzt ausharren müssen, bis er endlich befreit werden konnte.
Zwei Monate waren seitdem vergangen, und Erik Berger hatte sich erstaunlich schnell von seinen Verletzungen erholt. Seit wenigen Wochen arbeitete er sogar wieder in seiner geliebten Aufnahme. Vorerst nur für einige Stunden am Tag, doch schon bald würde ihn niemand mehr davon abhalten können, sich wieder voll einzubringen. Ja, körperlich hatte er sich gut erholt, aber dass das traumatische Erlebnis noch immer an ihm nagte, blieb Daniel Norden nicht verborgen.
Nachdem Daniel zusammen mit Erik Berger den Patienten auf der ITS abgeliefert hatte, bat er seinen Notfallmediziner für ein kurzes Gespräch in sein Büro. Sofort wurde Erik misstrauisch. Es bedeutete selten etwas Gutes, wenn sein Chef ihn sprechen wollte.
Daniel konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen, als er sah, wie Berger sofort in Abwehrhaltung ging. »Entspannen Sie sich, Herr Kollege. Ich möchte mich einfach nur mit Ihnen unterhalten. Ein ganz normales Mitarbeitergespräch, das schon längst mal wieder fällig ist und für das es keinen besonderen Anlass gibt. Ich bin mir sicher, dass Frau Baumann uns einen guten Kaffee macht und ein paar von ihren Schokoladenkeksen spendiert.«
Berger brummelte irgendetwas Unverständliches, fügte sich aber in sein Schicksal und folgte Daniel in dessen Büro. Daniel war sich nicht sicher, ob er das seiner Autorität als Chefarzt zu verdanken hatte oder der Aussicht auf Kaffee und Kekse.
Daniel Norden hatte seinem Mitarbeiter nicht zu viel versprochen. Nur wenig später hatten die beiden Männer ihren heißen Kaffee vor sich stehen und einen Teller mit Keksen, die verführerisch nach dunkler Schokolade dufteten.
»Wie geht es Ihnen eigentlich, Herr Berger?«, kam Daniel gleich zum Punkt. »Konnten Sie sich gut eingewöhnen? Gibt es Probleme?«
»Sagen Sie es mir«, knurrte Berger. »Haben Sie den Eindruck, ich habe in meiner Arbeit nachgelassen und bin nicht fit genug für meinen Job?«
»Nein, überhaupt nicht«, entgegnete Daniel ruhig. »Ihr Unfall hat nichts daran ändern können, dass Sie noch immer der beste Notfallmediziner sind, den ich kenne. In der nächsten Woche endet offiziell Ihre Wiedereingliederung, und Sie werden dann wieder in Vollzeit arbeiten. Falls Sie sich dem gewachsen fühlen. Falls nicht, können wir auch …«
»Natürlich fühle ich mich dem gewachsen«, unterbrach ihn Berger beleidigt. »Mir geht es ausgezeichnet. Meine Verletzungen sind vollständig verheilt und bereiten mir keine Schwierigkeiten.«
»Und wie sieht es mit den Verletzungen aus, die für uns nicht sichtbar sind?«, fragte Daniel behutsam nach. Es war das erste Mal, dass er diese Frage so direkt stellte. Er wusste, dass das seinem Mitarbeiter nicht gefiel. Erik Berger sprach nie über persönliche Dinge oder seine Gefühle.
»Sie jetzt auch noch, Chef? Reicht es denn nicht, dass mich Ihre Frau deswegen ständig nervt?«
»Wir machen uns halt Sorgen und möchten …«
»Brauchen Sie nicht! Mir geht es super! Ich habe einen gesunden Appetit, schlafe ohne Albträume und stehe nicht vor einem Nervenzusammenbruch. Es sei denn, Sie oder Ihre Frau bringen mich dazu!« Erik war aufgesprungen und hatte sich vor Daniels Schreibtisch aufgebaut. »Warum interessieren sich bloß alle so für mein Befinden? Habe ich Ihnen jemals Anlass gegeben, meine geistige Gesundheit infrage zu stellen?«
Daniel zog die Augenbrauen hoch. »Vor oder nach Ihrem Unfall?«
»Ha, ha, sehr witzig, Chef.«
»Herr Berger, seien Sie nicht so empfindlich und setzen Sie sich wieder. Sie haben doch noch nicht mal Ihren Kaffee ausgetrunken.«
Für ein paar Sekunden schien Erik Berger ernsthaft darüber nachzudenken, aus dem Chefarztbüro zu stürmen. Daniel war froh, dass er sich schließlich dagegen entschied und wieder auf seinem Stuhl Platz nahm.
»Aber nur, um Frau Baumann nicht zu beleidigen«, knurrte er leise und bediente sich an den Schokokeksen. Kauend wollte er dann wissen: »Meine Frage vorhin meinte ich übrigens ernst. Wie kommen Sie nur darauf, dass ich noch unter den Auswirkungen der Explosion leide?«
Daniel war froh, dass sich Erik Berger auf diese Unterhaltung einlassen wollte. »Nun, zum einen liegt es einfach auf der Hand. Immerhin waren Sie in einem kalten, finsteren Loch eingesperrt gewesen und mussten nicht nur furchtbare Schmerzen erdulden, sondern auch die Einsamkeit und die Ungewissheit, ob Sie es lebend wieder hinausschaffen würden.«
Berger zuckte gleichgültig die Schultern und griff erneut bei den Keksen zu, für die er eine heimliche Leidenschaft entwickelt hatte. »Hab’ ich überstanden, und die Erinnerungen daran machen mir nichts aus«, behauptete er leichthin. »Und was gibt’s noch?«
Da Erik anscheinend bester Stimmung war, sprach Daniel aus, was ihn seit einer Weile beschäftigte: »Wenn alles wieder in Ordnung ist und Sie den Vorfall nüchtern und abgeklärt betrachten können, wundert es mich, dass Sie meinen, irgendwelche Schulden abtragen zu müssen.«
»Keine Ahnung, was Sie damit meinen«, gab Erik halbherzig zurück.
»Natürlich wissen Sie das. Sobald Ihnen jemand über den Weg läuft, der an Ihrer Rettung beteiligt war, laden Sie ihn zu Kaffee und Kuchen in die Cafeteria ein. Bitte kommen Sie gar nicht erst auf die Idee, das abzustreiten. Ich habe es vorhin selbst erlebt.«
Erik schloss den Mund wieder, den er bereits mit einem Widerspruch auf seinen Lippen geöffnet hatte, und Daniel fuhr fort: »Sie wissen doch, dass damals alle nur ihre Arbeit gemacht haben. Es besteht also kein Grund zu lebenslanger Dankbarkeit. Stellen Sie sich nur vor, alle Patienten, denen Sie im Laufe der Jahre das Leben gerettet haben, würden sich so benehmen wie Sie! Mal davon abgesehen, dass die Arbeit in der Notaufnahme vor lauter Dankesbekundungen zum Erliegen käme, würden Sie das Ganze auch als unsinnig abtun.«
»Das ist doch wohl etwas ganz anderes«, protestierte Berger schwach.
»Nein, ist es nicht, und das wissen Sie auch. Also hören Sie endlich damit auf.«
»Und wenn nicht, was wollen Sie dann machen? Sie können mir ja schlecht verbieten, ein paar Freunde zum Kaffee einzuladen.«
Daniel hätte beinahe laut aufgelacht. Normalerweise legte Erik Berger großen Wert darauf festzustellen, dass er für Freundschaften absolut nichts übrighatte.
»Was ist denn?«, fragte Erik, als Daniel dazu nichts sagte, sondern sich nur schmunzelnd in seinem Stuhl zurücklehnte. »Warum sehen Sie mich so komisch an? Darf ich keine Freunde haben?«
Er schien keine Antwort zu erwarten, denn ehe Daniel etwas sagen konnte, stand Erik auf. Er schnappte sich den Teller mit den restlichen Schokokeksen und sagte: »Ich muss wieder in die Aufnahme. Ich kann schließlich nicht den ganzen Tag hier rumsitzen und Kaffee trinken.« Und schon war er verschwunden.
*
Markus Never und Jens Wiener hatten in der Cafeteria der Behnisch-Klinik neben ihrem wohlverdienten Feierabend auch die ofenwarmen Zimtschnecken genossen und gingen nun zum Rettungswagen zurück.
»Hast du auf der Wache Bescheid gesagt, dass wir später kommen? Wäre blöd, wenn man einen Suchtrupp nach uns losschicken würde.«
»Natürlich hab’ ich das gemacht«, erwiderte Jens leicht gekränkt. »Ich vergesse nie etwas!«
Markus grinste, als er den Wagen aufschloss und ein Paar Herrenschuhe entdeckte, die dort ganz offensichtlich nicht hingehörten. Er hob sie hoch und fragte belustigt: »Du vergisst nie etwas? Und was ist mit diesen Schuhen? Wenn ich mich nicht sehr irre, gehören sie unserem letzten Patienten.«
Jens Wiener stöhnte genervt auf. »Kann ja mal passieren bei der ganzen Hektik. Gib schon her, ich bring’ sie in die Aufnahme.«
In diesem Moment klingelte sein Handy.
»Geh ran. Ich übernehme die Schuhe für dich.« Markus ließ seinem Freund keine Zeit, darauf zu reagieren, sondern machte sich mit den Schuhen in der Hand auf den Weg in die Aufnahme. Er hörte noch, wie Jens ihm ein Dankeschön hinterherrief, und bekam dafür prompt ein schlechtes Gewissen. So selbstlos und uneigennützig, wie es schien, war sein Angebot nicht. In Wahrheit fand er es sogar ausgesprochen gut, dass er noch einmal in die Notaufnahme gehen konnte. Schwester Inga hatte heute nämlich Spätdienst. Und für Schwester Inga hatte Markus eine große Schwäche. Ihr jetzt die Schuhe des Patienten zu bringen, war eine wunderbare Gelegenheit, sie noch einmal wiederzusehen. Außerdem … Wer konnte schon wissen, was vielleicht passieren würde? Womöglich hatte er ja diesmal Glück, und sie würde sich endlich mit ihm verabreden? Oft genug gefragt hatte er sie ja schon. Doch bisher hatte sie ihn immer abgewiesen.
Markus hatte die Dreißig bereits überschritten und sehnte sich nach dem, was viele seiner Kollegen und Freunde längst besaßen: eine liebevolle Ehefrau und eine Handvoll Kinder. Leider sah es nicht so aus, als würde sich sein Wunsch bald erfüllen. Nicht, dass es ihn an Angeboten mangeln würde. Markus war ein ausgesprochen gutaussehender Mann mit markanten Gesichtszügen, blonden Haaren, ausdrucksstarken blauen Augen und einem charmanten Lächeln, bei dem die meisten Frauen dahinschmolzen. Doch die eine, auf die es ihn ankam und die ihn bis in seine Träume verfolgte, gehörte leider nicht dazu. Schwester Inga aus der Notaufnahme der Behnisch-Klinik interessierte sich weder für ihn noch für sein umwerfendes Lächeln. Sie ignorierte ihn oder bedachte ihn mit einem kühlen, abschätzenden Blick, sodass er sich wie ein kleiner Schuljunge fühlte, der etwas ausgefressen hatte. So wie jetzt.
»Sind das etwa die Schuhe von dem letzten Patienten?«, fragte Inga streng.
»Äh, ja …«, stammelte Markus. »Wir hatten sie im Rettungswagen vergessen.«
»Typisch.« Ungeduldig nahm ihm Inga die Schuhe ab. »Sie fahren sie durch die Gegend, und wir müssen uns von den Patienten später vorwerfen lassen, dass wir nachlässig mit ihren Sachen umgehen.«
»Bei Ihnen klingt das gerade so, als würde uns das ständig passieren«, verteidigte sich Markus. »Außerdem wissen Sie doch selbst, wie hektisch es hier zuging, als wir den Patienten brachten.«
»Hier geht es immer hektisch zu, Herr Never«, blaffte sie ihn an. »Wenn wir deswegen alles vergessen würden, käme wahrscheinlich kein Patient lebend hier raus.«
»Übertreiben Sie nicht! Es geht hier nicht um Menschenleben, sondern um ein dämliches Paar Schuhe.« Markus ärgerte sich. Für ihn war Inga die wunderschönste Frau der Welt: zart wie eine Elfe mit einem ebenmäßigen Gesicht und ausdrucksstarken blauen Augen, einer kleinen zierlichen Nase und wundervoll geschwungenen Lippen. Er wusste, dass ihr die langen Haare wie flüssiges Gold über die Schultern fließen würden, obwohl sie sie immer hochsteckte. Nur schade, dachte er enttäuscht, dass ihr sanftmütig wirkendes Äußeres nicht ihr wahres Wesen widerspiegelt.
»Ich weiß selbst, was Sie hier leisten«, sagte er spröde. »Das gibt Ihnen aber nicht das Recht, andere Menschen so herablassend zu behandeln, nur weil sie etwas vergessen haben!«
Als Inga dazu schwieg und ihn nur mit einem vernichtenden Blick strafte, drehte er sich um und verließ die Aufnahme. Seine kindische Schwärmerei für Schwester Inga war jetzt endgültig vorbei, nahm er sich fest vor. Er musste nur noch sein dummes Herz davon überzeugen.
»Wow, den Verehrer bist du aber schnell losgeworden.«
Inga drehte sich zu Schwester Anna um. »Er war ziemlich frech«, stellte sie fest und ging nicht auf Annas Bemerkung ein.
»Für mich sah’s aus, als hätte er sich nur verteidigt, nachdem du ihn ohne Grund zur Schnecke gemacht hast.«
»So schlimm war ich doch gar nicht!«
»Du warst nahe dran, Dr. Berger alle Ehre zu machen.«
Inga schnappte kurz nach Luft. Dass Anna ihr Verhalten mit dem von Dr. Berger, dem ewig griesgrämigen Zyniker, verglich, behagte ihr gar nicht. So garstig wie er war sie nun wirklich nicht. Oder etwa doch?
»Stell die Schuhe endlich irgendwo hin«, sagte Anna lächelnd. »Ich werde sie nachher auf der ITS abgeben, wenn ich ins Labor gehe. Aber vorher wird’s Zeit für unsere Kaffeepause. Wer weiß, ob wir später noch mal dazu kommen.«
Inga arbeitete seit einigen Jahren in der Notaufnahme. Hier hatte sie bald gelernt, dass es immer klug war, ruhige Momente für eine Pause zu nutzen. Niemand konnte mit Gewissheit sagen, ob sich später noch einmal die Gelegenheit dafür bieten würde. Deshalb galt es, die Gunst der Stunde zu nutzen und das Beste aus einem leeren Wartezimmer zu machen.
Mit dem ersten Schluck Kaffee kehrte auch die Vernunft in Ingas Kopf zurück. Kleinlaut sagte sie: »Ich war wirklich ziemlich gemein und ungerecht zu ihm. Glaub mir, ich mache das nicht gern, aber … aber vielleicht hilft es ja, dass er endlich aufhört, mich so anzuschmachten.«
»Du meinst, das war deine Art, ihm zu zeigen, dass er keine Chancen bei dir hat?«
Hilflos zuckte Inga mit den Schultern. »Die nette Art hat ja nichts gebracht. Ich habe ihm auf eine nette Art schon mehrfach einen Korb gegeben.«
»Davon hast du mir nie etwas erzählt.«
»Warum sollte ich? Du hättest dann doch nur versucht, die Kupplerin zu spielen.«
Anna lachte kurz auf. »Ja, vielleicht. Aber dafür ist es nun wohl zu spät. Du hast es geschafft, dass er dich für ein gemeines Biest hält, mit dem er nichts zu tun haben will.«
Inga nickte bestätigend. »Das war der Plan.«
Das war nicht das, was Anna erwartet hatte. Die stets gut gelaunte und freundliche Inga war dafür bekannt, dass ihr Streitereien und schlechte Stimmungen zuwider waren. Selbst Schimpfwörter und Flüche wurden von ihr nicht widerspruchslos hingenommen. Da machte sie auch bei Dr. Erik Berger keine Ausnahme und scheute nicht davor zurück, ihn zu ermahnen, falls er es mal wieder übertrieb. Sobald irgendwo am Himmel Gewitterwolken aufzogen, war Inga die Erste, die schlichten wollte. Wahrscheinlich lag das daran, dass sie als Mutter von zwei lebhaften Buben oft als Friedensrichterin fungieren musste.
Nachdenklich fragte Anna: »Warum sperrst du dich eigentlich so gegen eine neue Beziehung? Dieser Feuerwehrmann ist doch einer von den Netten. Und dass er zudem noch sehr gut aussieht, schadet sicherlich auch nicht. Es gibt bestimmt sehr viele Frauen, die nicht Nein zu ihm sagen würden.«
»Dann dürfen sie sich freuen, dass er auch weiterhin zu haben ist. Ich habe nämlich schon zwei Männer, denen mein Herz gehört. Für mehr ist dort kein Platz.«
»Bist du sicher? Die beiden Männer, von denen du sprichst, sind zwei achtjährige Buben.«
»Ich weiß selbst, wie alt meine Söhne sind. Uns geht es gut, sogar sehr gut. Und das soll auch so bleiben. Eine neue Liebe kann ich in meinem Leben nicht gebrauchen. Sie würde alles kompliziert machen, und am Ende würde sie mich und meine Jungs verletzt zurücklassen.«
»Ich weiß, dass dich der Vater der Jungs sitzenließ, kaum dass er von der Schwangerschaft erfahren hatte«, erwiderte Anna mitfühlend. »Aber deswegen sind nicht alle Männer miese Verräter. Da draußen laufen viele anständige Typen rum, die es nicht verdient haben, dass du so schlecht über sie denkst – oder sie hier runterputzt wegen einer harmlosen Bagatelle.«
»Okay, ich gebe zu, das war nicht fair von mir. Aber bei allem anderen kann ich nur sagen: Nein, danke! Die Jungs und ich sind mit dem Leben, so wie es ist, sehr zufrieden. Wir brauchen keinen Mann.« Um Verständnis bittend sah sie ihre Kollegin an. »Es geht hier nicht nur um mich, Anna. Ich trage auch Verantwortung für meine Kinder und möchte ihnen Kummer und Schmerz ersparen. Ole und Malte sollen glücklich und unbeschwert aufwachsen. Sie sollen nie erfahren, wie es ist, im Stich gelassen zu werden.« Und das würde geschehen, wenn sie wieder einen Mann in ihr Leben lassen würde. Davon war sie fest überzeugt.
*
Ihre Überzeugungen brachten das schlechte Gewissen, das Inga seit dem kleinen Disput mit Markus Never quälte, nicht zum Schweigen. Während des gesamten Spätdienstes musste sie an ihn denken. Anna hatte recht, er war wirklich einer von den Netten, der ihre schroffe Art nicht verdient hatte. Bei ihrem Bestreben, sich nie wieder das Herz brechen zu lassen, war sie mit dem eines anderen Menschen sehr sorglos umgegangen.
Unruhig warf Inga einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann war dieser leidige Spätdienst endlich vorbei. Als alleinerziehende Mutter hatte sie das große Glück, nur in der Tagschicht zu arbeiten. Die Leitung der Behnisch-Klinik achtete sehr auf familienfreundliche Arbeitszeiten. Inga war immer dann im Dienst, wenn die Jungs in der Schule waren, beim Fußball-Verein oder in einem Kursus. Dass sie hin und wieder trotzdem einen Spätdienst übernahm, geschah aus freien Stücken, um ihre Kollegen zu entlasten. Ingas Nachbarin und gute Freundin Gertrud kümmerte sich dann um die Zwillinge. Gertrud, die von Ingas Söhnen liebevoll Oma Trudi genannt wurde, feierte in zwei Jahren ihren achtzigsten Geburtstag. Niemand sah ihr das Alter an, und darauf war Trudi sehr stolz. Sie war die aktivste und fitteste Seniorin, die Inga kannte. Den ganzen Tag in ihrer Wohnung vor dem Fernseher zu sitzen, kam für sie nicht infrage. Trudi zog es hinaus in die Natur oder in das bunte Treiben der Großstadt. Morgens ging sie in den Park zu ihrer Qigong-Gruppe oder zu ihren Freundinnen, mit denen sie in einem flotten Tempo eine große Nordic-Walking-Runde absolvierte. Sie hatte ein Theater-Abo und einen Bibliotheksausweis, ließ sich keine Kunstausstellung entgehen und liebte ihren Bingo-Nachmittag am Freitag.
Trotz des vollen Programms war es für Trudi selbstverständlich, auch noch Inga und ihre Söhne zu unterstützen, wenn Inga Spätdienst hatte. Sie holte die Zwillinge dann aus der Schule ab, kontrollierte die Hausaufgaben, machte ihnen das Abendbrot und brachte sie sogar ins Bett. Auch heute schliefen die beiden bereits, als ihre Mutter heimkehrte.
Inga umarmte Trudi zur Begrüßung und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, Trudi, wenn ich dich nicht hätte.«
»Ach was, du weißt doch, wie gern ich mit den Jungs zusammen bin. Und nun zieh endlich deine Jacke aus und komm in die Küche. Ich habe heute mit den beiden einen Marmorkuchen gebacken, den du unbedingt noch probieren musst.«
»Ein bisschen spät für Kuchen«, lachte Inga, aber sie gehorchte und folgte Trudi in die Küche. Auf dem kleinen Tisch aus freundlichem Kiefernholz stand ein liebevoll arrangiertes Gedeck aus hellblauem Porzellan mit einer bunten Papierserviette. Auf einer Kuchenplatte lagen die Reste eines perfekt gebackenen Marmorkuchens.
Trudi schob Inga auf die Eckbank und schenkte ihr aus einer Thermoskanne ein.
»Kein Kaffee. Kamillentee«, erklärte Trudi. »Du sollst ja auch noch einschlafen können.«
»Danke, du denkst wirklich an alles.«
Inga bediente sich am Kuchen. »Mhm, fantastisch!«, schwärmte sie mit vollem Mund. »Ein neues Rezept?«
»Ja. Den Kindern hat der Kuchen auch geschmeckt. Und noch mehr Freude hatten sie am Backen.«
»Es ist lieb, dass du dir so viel Zeit für die beiden nimmst. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne dich machen würde.«
»Ich bin gern für dich da, Inga. Und die Zwillinge sind mir ans Herz gewachsen, als wären sie meine Enkelkinder.« Ein trauriger Zug erschien um ihren Mund, als sie leise sagte: »Vielleicht sogar noch mehr. Meine eigenen Enkel sehe ich ja nur alle Jubeljahre. Die kennen ihre Oma doch kaum.« Trudis einzige Tochter war vor ein paar Jahren aus München weggezogen. Mit ihrem Mann und den Kindern lebte sie jetzt in Zürich. Trudi litt sehr darunter, dass sie ihre Familie nicht mehr so häufig sehen konnte wie früher.
»Es tut mir leid, Trudi. Ich weiß, sie fehlen dir.«
»Ach was soll’s?« Trudi blinzelte entschlossen die Tränen fort, die sich in ihre Augen geschlichen hatten. »Ich habe ja immer noch dich und die Jungs. Mir geht es also sehr gut.«
»Wirklich?«, rutschte es Inga heraus, ehe sie es verhindern konnte. Inga machte sich neuerdings Sorgen um ihre Freundin. Seit ein paar Wochen wirkte sie nicht mehr so energiegeladen wie früher und machte oft einen erschöpften Eindruck.
»Ach, Mädchen! Geht das schon wieder los? Mit mir ist alles in Ordnung. Warum machst du dir nur so viele Gedanken über mich?«
»Die Zwillinge sind recht lebhaft und können manchmal etwas anstrengend sein«, erwiderte Inga vorsichtig. Sie wusste, sie waren bei einem sehr sensiblen Thema angekommen. Trudi konnte es überhaupt nicht leiden, wenn sich Inga sorgte, dass sie ihr mit den Jungs womöglich zu viel zumutete.
»Du tust ja gerade so, als wäre ich zu alt, um auf die Kinder aufzupassen. Das bekomme ich schon noch hin.« Nun hörte sie sich ernsthaft beleidigt an, und Inga ruderte sofort zurück.
»Das weiß ich doch, Trudchen. Aber sollte es dir irgendwann zu viel werden, sag mir bitte Bescheid. Machst du das?«
»Natürlich, Kleine.« Trudi stand auf. »Nun werde ich mich mal langsam auf den Weg machen, damit du endlich ins Bett kommst. Du musst morgen wieder früh raus.«
So endete es immer, wenn Inga es wagte, Trudi wegen ihrer Gesundheit anzusprechen: Trudi reagierte empört, Inga entschuldigte sich, und dann verabschiedete sich Trudi rasch, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Inga spielte jedes Mal mit, obwohl sie wusste, dass das keine gute Lösung war. Doch weil ihr nichts Besseres einfiel, begnügte sie sich damit, ein Auge auf Trudi zu haben und zu hoffen, dass sie sich täuschte und es Trudi in Wahrheit richtig gutging.
Inga begleitete ihre Freundin zur Haustür. »Nochmals vielen Dank, Trudi.« Es wehte ein kühler Abendwind, und Inga strich sich fröstelnd über die Oberarme.
»Geh ins Haus, Kleine. Du holst dir sonst noch eine Erkältung.«
»So schnell passiert das schon nicht«, widersprach Inga, griff aber trotzdem nach ihrer Jacke, die an der Garderobe hing, und zog sie über. »Ich bleibe hier so lange stehen, bis du im Haus bist.«
»Du übertreibst mal wieder. Mein Haus liegt direkt gegenüber. Uns trennen keine dreißig Meter. Denkst du wirklich, mich wird jemand auf dem kurzen Weg überfallen? Und selbst wenn, gegen mich hätte der keine Chance. Immerhin war ich früher aktive Judoka. Meine besten Würfe beherrsche ich noch immer. Wer mich verärgert, wird das ganz sicher bereuen.«
Inga lachte. »War das eine Warnung?«
»Nicht für dich.« Trudi zwinkerte Inga zu und lief dann flink wie ein Wiesel den schmalen Weg entlang, der vom Haus zur Gartenpforte führte und von dort weiter über die Straße hinüber zu ihrem kleinen Häuschen. Wenig später stand sie vor ihrer hell erleuchteten Eingangstür, winkte noch einmal und verschwand im Haus.
Inga blieb ein paar Minuten draußen stehen und hielt ihr Gesicht in den Wind. Die abendliche Stille tat ihr gut und ließ sie vergessen, wie einsam sie sich in solchen Momenten fühlte. Sie wusste, dass Anna recht hatte: Die Jungs konnten einen Partner nicht ersetzen. Manchmal vermisste sie es, mit jemanden zusammen zu sein, der sie einfach mal in den Arm nahm oder ihr sagte, wie sehr er sie liebt.
Inga blickte ein letztes Mal zum wolkenlosen Sternenhimmel hoch und ging wieder hinein. Es war fast Mitternacht, und es wartete noch eine Menge Arbeit auf sie, bevor sie ins Bett gehen konnte. Der Geschirrspüler musste ausgeräumt werden, und im Wohnzimmer stand ein voller Korb mit Bügelwäsche, um den sie sich endlich kümmern wollte. Doch zuerst musste sie nach ihren Jungs sehen.
Die Kinderzimmer waren im Obergeschoss. Als Inga die schmale Treppe hinaufstieg, bemerkte sie ihre müden, schmerzenden Glieder besonders heftig. Der Spätdienst heute hatte ihr alles abverlangt. Die Kaffeepause mit Anna war diesmal tatsächlich ihre einzige Verschnaufpause gewesen. Kurz darauf hatte ein regelrechter Patientenansturm begonnen, der bis zu ihrem Dienstende andauerte.
Sie unterdrückte ein herzhaftes Gähnen, als sie leise Oles Tür öffnete. Es überraschte sie nicht, hier auch Malte zu finden, obwohl er ein eigenes Zimmer hatte. Ihre Söhne hatten eine besondere, sehr enge Bindung zueinander, wie sie wohl nur Zwillingen eigen war. Sie waren nicht nur Brüder, sondern auch beste Kumpels, die einfach unzertrennlich waren, selbst nachts. In jedes Kinderzimmer zwei Betten zu stellen, hatte sich deshalb als gute Lösung erwiesen.
Zärtlich strich sie ihren schlafenden Söhnen über die Haare und deckte sie ordentlich zu. Dann schlich sie, so leise, wie sie gekommen war, wieder hinaus. Auf dem Flur warf sie einen sehnsüchtigen Blick zu der Tür am Ende des Ganges, hinter der sich ihr Schlafzimmer befand. Wie gern wäre sie jetzt einfach da hineingegangen und hätte sich schlafen gelegt. Doch noch gab es unten einen vollen Geschirrspüler und einen Berg Bügelwäsche, die auf sie warteten.
Verblüfft starrte Inga wenig später in den Spüler, in dem sich nur ein paar Teller vom Abendessen befanden. Auch im Wohnzimmer wartete eine Überraschung auf sie. Glattgebügelt und akkurat zusammengelegt lag ihre Wäsche im Korb und brauchte nur noch in die Schränke gelegt zu werden.
Mit einem müden, aber glücklichen Lächeln schickte Inga ein kleines Dankgebet himmelwärts und zu dem Nachbarhaus auf der anderen Straßenseite.
*
Obwohl ihr Trudis Freundschaftsdienst eine zusätzliche Stunde Schlaf beschert hatte, war Inga noch sehr müde, als ihr Wecker am nächsten Morgen klingelte. Mit geschlossenen Augen tastete sie ihren Nachtschrank nach dem Störenfried ab und atmete erleichtert auf, als es ihr endlich gelang, den schrillen Weckton abzustellen.
Inga hatte heute Frühdienst. Nach dem gestrigen Spätdienst war das ein kurzer Dienstwechsel, der zum Glück nur sehr selten vorkam und den sie nicht bedauerte. Sie würde heute ab dem frühen Nachmittag freihaben und könnte so viel Zeit mit ihren Söhnen verbringen.
In der Küche bereitete Inga das Frühstück vor. Sie wollte gerade nach oben gehen, um Ole und Malte zu wecken, als sie das Tapsen nackter Kinderfüße hinter sich hörte.
»Na, da hat ja jemand früh ausgeschlafen.« Inga ging in die Hocke. Nur Augenblicke später konnte sie die Jungs in ihre Arme schließen und ihnen einen zärtlichen Kuss geben.
»Wir konnten nicht mehr schlafen«, erklärte Ole. »Wir haben die Jalousie gestern Abend nicht runtergemacht, und deshalb hat uns die Sonne heute wachgekitzelt.«
»Oh, schade«, rief Inga enttäuscht. »Das Wachkitzeln ist doch sonst immer meine Aufgabe. Darauf habe ich mich heute besonders doll gefreut. Und deshalb werde ich jetzt auf keinen Fall darauf verzichten.«
Malte und Ole kreischten laut auf, um anschließend in ein haltloses Lachen und Kichern auszubrechen, als sie von ihrer Mutter durchgekitzelt wurden. Ihre halbherzigen Abwehrversuche beeindruckten Inga nicht, sie wusste, dass ihre Söhne diese kleine Aktion in vollen Zügen genossen. Sie beendete sie mit einem lauten Schmatzer auf die Wangen ihrer Söhne und schickte die beiden dann nach oben, damit sie sich anziehen konnten.
»Ich mache euch heute ausnahmsweise mal warmen Kakao zum Frühstück. Also seht zu, dass ihr bald wieder runterkommt, damit er nicht kalt wird und sich eine Haut darauf bildet.«
»Iiih«, riefen Malte und Ole unisono und stürmten die Treppe hinauf.
Inga wusste, dass der heißgeliebte Kakao das große Risiko von unliebsamen Flecken auf den blütenreinen T-Shirts barg. Womöglich wäre nach dem Frühstück sogar ein Wäschewechsel fällig. Aber für die Freude, die sie ihren Söhnen mit ihrem Lieblingsgetränk machte, nahm sie das gern in Kauf. Doch zum Glück ging alles gut, sodass sie pünktlich das Haus verlassen konnten. Den kurzen Weg bis zur Schule legten sie oft zu Fuß zurück. Es war nicht weit, und Inga liebte diesen kleinen Spaziergang mit ihren Söhnen, obwohl er sie ein wenig in Zeitnot brachte. Die Fahrt mit ihrem Auto würde schneller gehen und ihr den Rückweg nach Hause ersparen. Aber sie würde auch wertvolle gemeinsame Zeit mit ihren Kindern verlieren. Und auf die wollte Inga auf keinen Fall verzichten.
Vor der Grundschule verabschiedete sie sich von den beiden mit einem Kuss und fing sich dafür die empörten Blicke ihrer Söhne ein.
Ole wischte sich demonstrativ mit der Hand über das Gesicht. »Mama, das ist voll peinlich. Wenn das nun unsere Freunde sehen! Wir sind doch keine Babys mehr!«
»Entschuldigung«, gab Inga schuldbewusst zurück. »Kommt nicht wieder vor«, setzte sie dann hinzu, obwohl sie wusste, dass sie sich nicht daran halten würde. Zumindest nicht oft.
Die ersten Meter des Nachhausewegs waren immer mit ein wenig Wehmut gepaart. Sie vermisste die beiden und wünschte sich in solchen Momenten, sie hätten mehr Zeit füreinander. Ihre Stimmung besserte sich jedoch, wenn sie das hübsche Haus mit den weißen Fensterläden an der Ecke des Dornwegs erreichte. In seinem Vorgarten schienen sich alle Blumen dieser Welt ein Stelldichein zu geben. Es gelang ihr nie, einfach daran vorbeizulaufen und dieses Blumenmeer zu ignorieren. Es war der schönste Garten des Stadtteils, und ihm gehörte ihre ganze Bewunderung. Wenigstens für ein oder zwei Minuten blieb sie jedes Mal dort stehen und bestaunte andächtig diese wundervolle Farbenpracht. Sie kannte die Besitzer des Grundstücks nicht, aber sie war fest davon überzeugt, dass es sehr glückliche Menschen waren, weil ihnen dieses kleine Paradies gehörte.
Von den sinnlichen Eindrücken, die ihr dieser traumhafte Garten schenkte, konnte Inga stundenlang zehren. Selbst als sie später in der Notaufnahme am Computer saß und Befunde eintrug, hatte sie das Gefühl, der Duft von taufrischen Pfingstrosen stiege ihr immer noch in die Nase. Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand, und ein verträumtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie an das Grundstück im Dornweg zurückdachte.
»Na, frisch verliebt?«
Inga zuckte zusammen und drehte sich um. Diese spöttische Stimme kannte sie nur zu gut. Hinter ihr stand Dr. Berger. Und nicht nur er, wie sie entgeistert feststellte. Warum hatte sie nicht mitbekommen, dass sich der Raum inzwischen gefüllt hatte? Auch Anna war mit Jens Wiener und Markus Never hereingekommen. Alle sahen sie nun erwartungsvoll an, als wären sie ernsthaft an ihrer Antwort interessiert. Die Erinnerungen an den wunderschönen Traumgarten verblassten, und in Inga machte sich eine Mischung aus Ärger und Verlegenheit breit.
»Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht, Dr. Berger«, antwortete sie schließlich gereizt.
»Kein Grund sich so aufzuregen, Schwester Inga. Glauben Sie mir, in Wahrheit interessiert sich kein Mensch für Ihr nichtexistentes Liebesleben.«
»Ich schon.« Jens Wiener zwinkerte Inga frech zu.
»Tja, da werden Sie dann wohl sehr enttäuscht sein, Herr Wiener. Unsere Schwester Inga ist nämlich verschlossen wie eine Auster, wenn es um ihr Privatleben geht.«
»Genau wie Sie, Dr. Berger«, konterte Inga.
»Ich darf das. Immerhin bin ich dafür bekannt, abweisend und eigenbrötlerisch zu sein.« Berger wandte sich an Jens und Markus. »Nur bei Ihnen mache ich eine Ausnahme, auch auf die Gefahr hin, meinen mühsam aufgebauten Ruf zu ruinieren. Wie sieht’s aus? Haben Sie Lust auf einen kleinen Abstecher in die Cafeteria? Ich lade Sie zum Essen ein.«
Inga sah, wie Markus und Jens einen raschen Blick wechselten. »Cafeteria klingt gut, aber nur, wenn wir Sie mal einladen dürfen«, erwiderte Markus dann und ließ mit seinem Tonfall keinen Zweifel daran, dass es ihm ernst war.
»Haben Sie sich mit Dr. Norden gegen mich verschworen?«, fragte Erik Berger lauernd.
»Noch nicht, aber die Idee klingt gut.« Jens Wiener lächelte den Notarzt gewinnend an: »Machen Sie nicht so ein Drama draus! Heute geben wir Ihnen mal einen aus. Was ist schon vorbei? Kommen Sie mit, und wenn Sie mögen, können wir Ihre dramatische Rettungsaktion wieder bis ins kleinste Detail durchquatschen.« Er seufzte theatralisch auf. »Zum hundertsten Mal.«
»Überredet«, gab Erik Berger zur Überraschung aller Anwesenden sofort nach. »Aber die Getränke übernehme ich.«
Bevor die Sanitäter dem Arzt folgten, blieb Jens kurz stehen, um Inga und Anna fröhlich zuzuwinken. Die Reaktion von Markus Never war verhaltener. Er nickte freundlich lächelnd in Annas Richtung, ohne Inga zu beachten, und ging dann. Inga drehte sich sofort um und starrte wieder auf den Computerbildschirm. Dabei kreisten ihre Gedanken nur um Markus. Er hatte sie ignoriert, und sie war erstaunt, dass sie das so verletzte.
»Den hast du wohl endgültig vergrault«, sagte Anna, die genau zu wissen schien, was sie beschäftigte. »Wirklich schade, ich glaube, ihr hättet gut zusammengepasst.«
»Hätten wir nicht«, erwiderte Inga verstimmt.
»Wenn du meinst.« Anna klang nicht überzeugt. Sie trat zu Inga und sah ihr über die Schulter. »Lass mich jetzt weitermachen. Du bist doch mit Steffi zum Mittag verabredet. Wenn du dich nicht beeilst, kommst du noch zu spät.«
*
In der Cafeteria war es um diese Uhrzeit übervoll. Zum Glück war es Steffi Seidel gelungen, einen gerade frei gewordenen Tisch zu bekommen. Steffi arbeitete als Kunsttherapeutin in der Behnisch-Klinik. Das hatte sie vor allem Dr. Felicitas Norden, die nicht nur die Frau des Chefarztes, sondern auch die Leiterin der Pädiatrie war, zu verdanken. Felicitas, die von ihren Freunden nur Fee genannt wurde, hatte sich für das Projekt ›Kunst heilt‹ stark gemacht. Dank ihres Engagements konnte sie dafür Fördergelder auftreiben, mit denen nun auch Steffi Seidels Stelle finanziert wurde. Für Steffi war das die Traumstelle schlechthin. Sie hatte einen Abschluss in Kunstpädagogik und Kunsttherapie.
Kranken Kindern oder Erwachsenen zu helfen, das war nach dem Studium ihr größter Wunsch gewesen. Deshalb hatte sie nicht eine Sekunde gezögert, als Fee ihr die Stelle der Kunsttherapeutin angeboten hatte. Sie hatte sofort zugegriffen und das nie bereut.
Steffi lächelte, als sie hoch blickte und jetzt ausgerechnet Fee Norden entdeckte.
»Hallo, Steffi«, sagte Fee herzlich. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
»Natürlich nicht. Ich freue mich, Sie zu sehen. Der Tisch ist groß genug für uns drei.«
»Drei?« Fee wollte sich gerade setzen und hielt nun inne. »Erwarten Sie noch jemanden? Ich möchte auf keinen Fall stören.«
»Sie stören nie, Frau Norden.« Sie wies lächelnd auf Inga, die auf sie zusteuerte. »Ich habe mich mit Schwester Inga zum Mittagessen verabredet und würde mich sehr freuen, wenn Sie uns Gesellschaft leisten. Inga wird das sicher genauso sehen.«
»Was werde ich genauso sehen?«, fragte Inga, die gerade den Tisch der beiden Frauen erreichte.
Fee begrüßte sie lachend. »Sie haben gute Ohren, Inga. Ich hatte Steffi gerade gefragt, ob es Ihnen recht ist, wenn ich meine Mittagspause mit Ihnen verbringe.«
»Ich habe ganz sicher nichts dagegen, Frau Norden. Ganz im Gegenteil.«
»Sehr schön«, entgegnete Fee strahlend. Dann sah sie von Inga zu Steffi. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich beide so gut kennen. Normalerweise haben Sie, Steffi, mit der Notfallambulanz nichts zu tun.«
Steffi nickte.
»Das stimmt. Inga und ich kennen uns auch gar nicht aus der Klinik. Ihre Söhne sind in dem Malkursus, den ich an der Grundschule gebe.«
»Sie geben also immer noch diesen Kursus? Wie schaffen Sie das neben Ihrer Arbeit?«
»Alles eine Frage von Organisation und Leidenschaft«, winkte Steffi ab. »Das Malen mit den Kiddies macht mir viel zu viel Spaß, als dass ich es aufgeben könnte. Seitdem ich hier arbeite, beginnt der Kursus allerdings etwas später. Zum Glück waren die Eltern und Kinder damit einverstanden.«
Inga nickte. »Anfangs war mir nicht wohl dabei. Der Kursus endet jetzt erst um sechs. Ich mag es nicht, wenn die Jungs um diese Uhrzeit allein unterwegs sind. Aber ich kann sie ja immer abholen, und wenn ich gerade einen Spätdienst habe, übernimmt Trudi, meine Nachbarin, das Abholen.«
»Äh, übrigens …«, begann Steffi, brach dann aber ab.
»Was ist?«, fragte Inga.
»Nichts.« Steffi schüttelte so entschieden den Kopf, dass ihre kupferrote Lockenmähne hin und her wogte. »Es ist nichts Wichtiges. Vergiss es einfach.«
Wahrscheinlich hätte sich Inga mit dieser Antwort nicht so schnell zufriedengegeben, wäre sie nicht abgelenkt gewesen. Dr. Berger hatte seine Mittagspause beendet. Zusammen mit den beiden Männern vom Rettungsdienst stand er auf und verließ die Cafeteria. Nachdenklich sah Inga dem Trio hinterher. Sie verstand nicht, warum sie Markus Nevers ablehnende Haltung so störte. Er würde sie nie wieder bitten, einen Kaffee mit ihm zu trinken. Das war es doch, was sie gewollt hatte. Warum war sie dann nicht glücklich darüber?
»Inga? Was ist denn bloß los mit dir?« Steffis Lachen brachte sie in die Wirklichkeit zurück, und es gelang ihr endlich den Blick von den drei Männern abzuwenden. »Schön, dass du wieder unter uns weilst. Ich versuche …«
»Tut mir leid, Steffi«, unterbrach Inga ihre Freundin hastig und sprang auf. »Ich muss schnell etwas erledigen. Ich bin gleich zurück.«
»Nanu, was war das denn gerade?« Steffi sah Inga verwundert hinterher.
»Es kommt also nicht jeden Tag vor, dass Inga ein paar Männern hinterherläuft?«, fragte Fee amüsiert nach.
»Natürlich nicht. Ich hätte nie gedacht, dass Inga jemals auch nur einem Mann hinterherlaufen würde. Schon gar nicht drei …«
Inga wartete, bis Erik Berger sich von den beiden anderen verabschiedet hatte und zur Notaufnahme abbog, bevor sie sich bemerkbar machte. »Herr Never!«, rief sie so laut, dass er sie hören konnte.
Als er sich überrascht zu ihr umsah, fragte sie: »Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«
Er sah sie abschätzend an, als wüsste er nicht, was er von ihrem Auftauchen halten sollte.
»Bitte«, sagte Inga hastig. Sie hatte plötzlich Angst, dass sie es diesmal war, die einen Korb bekam. »Es ist wichtig, und es dauert auch nicht lange.«
Markus nickte und wandte sich dann an Jens: »Geh doch schon mal zum Wagen. Ich komme gleich nach.«
Jens verzog enttäuscht das Gesicht. Er hätte gern erfahren, was die hübsche Inga von seinem Freund wollte. Doch es blieb ihm wohl nichts anderes übrig als zu gehen und darauf zu hoffen, dass ihm Markus später alles erzählen würde.
Inga wartete, bis Jens sie allein gelassen hatte. Sie wünschte sich, Markus würde sie nicht so ansehen, als wäre sie seine Feindin. Vielleicht war es ein Fehler gewesen herzukommen. Doch nun war es für einen Rückzieher zu spät.
»Herr Never«, begann sie stockend. »Ich möchte mich bei Ihnen für mein gestriges Verhalten entschuldigen. Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe.«
Er sah sie eine Weile schweigend an, zuckte schließlich die Schultern und sagte: »Okay.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und setzte sich in Bewegung.
»Das war’s?«, rief ihm Inga konsterniert nach. »Nur ein Okay, und dann lassen Sie mich hier einfach stehen?«
Markus hielt an und drehte sich zu ihr um. »Was wollen Sie denn noch hören?«
»Sie könnten mir wenigstens sagen, ob Sie meine Entschuldigung annehmen«, erwiderte Inga genervt.
»Ist es das, was Sie von mir wollen? Meine Vergebung?«
»Nun ja …«, druckste Inga kleinlaut herum. »Eigentlich schon, aber …« Sie holte tief Luft. »Aber ich kann es verstehen, wenn Sie sich noch immer über mich ärgern. Ich war tatsächlich ziemlich gemein. Ich bin sonst nicht so. Wirklich nicht!«
»Dann hat es also an mir gelegen?«
Inga sah es in seinen schönen blauen Augen amüsiert aufblitzen. Fast hätte sie ihm nun die Wahrheit gesagt. Beinahe wäre ihr herausgerutscht, dass sie nur so kratzbürstig war, um zu verhindern, dass zwischen ihnen etwas entstehen könnte, was nicht gut für sie war. Etwas, das ihr Angst machte und von dem sie wusste, dass es zu stark war, um es kontrollieren können. Und dass es einfacher war, Menschen vor den Kopf zu stoßen, als sich romantischen Gefühlen hinzugeben oder gar zu lieben. Es gab kaum etwas, was sie mehr fürchtete als die Liebe.
Sie machte ihr Angst, weil sie sie angreifbar und verletzlich machte. Und nicht nur sie, auch ihre Kinder.
»Nein! Nein, es hat nicht an Ihnen gelegen«, sagte Inga und kämpfte ihren inneren Aufruhr nieder. »Ich hatte einen schlechten Tag und habe meine Laune an Ihnen ausgelassen. Das war dumm von mir, und es tut mir entsetzlich leid. Es wäre schön, wenn Sie meine Entschuldigung annehmen würden, Herr Never.«
»Okay«, entgegnete er wieder, und Inga hätte fast frustriert aufgestöhnt. Doch dann schenkte er ihr ein aufrichtiges Lächeln, das ihr den Atem raubte, und sagte: »Okay, ich nehme Ihre Entschuldigung an. Vergessen wir die Geschichte einfach.«
»Danke«, hauchte Inga und sah ihm mit weichen Knien nach, als er die Klinik verließ.
Sie konnte nur hoffen, dass seine Zeit beim Rettungsdienst bald vorbei war und sie ihn nicht so bald wiedersah. Wenn er sie nämlich das nächste Mal auf einen Kaffee einlud, könnte sie ihm bestimmt nicht widerstehen.
*
»Hallo, ich bin schon da«, rief Steffi, als sie leicht außer Atem in den Zeichensaal schlitterte. Sie hatte vor der Grundschule keinen Parkplatz finden können und ihr Auto deswegen zwei Straßen weiter abstellen müssen. Nur mit einem kleinen Sprint war es ihr gelungen, sich nicht zu verspäten.
»Wieder mal auf die letzte Minute, Steffi«, wurde sie von dem süßen, aber etwas altklugen Jonas gerügt, der dafür ein leises Gekicher seiner Mitschüler einstrich.
»Aber immer noch pünktlich«, gab Steffi gut gelaunt zurück. »So, und nun lasst uns gleich beginnen! Eure Malutensilien habt ihr schon rausgeholt? Sehr schön! Beim letzten Mal haben wir ja vor allem am Hintergrund unseres Bildes gearbeitet. Toll, dass ihr alle damit so gut zurechtgekommen seid und wir nun weitermachen können.«
Inga ging die Reihen entlang und warf einen prüfenden Blick auf die Staffeleien, die vor den Kindern standen. »Ich möchte, dass ihr mutig weitermacht und keine Angst habt, euch zu vermalen. Selbst wenn mal etwas daneben gehen sollte, lässt es sich in den meisten Fällen wieder in Ordnung bringen.«
Schnell waren alle in ihre Arbeit vertieft, und eine geschäftige Stille erfüllte den Zeichensaal. Steffis Hilfe wurde kaum gebraucht. Manchmal wunderte sie sich darüber, doch dann fiel ihr ein, dass das keine Anfänger mehr waren. Einige von ihnen waren nun schon das zweite oder dritte Jahr in ihrem Kursus. Die Angst vor Staffelei und Pinsel hatten sie längst abgelegt, und die wichtigsten Maltechniken beherrschten sie wie die Profis. Die Kinder hatten bereits ein untrügliches Gespür für Farben und Formen entwickelt und waren meistens so in ihre Arbeit vertieft, dass sie Steffis Anwesenheit gar nicht bemerkten.
Nach einer Stunde musste sie die kleinen Künstler zwingen, eine kurze Brotzeit einzulegen, etwas zu trinken und sich zu bewegen, um die steifen Glieder zu lockern.
Sie ging zu Ole und Malte hinüber, die wie immer zusammenhockten. »Holt euch eure Mutter ab?«
Ole schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat heute Spätdienst. Oma Trudi kommt nachher.«
»Hm«, machte Steffi nur.
Trotzdem wusste Malte genau, was sie damit meinte. »Sie kommt ganz bestimmt«, beteuerte er. »Ich habe es ihr gestern extra noch mal gesagt. Diesmal vergisst sie es nicht.«
»Dann ist ja alles in Ordnung.« Steffi zwang sich zu einem Lächeln, das nicht von Herzen kam. Es war in den letzten Wochen zwei Mal vorgekommen, dass Trudi das Abholen vergessen hatte. Zum Glück war es Steffi aufgefallen, sodass die Zwillinge nicht allein nach Hause mussten. Dummerweise hatte sie sich von ihnen das Versprechen abringen lassen, davon nichts ihrer Mutter zu erzählen. Sie wollten nicht, dass sie sich Sorgen machte oder deswegen mit Oma Trudi stritt. Inzwischen wusste Steffi natürlich, dass Inga darüber Bescheid wissen musste. Versprechen hin oder hin.
Nach der Pause dachte Steffi nicht mehr über Oma Trudi und Inga nach. Wenn sie mit den Kindern arbeitete, blieb kein Platz für anderes. Die Zeit verging dabei immer so rasch und unbemerkt, dass Steffi sich vom Wecker ihres Handys an das Ende des Malkurses erinnern ließ. Und wie jedes Mal setzten auch heute leise, unwillige Proteste der Kinder ein, als der Klingelton erklang.
»Kannst du nicht mal vergessen, den Wecker zu stellen?«, maulte Ole. »Dann könnten wir viel länger an unseren Bildern arbeiten und müssten nicht immer schon so früh Schluss machen.«
»Früh?«, erwiderte Steffi lachend und zerzauste ihm das strohblonde Haar. »Es ist sechs Uhr! Der Tag war lang genug, besonders für euch. Und jetzt packen wir die Sachen ein und machen alles wieder sauber. In einer Woche können wir weitermachen.«
Gemeinsam stellten sie die Staffeleien in den kleinen Vorbereitungsraum, der zum Zeichensaal gehörte. Hier konnten die Bilder bis zur nächsten Malstunde trocknen.
Steffi verließ eine halbe Stunde, nachdem sich das letzte Kind von ihr verabschiedet hatte, den Raum. Sie schloss ihn ab und warf den Schlüssel in den kleinen Postkasten, der neben dem Lehrerzimmer angebracht war. Als sie aus der Schule trat, freute sie sich über die letzten Sonnenstrahlen des frühen Abends. Bei diesem herrlichen Wetter störte es sie überhaupt nicht, einen kleinen Spaziergang bis zu ihrem Wagen zu machen. Sie ging die Straße bis zu ihrem Ende entlang und bog auf die schmale Nebenstraße ab, in der ihr Auto stand. Ihre Tasche warf sie auf den Beifahrersitz. Als sie wieder hoch sah, bemerkte sie zwei Jungen, die gut zwanzig Meter entfernt den Gehweg entlang schlenderten. Ole und Malte! Wieso waren sie immer noch hier und allein unterwegs? Ärgerlich verzog Steffi ihren Mund. Hatte diese Oma Trudi etwa wieder vergessen, die beiden abzuholen?
»Das kann doch mal passieren«, verteidigte Ole seine Oma Trudi sofort, als sie bei ihnen anhielt und sie bat einzusteigen.
»Genau!«, sagte auch Malte. »Das macht Oma Trudi ja auch gar nicht mit Absicht oder weil sie uns nicht mehr gern hat. Sie ist nur manchmal etwas vergesslich. Das ist doch nicht schlimm. Außerdem sind wir ja schon groß genug und können den Weg nach Hause ganz allein gehen.«
»Natürlich, Malte«, erwiderte Steffi nur. Es stand ihr nicht zu, den beiden zu erzählen, was sie von der Angelegenheit hielt. Und es war auch nicht ihre Aufgabe, sich ein Urteil über diese Oma Trudi zu bilden oder Konsequenzen aus ihrer offensichtlichen Unzuverlässigkeit zu ziehen. Das war ganz allein Ingas Sache, und Steffi hatte nicht vor, diese weiter im Unklaren zu lassen. Doch im Moment war es wichtiger zu überlegen, was sie mit den Kindern anfangen sollte. Sie konnte die beiden nicht einfach vor ihrem Haus absetzen und sie allein lassen, bis Inga von ihrem Spätdienst heimkam. Glücklicherweise erledigte sich dieses Problem von selbst, als sie in die Straße einbog, die zu Ingas Haus führte.
»Da ist Oma Trudi!«, schrien die Jungs plötzlich aus Leibeskräften und zeigten aufgeregt nach vorn. Und da entdeckte auch Steffi die ältere Frau, die ihnen sichtlich aufgelöst entgegenlief.
»Ach, da seid ihr ja!«, rief sie freudestrahlend aus, als Steffi anhielt und die Zwillinge rausließ. »Ich habe völlig die Zeit vergessen«, gestand sie ihnen dann reumütig und schniefte sogar ein bisschen dabei. »Es tut mir so leid. Das kommt ganz bestimmt nicht wieder vor.«
»Wissen wir doch, Oma Trudi. Ist doch gar nicht so schlimm.« Ole und Malte ließen sich von der Frau, an der sie so hingen, in die Arme schließen und gaben sich dabei die größte Mühe, ihr das schlechte Gewissen auszureden. Die Szene rührte Steffi so sehr, dass sie es nicht übers Herz brachte, dieser Oma Trudi die Meinung zu sagen. So winkte sie ihr diesmal nur kurz zu und machte sich dann endlich auf ihren Heimweg. Allerdings mit dem festen Vorsatz, morgen mit Inga zu reden.
*
Als sie mit ihrem Patienten in Richtung Behnisch-Klinik fuhren, dachte Markus daran, dass heute sein letzter Tag im Rettungsdienst war. Zumindest für die nächste Zeit. Sein Praktikum, wie er es scherzhaft nannte, war vorbei. Schon morgen wäre er wieder ein Teil der Feuerwache und würde einen Feuerlöschzug oder Leiterwagen fahren. Ein Abstecher in die Behnisch-Klinik – und zu Schwester Inga – wäre dann wohl eher eine Ausnahme. Wahrscheinlich würde Inga sein Wegbleiben gar nicht bemerken. Oder sie wäre sogar froh darüber. Diese bittere Wahrheit schmerzte, aber es gab nichts, was er tun konnte. Inga hatte nie ein Hehl daraus, dass sie nicht an ihm interessiert war. Dass er es trotzdem immer wieder versucht hatte und sich dabei eine Abfuhr nach der anderen einfing, konnte er ihr noch nicht mal vorwerfen. Er hätte nicht so hartnäckig sein dürfen. Stattdessen hätte er einfach akzeptieren müssen, dass er nicht ihr Typ war. Vielleicht war es ja gut, dass er zur Feuerwache zurückging und sie nicht wiedersah. Und vielleicht bekam er sie dann endlich aus seinem Kopf. Je eher, desto besser.
Trotzdem machte sein Herz vor Freude einen kleinen Hüpfer, als er Inga jetzt in der Notaufnahme erblickte. Sie war so schön wie in seiner Erinnerung. Eigentlich noch viel schöner, und das lag allein an diesem zauberhaften Lächeln, mit dem sie den neuen Patienten und die beiden Rettungskräfte begrüßte. Für einen kurzen Moment bildete sich Markus sogar ein, dass ihr Lächeln nur ihm gegolten hatte. Natürlich wusste er, dass das nicht stimmen konnte. Sie mochte ihn ja noch nicht mal. Aber es war einfach zu schön, an diesem unschuldigen Traum festzuhalten und ihn so lange wie möglich auszukosten.
Während der Patient sofort von Schwester Anna in die Radiologie gebracht wurde, erledigten Jens und Markus den notwendigen Papierkram. Hin und wieder warf Markus einen sehnsuchtsvollen und sehr diskreten Blick zu Inga hinüber, die an ihrem Schreibtisch arbeitete.
Als sich die Tür öffnete, sah er auf. Die hübsche Rothaarige, mit der Inga vor ein paar Tagen zusammen in der Cafeteria gesessen hatte, trat ein. Für die Männer vom Rettungsdienst hatte sie nur einen kurzen, aber sehr freundlichen Gruß übrig. Ihr eigentliches Ziel war Inga.
Mit gedämpfter Stimme fragte sie: »Wollen wir unsere Mittagspause wieder zusammen machen? Ich muss etwas mit dir besprechen.«
Steffi hatte ungewöhnlich ernst geklungen, sodass Inga sofort alarmiert nachhakte: »Was ist denn los? Ist irgendetwas passiert?«
»Nein«, erwiderte Steffi gedehnt und wich Ingas forschenden Augen aus. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie das Thema ›Oma Trudi‹ wirklich ansprechen sollte.
»Geht es um meine Jungs? Haben sie etwas angestellt?«
»Nein! Sie sind die tollsten Achtjährigen, die ich kenne. Sie haben nichts angestellt, und ich bin glücklich, sie in meinem Kursus haben zu dürfen. Es geht um …« Steffi stoppte. Nein, weder der Zeitpunkt noch der Ort waren passend für so eine Unterhaltung. »Wir sehen uns dann in der Cafeteria. Bis später!«, sagte sie deshalb und rauschte davon.
Inga sah ihr ein paar Sekunden nachdenklich hinterher, bevor sie sich wieder in ihre Akten vertiefte. Steffi hatte ihr versichert, dass es mit ihren Jungs keine Probleme gab. Das reichte ihr für den Anfang. Für alles andere war später beim Mittagessen noch genügend Zeit.
Für Markus Never war es nicht so einfach, das gerade Gehörte zu verdauen. Es beschäftigte ihn, als sie die Aufnahme verließen und als er den Wagen durch die Münchner Innenstadt steuerte.
Erst als sie in der Rettungswache ankamen, glaubte er zu wissen, warum er nie eine Chance bei ihr gehabt hatte: Schwester Inga, von der er immer annahm, sie wäre frei und ungebunden, hatte zwei Kinder! Und ganz sicher auch einen Mann dazu. Warum nur hatte er nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie längst eine Familie hatte? Warum war sie in seinen Vorstellungen immer Single gewesen?
Natürlich kannte er die Antwort: Weil er es sich so sehr gewünscht hatte!
Schlecht gelaunt säuberte er zusammen mit Jens den Rettungswagen und bereitete ihn für den nächsten Einsatz vor. Plötzlich fiel ihm eine Bemerkung Bergers ein. Sprach er nicht von Ingas ›nichtexistentem Liebesleben‹? Sofort hob sich seine Stimmung, und Hoffnung flutete sein Herz. Wäre Inga in einer festen Beziehung, hätte Berger das nie gesagt. Oder vielleicht doch? Zuzutrauen wäre es ihm durchaus. Berger war nicht gerade für vollendete Umgangsformen bekannt. Es könnte also möglich sein, dass … Seine Gedanken drehten sich unaufhörlich im Kreis. Warum konnte er nicht aufhören, an Inga zu denken? Was war nur los mit ihm? Genervt stöhnte er auf und fing sich dafür einen verwunderten Blick seines Freundes ein.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Klar! Alles bestens!«, versicherte Markus hastig und schämte sich seiner Lüge nicht. Seine Schwärmerei für Inga ging niemandem etwas an. Noch nicht mal seinen besten Freund.
Auch wenn sie sich nach außen ganz ruhig gab, war Inga doch etwas nervös, als sie mittags in die Cafeteria ging.
»Also los! Spann mich nicht lange auf die Folter!«, forderte sie Steffi auf, kaum dass sie Platz genommen hatte.
Steffi verzog sofort bedauernd das Gesicht. »Eigentlich mag ich dir das gar nicht sagen, vor allem, weil ich deinen Söhnen versprochen habe dichtzuhalten. Aber ich denke, du musst es erfahren.«
»Also doch was mit den Jungs!« Inga war entsetzt.
»Nein … Ja, aber sie haben nichts angestellt oder so. Es ist nur so, dass sie ein paar Mal nicht vom Kursus abgeholt wurden. Und da ich weiß, dass es dir wichtig ist …«
»Wie bitte? Was meinst du damit? Trudi holt sie doch ab, wenn ich Spätdienst habe.«
»Früher schon. Aber in letzter Zeit hat sie es immer wieder vergessen. Malte und Ole haben dann eine ganze Weile draußen auf sie gewartet und sich dann irgendwann allein auf den Weg nach Hause gemacht.«
Inga musste erst mal schlucken, bevor sie wieder sprechen konnte. »Und wie oft kam das vor? Und warum hast du mir nichts davon erzählt?« Ihr stiegen Tränen in die Augen, als sie enttäuscht sagte: »Und warum haben Ole und Malte nichts erzählt? Sie hatten doch früher keine Geheimnisse vor mir! Was ist denn nur los? Vertrauen sie mir nicht mehr? Und du hast es auch für dich behalten, obwohl du wusstest, was los ist!«
»Bitte, Inga, beruhige dich erst mal! Es ist ja nichts passiert. Dass ich dir nichts gesagt habe, tut mir wirklich leid. Aber die Jungs hatten so gebettelt. Sie wollten ihre Oma Trudi nicht bloßstellen. Inzwischen weiß ich natürlich, wie dumm es von mir war, dir nichts davon zu sagen.«
»Und sagst du mir nun endlich, wie oft das vorkam?« Inga war sauer. Auf Steffi, auf Trudi, sogar auf ihre Lieblinge, aber vor allem auf sich. Sie trug die Hauptschuld. Sie war nicht für ihre Kinder dagewesen, sondern hatte sich blindlings auf Trudi verlassen. Wenn ihren beiden nun etwas Fürchterliches geschehen wäre?
»Gestern war es das dritte Mal«, beantwortete Steffi kleinlaut die Frage. »Sie sind aber nie allein nach Haus gegangen, Inga. Ich habe sie in meinem Wagen mitgenommen und deiner Nachbarin übergeben. Sie war dann immer sehr aufgelöst, und es war ihr schrecklich peinlich, weil sie das Abholen vergessen hatte. Mir hat sie dann fast leidgetan. Sie sah immer so unglücklich aus und schämte sich so schrecklich.«
Inga nickte bekümmert. »Trudi ist eine herzensgute Seele, der ich viel verdanke. Ihr mache ich keine Vorwürfe, sondern mir. Ich habe ihr einfach zu viel zugemutet.«
»Wie kommst du darauf? Hat sie Probleme mit deinen Kindern?«
»Nein. Zumindest weiß ich nichts davon. Wer weiß, was mir die Jungs alles verheimlicht haben. Womöglich ist das, was wir jetzt feststellen, nur die Spitze des Eisbergs. Vielleicht …«
»Vielleicht machst du dir auch viel zu viele Sorgen«, stoppte sie Steffi. »Du solltest mit ihr reden. Versuch herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Kann es sein, dass sie krank ist? Sie hat früher immer einen sehr verlässlichen Eindruck auf mich gemacht.«
»Wenn es nicht so wäre, hätte ich ihr meine Kinder nie anvertraut. Ich war mir immer ganz sicher gewesen, dass sie alles im Griff hätte. Aber in letzter Zeit …« Inga hielt inne und überlegte, wann sie begonnen hatte, sich wegen Trudi Sorgen zu machen. Oder warum.
»Was war in letzter Zeit?«, holte sie Steffi aus ihren Überlegungen zurück. »Ist irgendetwas vorgefallen?«
Inga schüttelte den Kopf. »Nein … nein, es gab nur dieses merkwürdige Gefühl, das plötzlich da war, ohne einen erkennbaren Grund. Es hat mich jedenfalls dazu gebracht, Trudi zu fragen, ob ihr das mit den Jungs zu viel wird.«
»Und was hat sie dazu gesagt?«
»Meine Frage hat sie zutiefst verletzt, und ich hatte deswegen arge Gewissensbisse.« Inga lachte freudlos auf. »Du siehst, ich bin nicht besser als du oder die Jungs. Auch ich habe meinen Mund gehalten, weil ich ihr nicht wehtun wollte. Doch während ihr nur Trudi schützen wolltet, habe ich dabei vielleicht meine Kinder in Gefahr gebracht.«
*
Inga wartete vor der Schule auf Ole und Malte, um sie zu ihrem Fußballtraining zu bringen. Ihr wurde warm ums Herz, als sie sah, wie sie aus der Schule stürmten. Ein Lächeln brachte ihre Gesichter zum Leuchten, als sie ihre Mutter entdeckten. Inga stieg aus dem Wagen aus, damit sie sie umarmen konnte, auch wenn sie ihr deswegen wieder Vorwürfe machen würden. Heute war es ihr egal. Heute war sie einfach nur froh, dass sie sie in ihre Arme schließen konnte.
»O Mann, Mama«, stöhnte Ole genervt auf, als die Umarmung zu lange dauerte. Geschickt wand er sich heraus und sprang auf den Rücksitz des Wagens, um sich anzuschnallen. Nur Sekunden später saß sein Bruder neben ihm. Mit einem kurzen Augenrollen gaben sie sich gegenseitig zu verstehen, wie sehr sie sich für das gefühlsduselige Verhalten ihrer Mutter schämten.
»Mädchen«, sagte Ole schließlich kopfschüttelnd und brachte es damit auf den Punkt.
»Mädchen?«, fragte Inga sofort neugierig nach, als sie sich hinters Lenkrad setzte. »Habt ihr gerade von Mädchen gesprochen?«
Ole kicherte. »Nö, von dir.«
»Ja, weil du doch auch ein Mädchen bist und dich deshalb immer so seltsam benimmst«, ergänzte Malte glucksend.
»He, ich bin nicht seltsam! Seid froh, dass ich jetzt mit dem Autofahren beschäftigt bin, sonst würde ich euch für diese ungeheuerliche Bemerkung die Ohren langziehen!«
»Ja, bis zu unseren Knien«, lachte Ole.
»Oder bis zum Fußboden«, legte Malte noch eins drauf.
»Nein, bis zum Nordpol!«
»Bis zum Mond, bis zum Mond!«
Inga hörte den beiden amüsiert zu, wie sie versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Eigentlich wollte sie die Autofahrt nutzen, um mit ihnen über Trudi zu sprechen. Aber dies war nicht der richtige Moment dafür. Ole und Malte waren ausgelassen und vergnügt. Warum sollte sie die gute Stimmung kaputtmachen? Vielleicht würde sie in vielen Jahren einmal gerührt an diese Szene im Auto zurückdenken. Sie würde sich daran erinnern, wie schön und unbekümmert die Kindheit ihrer Söhne gewesen war. Dass sie einfach nur zwei unbeschwerte, fröhliche Jungen waren, die sich die Fahrt zum Fußballtraining mit albernen Wortgefechten verkürzten. Inga wollte diese künftige, wunderschöne Erinnerung nicht mit Ermahnungen oder kritischen Worten beflecken. Wenn sie später daran zurückdenken würde, wollte sie es mit der Gewissheit machen, dass sie ihren Söhnen ihr unbekümmertes Lachen gelassen hatte.
Inga setzte die Zwillinge beim Fußballverein ab und fuhr weiter. Sie hatte jetzt zwei Stunden Zeit, um ungestört mit Trudi zu sprechen. Den Wagen parkte sie in ihrer Einfahrt. Dann ging sie über die Straße rüber zu Trudis Haus. Noch bevor sie klingeln konnte, riss ihre Nachbarin die Tür auf und sah sie erstaunt an.
»Inga, wie schön!«, rief sie aus. Als ihr Blick auf das Kuchenpaket in Ingas Händen fiel, stutze sie. »Waren wir etwa verabredet? Ich weiß gar nicht … Ich muss es vergessen haben … Wie peinlich …«
»Nein! Nein, wir waren nicht verabredet«, fiel Inga ihr schnell ins Wort. »Ich hatte ganz spontan die Idee, bei dir vorbeizuschauen.« Sie sah auf die Handtasche, die über Trudis Schulter hing. »Aber wie ich sehe, komme ich ungelegen. Du wolltest gerade los.«
»Ach was!« Trudi winkte ab. »Ich wollte mir nur die Beine vertreten und mal schauen, ob ich im ›Café Meyer‹ jemanden zum Ratschen finde. Komm rein, Inga. Ich freue mich über deinen Besuch. Du bist mir doch sowieso mein liebster Gast.«
»Danke, das ist nett, dass du das sagst«, freute sich Inga und folgte Trudi ins Haus. Inga mochte ihre Nachbarin, die ihr in den letzten Jahren in schier ausweglosen Situationen selbstlos und ohne nachzufragen beigestanden hatte und ihr eine gute Freundin gewesen war. Mehr als das, wie Inga auf einmal klar wurde.
Trudi war zu einem Teil ihrer Familie geworden. Und deshalb fiel es ihr auch so schwer, das Thema, das ihr seit der Unterhaltung mit Steffi auf den Nägeln brannte, anzusprechen. Sie wollte Trudi keine Vorwürfe machen oder ihr wehtun. Doch sie musste unbedingt herausbekommen, was los war. Nicht nur wegen der Sicherheit ihrer Jungs, sondern auch aus Sorge um Trudi.
Erst als sie bei der zweiten Tasse Kaffee angekommen waren, sprach Inga behutsam den eigentlichen Grund ihres Hierseins an: »Ich habe mich heute mit Steffi Seidel zum Mittagessen getroffen.«
»Steffi Seidel?«, fragte Trudi und überlegte angestrengt, woher sie diesen Namen kannte.
»Sie arbeitet an der Behnisch-Klinik als Kunsttherapeutin«, half Inga weiter. »Du kennst sie auch. Steffi leitet den Malkursus von Ole und Malte.«
»Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe sie erst gestern gesehen, als …« Trudis Haut nahm einen intensiven Rotton ein, als sie sich daran erinnerte, welcher Umstand zu ihrem Zusammentreffen geführt hatte. »Oh … Sie hat dir bestimmt erzählt, was mir gestern passiert ist«, sagte sie dann so schuldbewusst, dass Inga über den Tisch langte und ihre Hand drückte.
»Ja, das hat sie«, sagte sie weich. »Das musste sie, weil sie sich verantwortlich fühlte.«
»Es tut mir so leid, Inga. Das glaubst du mir doch hoffentlich, nicht wahr?« Trudi klang so verzweifelt, dass sich Inga sofort schlecht fühlte.
»Natürlich glaube ich dir das. Bitte mach dir deswegen keine Sorgen, Trudi. Wir vergessen doch alle mal etwas. Es wäre nur schön gewesen, wenn du oder die Jungs etwas gesagt hätten. Ich war enttäuscht, es von Steffi zu erfahren.«
»Bitte mach den Kleinen keine Vorwürfe, Inga. Dass sie dir nichts gesagt haben, ist allein meine Schuld. Ich hatte sie darum gebeten. Ich wollte nicht, dass du davon erfährst. Ich habe mich doch so schrecklich geschämt.«
»Dafür gibt es keinen Grund, Trudi. Auch mir passieren ständig Missgeschicke. Niemand ist perfekt. Aber bitte, Trudi, bitte verleite nie wieder meine Kinder dazu, mir etwas zu verheimlichen. Ja? Versprichst du mir das?«
In Trudis Augen stiegen Tränen. »Ich weiß auch nicht, warum ich das getan habe. Dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Aber es wird nicht wieder vorkommen, Inga, meine Kleine. Nie wieder.«
»Das weiß ich doch, Trudi.« Inga stand auf und ging zu ihr, um sie in ihre Arme zu schließen.
»Heißt das, ich darf mich weiter um die Jungs kümmern? Oder … oder traust du mir das nicht mehr zu?« Sie schniefte leise, als sie sagte: »Ich hab’ sie doch so lieb. Ich glaube, mir würde es das Herz brechen, wenn du sie mir wegnehmen würdest.«
»Trudi, das habe ich doch gar nicht vor!«, rief Inga entsetzt aus. »Das würde ich weder dir noch meinen Söhnen antun. Du weißt doch, wie sehr sie dich lieben.« Inga küsste Trudi. »Und ich auch!«
»Danke! Das ist lieb von dir. Es ist ja wirklich nur einmal vorgekommen. Das wird nie wieder passieren, Inga. Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Natürlich«, erwiderte Inga geistesabwesend und setzte sich wieder auf ihren Platz. Es war nur einmal vorgekommen? Was war mit den beiden anderen Tagen, an denen sie die Kinder nicht abgeholt hatte? Unterschlug sie die absichtlich, in der Annahme, Inga wüsste nichts davon? Oder hatte Trudi es einfach nur vergessen? Wie sollte sie jetzt bloß damit umgehen? Sie konnte Trudi unmöglich darauf ansprechen, ohne sie noch mehr zu bekümmern.
»Was beschäftigt dich, Kleines? Ich sehe doch, dass du dir über irgendetwas deinen hübschen Kopf zerbrichst.«
Spontan wollte Inga das abstreiten. Dann entschied sie sich dagegen. Es war falsch, unangenehme Themen zu vermeiden, nur um einen lieben Menschen zu schonen. »Trudi, wir hatten ja schon ein paar Mal darüber gesprochen, dass ich mir Sorgen um deine Gesundheit mache.«
»Inga, bitte nicht schon wieder. Mit mir ist doch alles in Ordnung.« Wie erwartet, schlug Trudis Stimmung sofort um. Sie klang weinerlich, als sie weitersprach: »Jeder kann doch mal etwas vergessen. Das hast du gerade selbst gesagt. Und nun tust du so, als wäre ich nicht mehr ganz klar im Kopf oder hätte Alzheimer oder …«
»Trudi, hör auf!«, forderte Inga energisch. »Daran habe ich nie gedacht!« Weicher fuhr sie fort: »Ich mache mir doch nur Sorgen um dich, weil du mir so wichtig bist.«
»Aber ich kann das nicht mehr hören! Ständig fragst du mich nach meiner Gesundheit!«
Inga lächelte sie gewinnend an. »Dagegen gibt es ein gutes Mittel: Geh einfach mal zu deinem Hausarzt und lass dich durchchecken. Wenn er dir sagt, dass du gesund bist, werde ich dich ganz bestimmt nicht mehr nerven.«
Trudi druckste ein wenig herum, dann gestand sie: »Ich war doch schon längst bei meinem Hausarzt. Ich wollte doch auch wissen, was los ist.«
»Warum hast du mir denn nichts davon gesagt?«
»Weil es nichts zu sagen gibt. Ich bin kerngesund, nur eben älter geworden, so wie wir alle. Mein Arzt sagte, dass alles im Normbereich wäre. Altersentsprechend, meinte er. Ich sei eben keine Zwanzig mehr.«
»Aber nicht weit davon entfernt«, erwiderte Inga scherzend. Sie war erleichtert. Ihre Trudi war völlig gesund!
»Und nun?«, wollte Trudi wissen. »Darf ich mich weiter um deine Kinder kümmern, obwohl ich eine alte Schachtel bin?«
»Natürlich, Trudi«, erwiderte Inga sofort und wunderte sich über das ungute Gefühl, das sie plötzlich beschlich.
*
Ole setzte sich auf die Bank, die vor der Schule stand, und sah seinen Mitschülern hinterher, die sich auf den Heimweg machten. »Meinst du, sie hat uns schon wieder vergessen?«, fragte er seinen Bruder besorgt.
»Weiß nicht. Vielleicht.« Malte sah den Fußweg entlang und hoffte, dass Oma Trudi gleich um die Ecke biegen würde. Es machte keinen Spaß, immer auf sie warten müssen. Außerdem hatte er große Angst um Oma Trudi, auch wenn er das niemandem sagen mochte. Doch er sorgte sich oft um sie. Immerhin war sie schon richtig alt, und alte Menschen konnten plötzlich krank werden und sterben. Und dann … dann hätten sie keine Oma mehr, die ihnen Geschichten erzählte, sie in den Arm nahm oder mit ihnen in den Tierpark ging. Malte spürte, wie sich ein riesengroßer Kloß in seinem Hals bildete. Er wusste, dass es nun nicht mehr lange dauerte, bis auch die dummen Tränen kommen würden. Er versuchte deshalb, an etwas anderes zu denken, an etwas Schönes, damit er nicht zu weinen begann.
»Was machen wir denn jetzt?« Ole war aufgesprungen. Er hatte keine Lust mehr zu warten. »Wir können doch nicht hier sitzenbleiben, bis wir hundert Jahre sind und uns ein langer, weißer Bart wächst.«
Er kicherte, und Malte stimmte glücklich ein. Er war froh, so einen coolen Bruder zu haben, der sich vor nichts fürchtete und ihn immer zum Lachen brachte.
»Los, wir gehen nach Hause!«, entschied Ole nun. »Vielleicht kommt sie uns ja schon entgegen. So wie beim letzten Mal.«
»Okay«, sagte Malte nur, dann marschierten sie los.
Während des Fußwegs nach Hause hielten sie immer wieder nach Oma Trudi Ausschau. Doch sie war nirgends zu sehen. Bei Trudi angekommen, stellten sie schnell fest, dass sie auch nicht daheim war. Sie drückten einige Male auf die Klingel und sahen auch im Garten nach, doch Oma Trudi war nicht da.
Malte stellte seinen Schulranzen auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus ab. »Sollen wir hier warten?«
»Ja, sie kommt bestimmt gleich. Vielleicht ist sie nur einkaufen oder beim Friseur.«
»Ich find’ das blöd, dass sie uns immer vergisst.«
»Ja, ich auch«, seufzte Ole.
Eine Weile hielten sie es auf der Terrasse aus, dann wurde ihnen langweilig. Ole war der Erste, der das Warten aufgab. »Wir können doch ein bisschen spazieren gehen«, schlug er vor und sprang schon auf, bevor der vernünftigere Malte Einwände erheben konnte. »Vorne ist viel mehr los als hier. Außerdem sehen wir dann sofort, wenn Oma Trudi kommt.«
Er wartete Maltes Antwort nicht ab, sondern rannte los, sodass seinem Bruder nichts anderes übrigblieb als ihm zu folgen.
Kaum war Ole auf der Vorderseite des Hauses angekommen, verringerte er sein Tempo. Ihm war nicht wohl dabei, hier langzulaufen, denn er wusste, dass seine Mama es nicht gern sah, wenn sie allein unterwegs waren. Er sah zur anderen Straßenseite hinüber, auf der sich ihr Wohnhaus befand, und wünschte sich, seine Mama müsste heute nicht diesen dummen Spätdienst machen. Dann wäre sie jetzt zu Hause und würde sie mit einer innigen Umarmung und einem Kuss begrüßen.
Als Malte zu ihm aufgeschlossen hatte, sagte er: »Wir könnten ja auch zu uns nach Hause gehen. Wir wissen doch, wo der Schlüssel für den Notfall versteckt ist.«
Inga hatte ihren Jungs gezeigt, dass es auf der Terrasse hinterm Haus eine lose Steinfliese gab. Hier lag – für alle Fälle – ein Hausschlüssel in einem wasserdichten Beutel deponiert. Jetzt wäre ein guter Moment, den Schlüssel zu nutzen. Sicher war das heute ein echter Notfall.
Doch Malte hatte Bedenken: »Wenn wir ins Haus gehen, weiß Mama aber, dass Oma Trudi nicht da war.«
»Ja, das stimmt. Na gut, ein bisschen können wir ja noch warten. Aber wenn es anfängt zu regnen, laufen wir rein. Oder wenn riesige Hagelkörner vom Himmel fallen …«
»… oder wenn ein Schneesturm kommt …«
»… oder ein UFO …«, prustete Malte los.
»… oder ein riesiger Flugsaurier …«
Die beiden lachten inzwischen so heftig, dass es ihnen schwerfiel, den Faden noch weiterzuspinnen. Doch plötzlich wurden sie still, denn ein jämmerlicher Klagelaut drang zu ihnen hinüber. Sie gingen weiter die Straße entlang, sprachen aber nicht mehr miteinander, um die Ursache des Geräuschs herauszufinden. Schnell wurden sie fündig. Vor einem alten, mehr als dreißig Meter hohen Straßenbaum blieben sie stehen und sahen hoch. So weit oben, dass sie es kaum noch erkennen konnten, entdeckten sie ein kleines getigertes Kätzchen, das erbarmungswürdig um Hilfe schrie.
»Ich glaube, sie traut sich nicht mehr runter«, stellte Ole sachkundig fest.
»Das ist ja auch ganz schön hoch. Sie hat bestimmt große Angst.« Malte überlegte, ob sie sich vielleicht runterlocken ließ. »Miez, Miez, Miez, komm, Miez, Miez, Miez …«
»Miez, Miez, Miez?«, Ole sah ihn zweifelnd an. »Woher weißt du denn, wie sie heißt?«
»Weiß ich doch gar nicht. Aber ich habe das mal im Fernsehen gesehen. Da wurden alle Katzen so gerufen, und die kamen dann auch immer gleich angelaufen.«
Ole sah skeptisch am Baum hoch. »Aber die nicht. Die sitzt da immer noch und hat Angst.«
»Vielleicht weiß sie ja nicht, was Miez, Miez, Miez bedeutet. Kann ja sein, dass ihr das noch niemand beigebracht hat.«
»Ja, wäre möglich.« Sie versuchten weiter ihr Glück und riefen und lockten sie, jedoch ohne Erfolg. Das Kätzchen lauschte zwar aufmerksam, bewegte sich aber keinen Millimeter. Und sobald die Jungs aufhörten, begann das Geschrei erneut.
Malte sah sich suchend nach jemandem um, der ihnen helfen könnte, die Katze vom Baum zu bekommen. Aber die Straße war menschenleer, und einfach an einem fremden Haus zu klingeln traute er sich nicht.
»Und wenn sie nun runterfällt? Das ist wirklich sehr, sehr hoch. Sie wird sich bestimmt ganz doll verletzen.«
Ole fasste einen Entschluss. »Mama hat gesagt, der Schlüssel ist für den Notfall. Ein armes Kätzchen auf dem Baum ist ja wohl eindeutig ein Notfall. Ich lauf jetzt nach Hause und ruf die Feuerwehr an. Die kommen dann mit der Leiter und holen sie runter. Bleib hier und versuch weiter, sie runterzulocken. Ich bin gleich wieder da.«
Tatsächlich brauchte Ole nur wenige Minuten, um nach Hause zu rennen, den Schlüssel aus dem Versteck zu holen, ins Haus zu stürmen und aufgeregt den Notruf zu wählen.
»Schnell, Sie müssen ganz schnell kommen. In unserer Straße sitzt eine Katze auf dem Baum und kommt nicht mehr alleine runter.«
Er hörte dem freundlichen Mann am anderen Ende der Leitung zu, beantwortete ein paar Fragen, bedankte sich artig, machte einen kurzen Abstecher zum Kühlschrank und flitzte wieder zurück zu seinem Bruder. »Der Mann … der Mann hat gesagt …« Ole musste erst mal Luft holen, ehe er weitersprechen konnte. So schnell wie heute war er noch nie gerannt. »Er hat gesagt, wir sollen noch warten … eine halbe Stunde. Und dann wieder anrufen, wenn sie bis dahin nicht unten ist. Und wir sollen versuchen, sie mit Leberwurst zu bestechen.« Er hielt seine Hand auf, in der eine Scheibe Salami lag. »Wir haben keine Leberwurst, aber die geht bestimmt auch.«
In der nächsten halben Stunde waren sie damit beschäftigt, die Sache mit der Salami zu probieren. Aber es funktionierte leider nicht. Die Katze saß weiter auf dem Baum und hörte nicht mit dem Geschrei auf. Irgendwann gaben sie alle Versuche auf, und Ole rannte los, um einen weiteren Anruf bei der Feuerwehr zu machen. Diesmal kam er noch rascher zurück, da er den Haustürschlüssel bereits bei sich trug. »Sie schicken einen Wagen, hat der Mann gesagt. Die sind bestimmt bald hier. Wenn die ihre Sirenen und das Blaulicht anmachen, müssen alle anderen Autos nämlich Platz machen.«
Doch sie warteten vergeblich darauf, dass aus der Ferne Sirenengeheul zu ihnen drang. Schließlich hielt Ole die Warterei und das klägliche Katzengeschrei nicht mehr aus. »Ich klettere da jetzt hoch.«
»Nein!«, rief Malte sofort entsetzt aus. »Das ist viel zu gefährlich.«
»Doch nicht für mich!«, empörte sich Ole. Er hatte sich den Baum ganz genau angesehen. Überall gab es dicke Äste, auf denen es einfach sein musste hochzukommen. Ein Kinderspiel für ihn. Außerdem hatte es die Katze ja auch geschafft. Und die war viel kleiner als er. »Ich habe eine Eins in Sport und bin der beste Kletterer in der Klasse!« Damit war die Diskussion für ihn beendet, und er machte sich an den Aufstieg.
Es war tatsächlich ganz leicht, und er kam wunderbar schnell voran. Wenn er seiner Mama heute Abend erzählen würde, dass er ein Kätzchen gerettet hatte, würde sie bestimmt sehr stolz auf ihn sein. Obwohl – vielleicht sollte er es doch lieber für sich behalten. Er war sich auf einmal nicht mehr sicher, dass das Ganze eine gute Idee gewesen war. Vor allem, weil der Ast, auf dem er sich gerade befand, verdächtig knirschte und knackte. Plötzlich gab das Holz unter ihm nach, und er verlor das Gleichgewicht. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ihn der nächste Ast auffing und er sich am Stamm des Baumes festklammern konnte. Aber in dieser kurzen Zeit war viel passiert: Sein Bruder hatte laut geschrien, er selbst war irgendwo schmerzhaft gegen geprallt, sein Jackenärmel hatte einen Riss bekommen – und er hatte die Katze gesehen, wie sie in Panik den Baumstamm hinuntergejagt war.
»Wo ist sie?«, rief er Malte zu, der schreckensbleich zu ihm aufsah, aber wenigstens nicht mehr schrie.
Malte zeigte stumm zu einem Vorgarten auf der anderen Straßenseite, in dem die Katze verschwunden war.
»Na, toll!«, empörte sich Ole über die treulose Katze, für die er sich völlig umsonst in diese missliche Lage gebracht hatte. Ihm taten der Arm weh und das Bein, und er musste sich zudem überlegen, wie er vom Baum kommen konnte, ohne einen weiteren Absturz zu riskieren. Vorsichtig sah er hinunter, ohne den festen Griff, mit dem er den Stamm umfasst hatte, zu lockern. Das war wirklich sehr, sehr hoch, stellte er fest. Wie sollte er da bloß wieder runterkommen?
*
Vor drei Tagen war Markus Never vom Rettungsdienst auf die Feuerwache zurückgekehrt. Obwohl er seine Arbeit hier liebte, wünschte er sich manchmal die Zeit auf dem Rettungswagen zurück – und sei es auch nur, um dadurch einen Grund zu haben, in die Behnisch-Klinik zu fahren und Schwester Inga wiederzusehen. Inga, wenn er an sie dachte, erfasste ihn eine Sehnsucht, die ihm fremd war und gegen die er sich nicht wehren konnte. Ob das irgendwann aufhören würde? Warum nur musste er Tag und Nacht an sie denken, obwohl er von seinem Ziel, sie zu erobern, jetzt weiter entfernt war als je zuvor?
»Träumst du?«, hörte er eine spöttelnde Stimme hinter sich. Sein Kollege Friedrich Kobler stand mit verschränkten Armen am Löschfahrzeug und grinste ihn an. »Ich steh schon geschlagene fünf Minuten hier und beobachte dich. Während der ganzen Zeit hast du nichts getan, außer geistesabwesend auf die Sauerstoffflaschen zu starren.«
»Das bedeutet dann wohl, dass du in der Zeit auch nichts getan hast«, erwiderte Markus unbeeindruckt. Er nahm eine Flasche hoch und verstaute sie im Wagen.
»In einer knappen Stunde ist Feierabend«, sagte Friedrich. »Wenn wir Glück haben, müssen wir bis dahin nicht mehr raus. Da wollte ich dir hier ein wenig helfen. Aber so wie’s aussieht, kommst du auch allein gut zurecht.«
»Hilfe ist immer gut«, erwiderte Markus nur und deutete auf eine der kleinen Türen des Fahrzeugs, hinter der sich weiteres Equipment verbarg. »Du könntest mal die Schläuche überprüfen.«
Ohne Widerrede machte sich Friedrich sofort an die Arbeit. Jeder von ihnen wusste, wie wichtig und mitunter lebensrettend es sein konnte, wenn die Ausrüstung bei einem Notfall vollständig und einsatzbereit war.
»Hast du nachher Lust auf ein Feierabendbier?«, fragte Friedrich, während er sich routiniert um die Schläuche kümmerte. »Morgen haben wir frei. Dann brauchen wir nicht auf die Uhr zu sehen.«
Markus schüttelte den Kopf. »Geht nicht, ich habe meinen Eltern versprochen, mich mal wieder sehen zu lassen.« Dass er sich dabei nicht auf den heutigen Tag festgelegt hatte, verschwieg er Friedrich, der nach Markus’ Geschmack viel zu häufig um die Häuser zog. Zum Glück war das Thema beendet, als ihr Kollege Harald zu ihnen kam.
»Wir müssen noch mal rausfahren.« Harald schmunzelte, als er weitersprach: »Mit dem Einsatz können wir den Dienst ruhig und entspannt ausklingen lassen.«
Alarmiert sah Friedrich auf. »Ruhig und entspannt? Das klingt nach vollgelaufenem Keller oder …« Er nahm Harald den Papierausdruck aus den Händen und verzog widerwillig das Gesicht, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. »… oder nach einer Katze auf dem Baum. O nein, nicht schon wieder eine Katze«, stöhnte er. »Warum trifft es immer uns?«
»Nun stell dich nicht so an«, sagte Harald. »Der Junge hat schon zum zweiten Mal angerufen und klang inzwischen sehr verzweifelt.«
»Dann sollten wir nicht länger warten.« Markus warf einen Blick auf den Zettel, den Friedrich in seinen Händen hielt. Erstaunt stellte er fest, dass seine Eltern ganz in der Nähe wohnten.
»Drei Mann, um eine Katze zu retten«, maulte Friedrich. Er schmiss das Schlauchfach zu und kletterte in das Fahrzeug. »So ein Aufwand für ein einziges Kätzchen, das sich nicht vom Baum runter traut. Allein hoch kommen diese Mistviecher doch auch immer.«
»He, he«, versuchte Markus, den Ärger seines Kollegen zu dämpfen. »Du musst nicht so deutlich zeigen, dass du für Katzen nichts übrighast.«
»Habe ich auch nicht«, knurrte Friedrich leise. »Katzen sind Snobs und wissen unseren Einsatz gar nicht zu schätzen. Wir fahren extra raus, riskieren unser Leben, um sie vom Baum zu holen, und zum Dank ziehen sie uns mit ihrer Krallenpranke eins über.« Friedrich rieb seine rechte Wange und meinte, immer noch die schmerzenden Striemen zu spüren, die er dem letzten Katzeneinsatz zu verdanken hatte.
Markus lachte. »Ja, sie sind wirklich sehr undankbar. Denk einfach nicht mehr an die Katze, sondern an den kleinen Jungen, der weinend und verzweifelt vor diesem Baum steht und nach seinem Kätzchen ruft. Geht dir dabei nicht auch das Herz auf?«
»Klar, und wie!«, ätzte Friedrich, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. »Na los, mach schon die Sirenen an, damit wir schnell bei dieser Bestie sind.«
»Tut mir leid«, gab Markus lachend zurück. »Aber übertreiben dürfen wir es mit unserer Tierliebe dann doch nicht. Wir werden auch ohne Blaulicht und Sirenen früh genug dort ankommen. Und wer weiß, vielleicht ist uns das Glück hold, und die Katze hat es bis dahin längst allein hinunter geschafft.«
Dass dem nicht so war, erkannte Markus, als sie in die Straße einbogen. Den Jungen, der vor dem Baum stand und dem Feuerwehrwagen eifrig zuwinkte, sah er sofort. Doch den zweiten, der in etwa vier Metern Höhe auf einem Ast hockte, erblickte er erst, als er vor dem Baum stand.
»Was machst du denn da?«, fragte er fassungslos.
»Das hat so lange gedauert, und da habe ich gedacht, ich könnte allein versuchen, sie zu retten.«
»Das war keine gute Idee. Du hättest abstürzen können. Geht’s dir da oben gut?«
Als der Junge nickte, sagte Markus: »Halt dich gut fest und beweg dich nicht. Ich komm sofort hoch und hol dich da runter.«
Markus sah zu Friedrich hinüber, der bereits die Leiter holte. Dann fiel sein Blick auf den anderen Jungen, der neben ihm stand und bisher noch kein Wort gesprochen hatte. »Ihr seid Zwillinge«, stellte er überrascht fest.
Der Kleine nickte schweigend. Er war sehr blass, und Markus begann, sich Sorgen zu machen. Stand der Junge etwa unter Schock? Die Situation konnte für ein Kind durchaus beängstigend sein. Erst sitzt die Katze im Baum fest und nun auch noch der Bruder.
»Wie heißt ihr eigentlich?«, fragte er.
»Ich bin Ole Lundmann«, erschallte es aus dem Geäst.
Markus sah fragend den anderen Jungen an. »Malte Lundmann«, erklang es leise und völlig verängstigt.
Markus hockte sich zu ihm hinunter und strich ihm über das blonde Haar. »In ein paar Minuten hast du dein Kätzchen und deinen Bruder wieder.«
»Die Katze ist doch schon längst wieder unten«, rief Ole von oben. »Die ist in einem Affentempo an mir vorbeigerast, als der Ast gebrochen ist.«
Markus sah hoch. »Ast? Welcher Ast?«
»Der da, über mir. Ich war wohl zu schwer für ihn.«
Geschockt hielt Markus die Luft an, als sein Blick nach oben wanderte. Und da sah er ihn: ein angebrochener Ast, ungefähr zwei Meter über Oles Kopf, der nicht ahnte, in welcher Gefahr er sich noch immer befand.
»O Mann«, sagte Friedrich neben ihm. »Wir sollten zusehen, dass wir ihn da runter bekommen. Und du, junger Mann«, er wandte sich an Malte, »gehst bitte hier weg. Stell dich dort drüben hin, an die Mauer.«
»Ich kümmere mich um ihn.«
Markus fuhr erstaunt herum und sah seine Mutter an. Er wusste doch, dass er die Frauenstimme kannte. »Was machst du denn hier?«
»Schon vergessen? Ich wohne hier in der Nähe, mein Schatz. Und nun mach endlich deine Arbeit und gib gut auf dich acht. Ich passe solange auf diesen kleinen Mann hier auf.« Gudrun Never schenkte Malte ein so liebevolles Lächeln, dass der nicht anders konnte, als die Hand zu ergreifen, die sie ihm entgegenhielt. »Komm mit, wir stellen uns etwas abseits hin, damit wir niemandem im Wege stehen.«
Gudrun ging mit ihrem kleinen Schützling so ruhig wie möglich zur Seite. Sie hoffte, dass ihre Ruhe auf den Jungen übergreifen würde, denn dass er sie nötig hatte, war ihm deutlich anzusehen. Er schien schreckliche Angst um seinen Bruder zu haben und nicht glauben zu können, dass die Sache gut für ihn ausgehen würde.
»Das war ja ziemlich mutig von deinem Bruder, einfach so auf diesen großen Baum zu klettern.«
Malte nickte beklommen. »Er wollte doch nur der kleinen Katze helfen. Sie hatte so jämmerlich geschrien«, erklärte er ängstlich und ließ dabei den Feuerwehrmann, der eben auf die Leiter stieg, nicht aus den Augen. Gudrun Never konnte den Blick ebenfalls nicht mehr abwenden. Sie machte sich entsetzliche Sorgen, auch wenn sie es sich vor dem Jungen nicht anmerken ließ. Sorgen um Maltes Bruder, der sich noch immer an dem harzigen Baumstamm festklammerte, aber auch um ihr eigenes, erwachsenes Kind, das soeben die Leiter erklomm.
Markus beeilte sich, zu dem Jungen auf dem Baum zu kommen. »Ole, ich bin gleich bei dir. Hältst du noch ein Weilchen aus?«
»Klar doch«, erwiderte Ole beherzt, doch seine Stimme zitterte genau so stark wie seine kleinen Hände, die sich am Baum festhielten. Es war nicht zu übersehen, wie erleichtert er war, als der Feuerwehrmann neben ihm auftauchte.
»Wenn ich es sage, lässt du den Stamm einfach los, in Ordnung? Keine Angst, ich werde gut auf dich achtgeben.«
Als Ole nickte, griff Markus nach dem Jungen. »Du kannst jetzt loslassen, Ole.«
Der Junge gehorchte augenblicklich, und Markus hob ihn so vorsichtig wie möglich an. Er wollte jede Erschütterung, die den Ast über ihnen lösen könnte, vermeiden. Mit dem Kind auf seinem Arm stieg er langsam hinab, bis er so weit unten war, dass er Ole an Friedrich weiterreichen konnte. Sekunden später spürte auch er wieder festen Boden unter seinen Füßen. Er sah zu seiner Mutter hinüber und lächelte ihr beruhigend zu. Er wusste, dass sie in den letzten Minuten um ihn gebangt hatte.
Nach einer kurzen Absprache mit Friedrich und Harald, die sich anschickten, den losen Ast zu bergen, ging er zu seiner Mutter hinüber, die nun mit zwei Kindern an den Händen neben einer kleinen Gartenmauer stand.
»Na, ihr Abenteurer«, sagte er lächelnd zu ihnen. »Das war sicher sehr aufregend für euch gewesen.«
Während Malte noch immer ängstlich und unsicher wirkte, war Ole bester Stimmung und ziemlich aufgekratzt.
»Ich hätte die Katze bestimmt bekommen, wenn dieser blöde Ast nicht gebrochen wäre«, berichtete er voller Eifer. »Ich dachte, der würde mich aushalten. Der hat doch total dick ausgesehen, nicht wahr?«
»Das kann täuschen, Ole«, erklärte Markus. »Manche Äste wirken zwar von außen recht stabil, sind aber von innen morsch und angeschlagen. Du kannst froh sein, dass dir nichts geschehen ist. Wärst du aus dieser Höhe auf den Boden gefallen, hätte das wirklich sehr übel für dich ausgehen können. Hast du dich verletzt, als dein Ast brach?«
Ole schüttelte den Kopf und winkte ab. »I wo! Die paar Schrammen machen mir nichts aus!«
»Schrammen? Zeig mal her!« Markus entdeckte einen Riss im rechten Ärmel der Jacke und schob ihn hoch. Die Haut darunter war leicht gerötet, aber heil. Mehr als ein blauer Fleck würde da sicher nicht übrigbleiben. »Tut der Arm weh?«
Ole schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Nur am Bein, da brennt’s ein bisschen, weil ich an dem abgebrochenen Ast kurz hängengeblieben bin.«
Markus zog wieder der Schreck in die Glieder, als er sich vorstellte, wie haarscharf der Junge an einer Katastrophe sprichwörtlich vorbeigeschrammt war. An dem entsetzten Gesichtsausdruck seiner Mutter erkannte er, dass es ihr nicht anders erging. Als Feuerwehrmann war Markus einiges gewöhnt, und er hatte gelernt, auch mit viel dramatischeren Situationen gut zurechtzukommen. Doch sobald es um Kinder ging, fiel es ihm schwer, seine Contenance zu wahren.
»Nun, dann schauen wir uns mal dein Bein an«, sagte er so forsch wie möglich. Er stutze, als er das Hosenbein des Jungen sah. Es war zwar unversehrt, aber der Jeansstoff hatte sich am Unterschenkel dunkel verfärbt. Er musste nicht erst nachsehen, um zu wissen, dass Ole blutete. Kurzentschlossen hob er ihn hoch. »Weißt du was? Ich bring dich jetzt rüber zum Feuerwehrauto. Und während ich einen kurzen Blick auf dein Bein werfe, kannst du dir den Wagen von innen anschauen.«
»Cool!«, rief Ole begeistert aus. »Darf mein Bruder auch mitkommen?«
»Natürlich. Komm, Malte!« Zu seiner Mutter sagte er: »Vielen Dank, dass du hiergeblieben bist.«
»Hab’ ich doch gern gemacht. Malte ist ein lieber Junge. Bist du sicher, dass du mich nicht mehr brauchst?«
»Bin ich. Wir sehen uns später. Ich komm nach Dienstschluss mal vorbei.«
Markus setzte den verletzten Ole in den Wagen und half Malte beim Reinklettern. Seine Kollegen hatten inzwischen die Kettensäge angeschmissen, um den Ast abzusägen. Der Lärm und der Feuerwehrwagen hatten einige Bewohner aus den umliegenden Häusern herausgelockt, die nun neugierig das Geschehen verfolgten. Schade, dachte Markus, dass niemand von ihnen hier gewesen ist, als sich der kleine Junge auf seine gefährliche Klettertour begeben hatte. Vielleicht wäre ihm dann diese Verletzung erspart geblieben.
Besorgt sah er sich Oles Wunde an, die mehr als zehn Zentimeter lang war und immer noch leicht blutete. Das Gewebe ringsherum war gerötet und angeschwollen. Mit einem einfachen Pflasterverband war es hier nicht getan. Das Kind war ein Fall für den Chirurgen, wahrscheinlich musste genäht werden. Selbst eine Knochenfraktur konnte ohne Röntgenbefund nicht sicher ausgeschlossen werden, auch wenn es im Moment nicht danach aussah.
»Ist es sehr schlimm?«, fragte Markus, während er einen sterilen Wundverband anlegte.
»Nö, kann man aushalten.«
»Kannst du das Bein bewegen?«
Ole probierte es ein wenig und verzog dabei schmerzhaft das Gesicht. Trotzdem sagte er: »Klar, alles bestens.«
»Aha«, entgegnete Markus nur. Der Kleine schien einer von der tapferen Sorte zu sein. Oder er hatte Angst, dass seine Kletterpartie Konsequenzen haben würde. »Wo wohnt ihr überhaupt? Sind eure Eltern zu Hause?«
Die beiden Brüder sahen sich beklommen an, dann sagte Ole: »Wir wohnen hier in der Straße, in der Nummer zehn. Aber unsere Mama ist nicht da. Sie arbeitet.«
Da die Jungs keinen Vater erwähnten, nahm Markus an, dass er in ihrem Leben keine große Rolle spielte. Wahrscheinlich hatten sie nur ihre Mutter, die ihre Söhne allein ließ, um arbeiten zu können. Seine Aufgabe war es nun, die Kinder an jemanden zu übergeben, der sich um sie kümmern würde. »Wo arbeitet eure Mutter denn?«
»In der Behnisch-Klinik«, sagte Malte. Und Ole setzte nach: »Als Krankenschwester in der Notaufnahme. Sie heißt Inga Lundmann.«
Markus sah die beiden aufmerksam an. Das waren also Ingas Kinder. Warum war ihm die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihren Söhnen nicht aufgefallen? Das gleiche helle Haar, die tiefblauen Augen, die schmale, zierliche Nase.
»Wir sind hier fertig.« Friedrich verstaute die Säge im Wagenkasten, während Harald die Leiter zusammenklappte. »Ich sag der Zentrale Bescheid, dass sie die Stadtförster informieren soll. Die können sich dann um den Rest kümmern.«
»Die Zentrale soll auch gleich in der Behnisch-Klinik anrufen und ihnen sagen, dass wir einen Patienten vorbeibringen.« Markus lächelte die Jungs an: »Wie sieht’s aus? Habt ihr Lust, in einem Feuerwehrauto mitzufahren?«
*
Schwester Anna, die heute zusammen mit Inga den Spätdienst hatte, legte schreckensbleich den Hörer auf.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Inga verwundert nach. Es musste schon etwas Bedeutendes geschehen sein, wenn es Anna so aus der Bahn warf. Auch Erik Berger sah von seinen Unterlagen auf und wartete gespannt auf Annas Antwort.
»Die Feuerwehr …« Anna räusperte sich, weil ihre Stimme zu versagen drohte. »Sie bringt gleich einen verletzten Jungen. Er ist … er ist vom Baum gefallen. Inga, es ist Ole.«
Sofort sprang Inga auf und stürzte aus dem Dienstzimmer. Sie hörte noch, wie Berger Anna zurief, sie solle einen Kinderarzt herrufen, dann hatte sie die Aufnahme auch schon verlassen. Ihr Herz raste, als sie durch die Lobby nach draußen rannte, bis zur Einfahrt, in der die Rettungswagen hielten. Nur Sekunden später stand Erik Berger neben ihr.
»Wir werden uns um ihn kümmern, Inga«, sagte Berger, und Inga hörte echtes Mitgefühl aus seinen Worten heraus.
Sie konnte nur nicken. Es war ihr unmöglich zu sprechen. Sie wusste, sollte sie jetzt den Mund aufmachen, würde eh nicht mehr als ein verzweifelter Schrei herauskommen. Ihr Kind war verletzt, vom Baum gefallen! Wie hatte das nur geschehen können? Warum hatte Trudi das zugelassen? Und was war eigentlich mit ihr? Traf sie als Mutter nicht die größte Schuld? Hätte sie nicht bei ihrem Kind sein müssen?
Als sie den Feuerwehrwagen sah, wäre sie ihm am liebsten entgegengelaufen, aber Bergers Hand, mit der er sie am Unterarm festhielt, verhinderte das. Erst als der Wagen zum Stehen kam, ließ er sie los, und Inga stürzte zur Tür, die sich in diesem Augenblick öffnete. Das Erste, was sie sah, waren ihre beiden Söhne, die sie eindeutig schuldbewusst anlächelten. Sofort verschwand die größte Panik, und sie konnte aufatmen. Sie waren in Ordnung, zumindest ließ der erste Eindruck das vermuten. Keiner ihrer Söhne schien schwere Verletzungen davongetragen zu haben.
»Welcher ist es?«, fragte Erik Berger knapp.
»Dieser junge Mann hier«, erwiderte Markus Never. Er hob Ole hoch und reichte ihn an Berger weiter, der ihn auf die Trage legte. Sofort war Inga an seiner Seite. Dann fiel ihr Malte ein, und sie sah hektisch zum Wagen.
Markus Never nickte ihr zu: »Malte geht’s gut. Ich kümmere mich um ihn!«
Wenn Inga nicht noch immer unter Schock gestanden hätte, wäre sie sicher auf die Idee gekommen, sich dafür bei Markus zu bedanken. Doch so vertraute sie einfach darauf, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, und lief neben der Trage her, die Hand ihres verletzten Sohnes fest umklammert.
»Mama, ich bin okay!« Ole unternahm einen hilflosen Versuch, sie zu beruhigen. »Wirklich! Du musst dich nicht so aufregen!«
»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Erik Berger.
»Och, nichts Besonderes«, tat Ole das Ganze lässig ab. »Ich bin auf einen Baum geklettert, weil ich ein Kätzchen retten wollte. Doch so ein blöder Ast ist einfach durchgebrochen, und da hab’ ich mich am Bein verletzt.«
»Bist du vom Baum runtergefallen?«, wollte Berger wissen.
»Nö, ich bin auf einem anderen Ast gelandet. War nicht so schlimm.«
»Er ist keine zwei Meter gefallen.« Markus Never hatte sie erreicht. Malte hatte er einfach auf den Arm genommen, damit es schneller ging. »Soweit ich das feststellen konnte, hat er nur ein paar Hämatome und leichte Prellungen davongetragen. Am linken Unterschenkel gibt es aber eine offene Wunde, die ich steril verbunden habe. Das Bein ist angeschwollen und schmerzhaft.«
»Hinweise auf ein Bauch- oder Schädeltrauma?«, fragte Erik Berger, als sie in der Aufnahme ankamen.
»Nein«, erwiderte Markus und lächelte dabei Inga aufmunternd an. Sie tat ihm leid. Er konnte ihr ansehen, wie sehr sie unter der Situation litt, wahrscheinlich mehr als ihr wagemutiger, kleiner Junge.
Fee Norden kam hereingestürzt. Als Schwester Annas Anruf in der Pädiatrie eintraf, war sie sofort losgelaufen. Anna hatte keine Einzelheiten zu der Schwere der Verletzungen machen können. Deshalb hatte Fee schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Umso erleichterter war sie, als sie den Jungen sah. Mit den Augen einer erfahrenen Ärztin erkannte sie sofort, dass kein Anlass zur Sorge bestand.
Fee ließ sich von Erik Berger über alle bekannten Details informieren und beteiligte sich dann an der gründlichen Untersuchung. Ab und zu warf sie dem anderen Jungen, Malte, einen prüfenden Blick zu. Ihr gefiel nicht, dass er die ganze Zeit anwesend war. Aber andererseits könnte es ihm vielleicht helfen, mit der Angst um seinen Bruder zurechtzukommen. Zwillingsbruder, wie Fee einfiel. Sie war selbst Mutter von Zwillingen und wusste von deren besonderer Verbindung, die tiefer und inniger war als bei normalen Geschwistern. Es würde beiden guttun, wenn sie zusammen wären. Wahrscheinlich war auch Erik Berger zu diesem Schluss gekommen. Nur so war es zu erklären, dass er Malte im Behandlungsraum duldete. Außerdem war er hier besser aufgehoben als draußen, ganz allein im Warteraum.
»Was ist denn nun eigentlich aus dem Kätzchen geworden?«, fragte Fee ihren kleinen Patienten, als sie ihre Untersuchung abgeschlossen hatte. »Sitzt es etwa immer noch auf den Baum?«
»Nein, die ist einfach abgehauen«, beschwerte sich Ole. »Und ich saß dafür da oben fest.«
»Frechheit, dich einfach so im Stich zu lassen, nachdem du dein Leben riskiert hast!«, stimmte ihm Erik Berger zu.
Ole zuckte mit den Schultern. »Na ja, es ist halt nur ’ne Katze. Der ist das wohl egal.«
Alle lachten, bis auf Inga, die immer noch wie betäubt an Oles Seite ausharrte. »Er ist in Ordnung«, sagte Fee deshalb zu ihr. »Ihr Sohn hat nur leichte Verletzungen davongetragen, von denen er sich bald wieder erholen wird. Wir können ja noch eine Röntgenaufnahme vom Bein machen, um eine Fraktur sicher auszuschließen. Was meinen Sie, Herr Kollege?«
Dr. Berger nickte. »Sehe ich auch so. Nach dem klinischen Befund ist das Bein aber nur leicht geprellt und eine Röntgenaufnahme ist überflüssig. Aber vorsichtshalber …«
»Ja, bitte«, sagte Inga hastig. »Ich … ich würde mich dann besser fühlen.«
»Verstehe ich«, sagte Erik Berger. »Also dann – ab mit dem jungen Mann in die Radiologie. Anschließend versorgen wir die Wunde richtig. Sie ist nicht so tief, dass wir nähen müssen. Ein paar Pflasterstrips, ein paar Tage Ruhe, und dann ist die Sache bald ausgestanden.«
Dr. Berger hob Ole von der Untersuchungsliege hoch und setzte ihn in einen Rollstuhl. Als Inga mit Malte im Schlepptau den Raum verließ, um zur Radiologie zu fahren, sah sie sich suchend nach Markus Never um. Sie wollte sich unbedingt bei ihm bedanken. Aber er war nicht mehr da.
»Er ist schon wieder weg. Seine Kollegen haben draußen auf ihn gewartet.« Anna sah sie lächelnd an. »Du hast doch unseren netten Feuerwehrmann gesucht, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Inga nur.
»Markus ist supercool«, sagte Ole, der genau wusste, von wem gesprochen wurde. »Der hatte überhaupt keine Angst gehabt, als er mich da runtergeholt hat.«
»Und während der Fahrt hierher hat er uns das ganze Feuerwehrauto gezeigt.« Auch Malte hatte endlich seine Sprache wiedergefunden und taute nun langsam auf. »Das war vielleicht spannend. Er hat gesagt, wir dürfen ihn mal auf der Feuerwache besuchen. Dann zeigt er uns noch mehr. Aber nur, wenn du es erlaubst.«
»Ich werde später mal Feuerwehrmann!«, beschloss Ole.
»Ich auch!«, stimmte ihm sein Bruder sofort zu.
*
Dr. Nils Heinrich, der Chef der Radiologie, kümmerte sich persönlich um Ingas Sohn. Mit großer Begeisterung und engelsgleicher Geduld erklärte er dem aufgeweckten Ole alles ganz ausführlich. Malte war indessen mit Fee Norden in die Pädiatrie gegangen. Dort malte Steffi Seidel gerade mit den Kindern der Chirurgie. Fee hatte Malte eingeladen mitzumachen, damit er sich nicht langweilte. Malte, der oft ein wenig schüchtern war, hatte zu Ingas Überraschung sofort zugestimmt.
Und während Inga ihrem anderen Sohn und dem eifrigen Nils Heinrich dabei zusah, wie sie irgendeine Apparatur in ihre Einzelteile zerlegten, wurde sie sich bewusst, wie gut es das Schicksal heute mit ihr gemeint hatte. Ihre Söhne hatten ihr Abenteuer wohlbehalten überstanden, wenn man von Oles leichter Verletzung absah. Im Großen und Ganzen hatte er ein Riesenglück gehabt. Dass nicht alles so gut endete, erlebte Inga tagtäglich hautnah mit. Umso dankbarer war sie in diesem Augenblick.
Zurück in der Aufnahme musste sie mit Ole eine Weile warten, bis Dr. Berger wieder Zeit für sie hatte. Inzwischen war ein Herzinfarkt eingetroffen, den er zuerst versorgen musste.
»Bist du doll böse auf mich?«, fragte Ole seine Mutter.
Inga gab ihm einen Kuss. »Das müsste ich wohl sein, aber im Moment bin ich nur froh, dass alles so glimpflich ausgegangen ist.«
»Und auf Oma Trudi … bist du auf Oma Trudi böse?«, wollte Ole mit angehaltenem Atem wissen.
»Ich bin auf niemanden böse, mein Liebling. Aber ich werde natürlich mit Oma Trudi darüber reden. Ich möchte schon wissen, warum sie nicht für euch dagewesen ist.«
»Beim nächsten Mal ist sie bestimmt ganz pünktlich«, versicherte Ole inbrünstig. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Mama.«
»Sicher, mein Schatz.« Ein nächstes Mal würde es nicht geben, wusste Inga. Sie würde nie wieder darauf vertrauen können, dass Trudi sich ihrer Kinder annahm. Nicht nach dem, was geschehen war. Doch sie hatte keine Ahnung, wie es nun ohne Hilfe weitergehen soll. Als Alleinerziehende schaffte sie es einfach nicht, ihren Beruf und die Kinder unter einen Hut zu bekommen. Entweder kamen die Kinder zu kurz oder ihr Job. Oder sogar beides. Das hatte der heutige Tag ganz deutlich gezeigt. Ole hatte sich verletzt, weil sie im Dienst gewesen war. Und hier? Hier lief es auch nicht rund. Sie würde sicher für einige Tage ausfallen. Selbst jetzt, in ihrem Spätdienst, arbeitete sie nicht, weil ihr Sohn sie brauchte.
Der Patient mit dem Infarkt wurde auf die kardiologische Wacheinheit gebracht, und Erik Berger hatte wieder Zeit für Oles Bein. »Das Röntgenbild war unauffällig«, sagte er zu Inga. »Der Unterschenkel wurde nur geprellt.«
»Dann bekomme ich kein Gipsbein?«, fragte Ole und klang furchtbar enttäuscht.
Erik grinste. »Nein, aber wie wär’s mit einer tollen Schiene? Du sollst dein Bein in den nächsten Tagen sowieso etwas ruhig halten. Die Schiene kann dir dabei helfen.«
»Okay«, seufzte Ole gnädig auf. »Ein richtiger Gips wäre zwar besser, aber die Schiene nehme ich dann auch. Besser als nichts.«
Inga sah, dass es um Bergers Mund belustigt zuckte. Doch ihr war keineswegs nach Lachen zumute. Nein, sie stand kurz davor, völlig durchzudrehen. Sie wusste nicht, wie es mit der Kinderbetreuung oder ihrer Arbeit weitergehen sollte. Dann diese fürchterlichen Todesängste, die sie um ihr Kind ausgestanden hatte! Noch immer saß ihr das Entsetzen so sehr in den Gliedern, dass sie kaum Luft bekam, wenn sie an die schrecklichsten Minuten ihres Lebens zurückdachte. Und was machte ihr Sohn? Er feilschte um einen Gipsverband!
Völlig außer sich blaffte sie ihn an: »Besser als nichts? Wärst du auf einen Gipsverband etwa stolz gewesen? Weißt du denn gar nicht, was du getan hast?«
Ole sah sie erschrocken an, und Erik Berger musste eingreifen. Er hörte sich nicht freundlich an, als er sagte: »Schwester Inga, ich brauche Sie hier nicht mehr. Gehen Sie nach draußen und schnappen Sie ein bisschen frische Luft!« Dabei warf er ihr einen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, wie ernst er es meinte. Vielleicht war es dieser Blick oder seine Worte, vielleicht war es auch Oles trauriges Gesicht, das sie wieder zur Besinnung brachte.
»Ja, ja … natürlich«, stammelte sie. »Es tut mir leid …« Inga lief auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sie schaffte es noch einige Meter, bis ihr schwindelig wurde und die Beine nachgaben. Als Krankenschwester wusste sie, dass sie unter Schock stand und die Reaktion darauf vorübergehen würde. Sie musste nur ein wenig zur Ruhe kommen. Mit dem Rücken lehnte sie sich gegen die Flurwand und atmete tief ein. Doch das half nicht. Sie rutschte an der Wand hinunter, legte ihren Kopf auf die angezogenen Knie und umklammerte sie, als könnten sie ihr Halt und Trost geben. Es gelang ihr jetzt nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Obwohl sie wusste, dass es keinen Grund dafür gab, weinte sie hemmungslos.
So fand Markus sie, als er zurückkam, um nach ihr und den Jungs zu sehen. Erschrocken lief er zu ihr und hockte sich neben sie. »Was ist los? Ist etwas passiert?«
Immer noch heftig weinend, schüttelte Inga den Kopf. Sie hätte ihm gern gesagt, dass mit ihr und ihren Söhnen alles in Ordnung sei, aber mehr als ein lautes Schluchzen bekam sie nicht zustande. Markus sprang wieder auf die Beine und hob sie dann hoch, als wäre sie leicht wie eine Feder. Er brachte sie weg vom Flur, wo jeder sie sehen konnte, und lief mit ihr in den Aufenthaltsraum am Ende der Aufnahme. Dort setzte er sie auf einen Stuhl und hielt sie solange fest, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Irgendwann waren ihre Tränen versiegt, und sie löste sich verlegen aus seinen Armen. »Tut mir leid, ich habe ein wenig die Nerven verloren.« Dankbar nahm sie das Taschentuch an, das er ihr reichte.
»Kein Wunder«, sagte Markus so locker, als wäre wirklich nichts dabei. »Insgesamt haben Sie sich doch wunderbar gehalten. Ich habe zwar keine Kinder, aber ich wäre wahrscheinlich sofort ausgeflippt, wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre. So lange wie Sie hätte ich das bestimmt nicht durchgestanden.«
»Das ist nett, dass Sie das sagen.«
»Ich sag das nicht nur, weil ich ein sehr netter Mann bin. Ich meine es auch so. Sie können stolz auf sich sein.«
Inga trocknete ihre letzten Tränen und musterte ihn. Er meinte es wirklich ernst, erkannte sie dann.
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und schenkte ihm ein zartes Lächeln. »Vielen Dank, Herr Never.«
»Markus«, sagte er schlicht. »Ich heiße Markus. Wie geht es Ole?«, fragte er dann und verhinderte so, dass sie den Raum verließ.
Inga verzog das Gesicht. »Ich habe ihn eben mächtig angefahren und meinen ganzen Frust bei ihm abgeladen.« Sie setzte sich wieder hin. »Er hat mich ganz geschockt angesehen. Selbst Berger, der ja selbst kein Waisenknabe ist, war entsetzt.«
»Aber nur, weil du sonst immer sehr nett und freundlich zu ihnen bist. Sie kennen so ein Verhalten nicht von dir.« Er verzog leidvoll das Gesicht. »Ich dagegen …«
»Ich habe mich doch schon dafür entschuldigt«, erwiderte Inga mit einem leisen Lachen.
»Und ich habe deine Entschuldigung angenommen. Also reden wir nicht mehr davon. Sag mir lieber, was mit Ole ist. Sein Bein ist hoffentlich nicht gebrochen.«
Inga schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nur geprellt. Dr. Berger verbindet gerade die Wunde und spendiert ihm eine schicke Schiene, über die er sich schon riesig freut.«
»Kann ich gut verstehen. So eine Schiene macht bei den Mädchen bestimmt großen Eindruck.«
Als Inga auf der Stelle protestieren wollte, fragte Markus schnell: »Wer ist eigentlich Oma Trudi? Die Jungs haben während der Herfahrt von ihr gesprochen.«
»Oma Trudi wohnt gegenüber und ist nicht die richtige Großmutter der Kinder. Aber sie lieben sie so, als ob sie es wäre. Und ich liebe sie auch.« Inga seufzte traurig. »Sie hat mir in den letzten Jahren zur Seite gestanden wie kein anderer Mensch. Wenn Trudi nicht gewesen wäre, hätte ich den Job hier niemals annehmen können. Sie war es gewesen, die mir dazu geraten hatte und die seitdem meine Kinder betreut, wenn ich mal Spätdienst habe. Aber in letzter Zeit … Ich weiß nicht, was mit ihr los ist und warum sie heute nicht für meine Jungs dagewesen ist. Ich mache mir wirklich Sorgen um sie.«
»Du bist also nicht wütend auf sie?«
»Nein, höchstens auf mich.« Inga stand wieder auf. »Ich muss wieder zu Ole gehen. Dr. Berger ist bestimmt längst fertig.« Erst jetzt fiel Inga auf, dass Markus in Zivil war. »Was machst du überhaupt hier? Hast du nicht Feierabend?«
»Ja, aber ich wollte nach dir und den Kindern sehen. Wie kommt ihr nach Hause? Bist du mit dem Wagen hier?«
»Nein, ausgerechnet heute ist mein Auto in der Werkstatt. Ich werde mir nachher ein Taxi nehmen.«
»Ich fahre euch«, sagte Markus. »Meine Eltern wohnen gleich bei dir um die Ecke. Ich wollte sowieso noch bei ihnen vorbeischauen.«
Inga zögerte und überlegte, ob sie sein Angebot annehmen sollte. Doch es wäre albern, es nicht zu machen. Ole konnte nicht laufen, und wenn Markus Never ohnehin in ihre Gegend musste, sprach nichts dagegen, bei ihm mitzufahren.
»Wo wohnen deine Eltern denn?«, fragte sie trotzdem, nur um sicherzugehen, dass er nicht geschwindelt hatte.
»Im Dornweg. Es ist das Haus mit den weißen Fensterläden und dem riesigen Rhododendronbusch am Gartenzaun.«
Inga lächelte. Sie kannte das Haus. Doch vor allem kannte sie diesen wunderschönen Garten, der weit mehr zu bieten hatte als einen riesigen Rhododendronbusch. »Vielen Dank, Markus. Es wäre wirklich sehr nett, wenn du uns zu Hause absetzen würdest.«
*
Es war fast acht, als sie an Ingas Haus ankamen. Die Jungs mussten schleunigst ins Bett. Ole konnte morgen ausschlafen, aber für Malte war es ein ganz normaler Schultag, an dem er früh aufstehen musste.
Markus fuhr in ihre Einfahrt und hielt fast vor der Haustür. Schnell stieg Inga aus, um sie aufzuschließen. Als sie sich umdrehte, stand Markus bereits hinter ihr, mit Ole auf dem Arm, der während der Fahrt eingeschlafen war. Sein Abenteuer hatte ihn müde gemacht. Auch Malte sah so aus, als würden ihm gleich die Augen zufallen.
»Wohin?«, fragte Markus leise.
»Äh … nach oben. Wenn du so nett wärst …«
Markus eilte an ihr vorbei und steuerte auf die Treppe zu, die ins Obergeschoss führte. »Ich zeig dir, wo Oles Zimmer ist«, sagte Malte gähnend und folgte ihm.
Dass nun auch ihre Söhne Markus duzten, hatte Inga anfangs irritiert. Doch Markus hatte es den Kindern in ihrem Beisein angeboten. »Unter Feuerwehrmännern duzt man sich«, hatte er gesagt, als würde das alles erklären.
Als Inga die Haustür schließen wollte, entdeckte sie Trudi. Sie stand vor ihrem Haus und sah aus, als würde sie weinen.
Sogleich lief Inga zu ihr hinüber. Sie war erschrocken, als sie feststellte, dass Trudi tatsächlich tränenüberströmt war. »Trudi, was ist denn los mit dir?«, fragte sie besorgt.
»Ich hatte die beiden schon wieder vergessen«, schluchzte Trudi laut. »Ich weiß, dass du mich jetzt hasst, aber bitte sag mir wenigstens, wie es Ole geht. Bitte, Inga, wird er wieder gesund?«
»Ich hasse dich nicht, Trudi. Niemand tut das. Und Ole hat sich nur ganz leicht am Bein verletzt.« Inga schloss sie in ihre Arme und führte sie ins Haus. »Komm, wir setzen uns in die Küche und dann reden wir. Einverstanden?«
Trudi schüttelte ein weiterer Weinkrampf, sodass sie nur ein Nicken zustande brachte. Inga wartete, bis Trudi saß, und füllte dann ein Glas mit Wasser. »Du musst etwas trinken, Trudi. Dann geht’s dir bestimmt gleich besser.«
»Nein.« Trudi schüttelte den Kopf. »Mir wird es erst wieder besser gehen, wenn ich mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugt habe, dass meine beiden Lieblinge gesund und munter sind. Und wenn sie mir verzeihen. Wenn ihr alle mir verzeiht.«
»Das haben wir doch schon längst. Niemand ist dir böse.«
»Aber … aber das verstehe ich nicht. Durch meine Schuld wäre beinahe ein furchtbares Unglück geschehen. Während Ole fast vom Baum gefallen wäre, habe ich seelenruhig mit Gitti und den anderen Kaffee getrunken und einen Spaziergang durch den Park gemacht. Was ist denn bloß los mit mir? Warum tue ich so etwas?« Hilflos, mit tränenverschleierten Augen sah sie Inga an.
»Ich weiß es nicht«, beantwortete Inga ehrlich Trudis Frage. »Aber ich glaube, dass wir das herausfinden müssen. Ich werde es nicht so machen wie dein Hausarzt, der alles auf dein Alter schiebt.«
»Denkst du …« Trudi fiel es sichtbar schwer, die nächsten Worte auszusprechen. »Denkst du, ich habe Alzheimer?«
»Alzheimer ist nur eine von vielen Krankheiten, bei denen es zur Vergesslichkeit kommen kann. Wir sollten jetzt nicht anfangen, wild zu spekulieren. Wenn du einverstanden bist, frage ich morgen Dr. Norden, ob er uns weiterhilft. Wenn es einer kann, dann er.«
Als Inga Minuten später zurücklief, machte sie sich Sorgen. Nicht nur wegen Trudi, sondern auch wegen Markus, den sie einfach so mit ihren Söhnen zurückgelassen hatte. Sein Auto stand noch vor ihrem Haus. Er war also nicht verschwunden. Stattdessen war er bei ihren Kindern geblieben – im Gegensatz zu ihr. Ohne nachzudenken, war sie zu Trudi gelaufen, als sie gesehen hatte, dass diese ihre Hilfe brauchte. Instinktiv hatte sie Markus vertraut.
Markus hatte Ole hingelegt, seine Schuhe ausgezogen und ihn zugedeckt. Im zweiten Bett daneben lag Malte, dem es Mühe bereitete, die Augen offenzuhalten und weiter der Geschichte zu lauschen, die Markus ihm leise vorlas. Irgendwann siegte die Müdigkeit, und er schlief ein.
Markus verstummte, wartete aber noch einige Sekunden, bevor er leise das Buch zuklappte und aus dem tiefen Sessel aufstand. Er lächelte, als er die Nachttischlampe ausmachte. Obwohl er sich schon immer gewünscht hatte, Vater zu sein, war er überrascht, wie gut es sich anfühlte, für Kinder da zu sein und die Verantwortung für sie zu übernehmen. Selbst, wenn es nicht die eigenen waren. Er überlegte noch, ob es ihm nur bei Ole und Malte so erging, weil sie einfach zwei tolle Jungs waren, als er Ingas Anwesenheit spürte. Wie lange stand sie schon in der Tür und beobachtete ihn?
»Sie schlafen«, flüsterte er ihr zu, als er an ihr vorbei zur Treppe ging. Unten wartete er geduldig auf sie. Er wusste, sie würde erst nach ihren Söhnen sehen, bevor sie sich Zeit für ihn nehmen konnte.
Sie lächelte ihn an, als sie am Treppenabsatz erschien und zu ihm hinunterkam. Ihr Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie hart dieser Tag für sie gewesen war.
»Entschuldige, dass ich dich alleingelassen habe. Aber Trudi …«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich habe sie draußen stehen sehen. Was ist mit ihr? Ist sie in Ordnung?«
»Nein. Nein, ich denke nicht.« Sie seufzte traurig auf. »Sie hatte wieder einmal völlig vergessen, dass sie heute auf die Jungs aufpassen wollte, und macht sich nun natürlich große Vorwürfe.«
»Wie soll es jetzt weitergehen?«
»Trudi muss gründlich untersucht werden, damit wir wissen, was los ist. Ich will Dr. Norden deswegen ansprechen. Und dann muss ich mir noch etwas einfallen lassen, wie es in Zukunft laufen soll. Ich werde mir einen Babysitter für die Jungs suchen müssen, um weiter in der Notaufnahme arbeiten zu können. In der nächsten Woche bin ich noch mit Ole zu Hause. Das verschafft mir etwas Zeit.«
»Vielleicht kann ich weiterhelfen. Mir ist gerade eine wunderbare Idee gekommen.«
»Ach ja? Welche?«
Markus lachte leise. »Das erzähl ich dir, wenn ich weiß, ob alles klappt.« Er hatte es auf einmal eilig fortzukommen. »Ich muss jetzt leider los. Du weißt ja, dass ich noch zu meinen Eltern wollte.«
»Ja, es tut mir schrecklich leid, dass es so lange gedauert hat«, erwiderte Inga zerknirscht.
»Ich war gern mit dir und den Kindern zusammen. Der Anlass war natürlich weniger schön, aber trotzdem … Es hat mir Spaß gemacht. Vielleicht …«
Als er verstummte, fragte Inga lächelnd: »Warum sprichst du nicht weiter?«
»Ich glaube, das wäre keine gute Idee.«
»Der große Held meiner Kinder hat also Angst bekommen? Sie werden sehr enttäuscht sein, wenn ich es ihnen morgen erzähle.«
»Das wirst du doch hoffentlich nicht machen«, erwiderte er und tat entsetzt. Damit brachte er Inga zum Lachen, und Markus wurde ganz warm ums Herz. Spontan strich er ihr sanft über die Wange. »Es ist schön, dich wieder lachen zu sehen. Das solltest du viel öfter machen.«
Schnell zog er seine Hand zurück, als er den erstaunten Ausdruck in ihren Augen sah. »Brauchst du morgen meine Hilfe?«, fragte er dann, als sei nichts geschehen. »Ich weiß, dass du deinen Wagen aus der Werkstatt holen willst. Und du wirst sicher Malte zur Schule bringen und hast wohl auch wegen Trudi noch allerhand zu regeln. Wenn du magst, komme ich her und bleibe in der Zeit bei Ole.«
Inga konnte durchaus etwas Unterstützung gebrauchen. Mit Trudis Hilfe konnte sie nicht mehr rechnen. Ihre Nachbarin hatte selbst welche nötig. Aber war es wirklich klug, Markus’ Angebot anzunehmen?
»Musst du denn nicht arbeiten?«
»Ich habe ein paar freie Tage und stehe dir also zur Verfügung. Wann soll ich morgen hier sein?«
»Geht es schon um sieben?«, fragte Inga, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
»Klar. Dann sehen wir uns also morgen.«
Inga blieb an der Haustür stehen, als er in sein Auto stieg und losfuhr. Noch immer meinte sie, seine Hand auf ihrer Haut zu spüren, und wünschte sich, er hätte sie nie weggenommen.
*
Pünktlich auf die Minute kam Markus am nächsten Morgen an. Er begrüßte Malte wie einen guten Freund, ließ sich von Inga alles Wichtige erklären und lief dann nach oben zu Ole.
Inga machte sich mit Malte auf den Weg zur Schule. Sie wunderte sich, dass sie Ole einem Mann anvertraute, den sie kaum kannte. Sie hatte seine Hilfe angenommen, ohne groß darüber nachzudenken und als wäre es das Normalste auf der Welt. Noch merkwürdiger war, dass es sie nicht beunruhigte. Deshalb hörte sie bald wieder auf, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen, sondern genoss den kurzen Fußweg mit Malte.
Als sie sich vor der Schule von ihm verabschiedete, wollte er wissen: »Ist Markus nachher noch da, wenn ich nach Hause komme?«
Inga schüttelte den Kopf. »Nein, mein Spatz. Bis Mittag habe ich bestimmt alles erledigt, und dann wird Markus wieder nach Hause fahren.«
Sofort verzog Malte enttäuscht das Gesicht. »Das ist total unfair. Ole kann die ganze Zeit mit ihm zusammen sein. Und ich? Ich muss in diese blöde Schule.«
»He! Sei froh, dass du gesund bist und nicht mit einem verletzten Bein zu Hause liegst.«
»Bin ich ja auch«, erwiderte Malte kleinlaut. »Aber trotzdem …«
»Trotzdem würdest du gern ein wenig Zeit mit Markus verbringen. Du kannst ihn wohl gut leiden.«
»Ja!« Malte nickte eifrig und war froh, dass seine Mutter dafür Verständnis hatte. »So einen Vater haben wir uns nämlich schon immer gewünscht!«
Inga verschluckte sich fast, als sie das hörte. Glücklicherweise kamen gerade ein paar Schulfreunde an, die Malte mit sich fortzogen. Kurz bevor er ins Gebäude ging, drehte er sich noch einmal zu ihr um, winkte und ging hinein. Bestürzt blieb Inga vor der Schule stehen und starrte auf die Tür, hinter der ihr Sohn verschwunden war. Seit wann wünschten sich ihre Jungs denn einen Vater? Sie hatten nie mit ihr darüber gesprochen, und sie hatte nicht gedacht, dass sie eine Vaterfigur vermissen würden. Wie sehr sie sich doch geirrt hatte. Dass ausgerechnet Markus ihrem Ideal von einem Vater entsprach, wunderte sie allerdings nicht. Er hatte sofort einen Draht zu ihren Kindern gehabt, und sie schienen ihm zu vertrauen. Außerdem war er ein echter Feuerwehrmann und ein Held, der einen kleinen Jungen vom Baum gerettet hatte! Das allein reichte wahrscheinlich schon aus, um Kinderaugen zum Leuchten zu bringen. Trotzdem tat es Inga ein wenig weh, dass da plötzlich der Wunsch nach einem Vater auftauchte. Bisher hatte sie immer gedacht, sie würde ihren Söhnen genügen. Was für ein Trugschluss …
Die Autowerkstatt war nicht weit entfernt, sodass Inga bald in ihrem Wagen saß und zur Behnisch-Klinik fahren konnte. Sie schaute nur ganz kurz in die Aufnahme rein, um Hallo zu sagen und von Ole zu berichten. Dann ging sie zu Dr. Daniel Nordens Büro. Sie hatte von unterwegs Katja Baumann angerufen und um diesen kurzfristigen Termin gebeten.
Katja empfing sie mit einem freundlichen Lächeln. »Sie können gleich durchgehen, Schwester Inga. Dr. Norden erwartet Sie bereits.«
»Schön, dass Sie vorbeikommen, Schwester Inga«, begrüßte Daniel Norden sie herzlich. »Meine Frau hat mir gestern von Ihrem Sohn erzählt. Geht es ihm gut?«
Inga hatte auf dem Besucherstuhl vor Daniels Schreibtisch Platz genommen und wollte seine Frage beantworten, als Fee Norden hereinkam. »Guten Morgen, Inga. Ich hoffe, ich störe nicht, aber ich habe gehört, dass Sie hier sind, und muss unbedingt wissen, wie Ole die Nacht verbracht hat.«
Daniel schmunzelte. »Warum setzt du dich nicht einfach zu uns, Fee? Schwester Inga war nämlich gerade dabei, von ihrem Sohn zu berichten.«
Inga freute sich über das ehrliche Interesse der Nordens am Schicksal ihres Sohns. »Es geht ihm sehr gut. Er hat bestens geschlafen, hat keine Schmerzen und lässt sich gern ein wenig verwöhnen.«
»Also alles so, wie es sein soll«, lachte Fee. »Wer ist denn jetzt bei ihm? Ihre Nachbarin? Oma Trudi? Malte hat mir von ihr erzählt.«
»Nein, mit Oma Trudi kann ich leider im Moment nicht rechnen. Sie ist auch ein Grund, warum ich heute hier bin.« Inga berichtete von Trudis Vergesslichkeit und ihren anderen Beschwerden.
»War sie deswegen schon beim Arzt?«, fragte Daniel.
»Ja, bei ihrem Hausarzt. Aber ich befürchte, er nimmt das Ganze nicht ernst genug. Er hat es nur aufs Alter geschoben und ihr gesagt, dass sie sich damit abfinden müsse, dass sie keine Zwanzig mehr sei. Deshalb wollte ich fragen, ob Sie sich Trudi mal anschauen könnten. Wäre das vielleicht möglich?«
Daniel musste nicht lange überlegen. Er griff zum Telefonhörer und rief in der Inneren an, um sich kurz abzusprechen. Nachdem er wieder aufgelegt hatte, sagte er zu Inga: »Auf der Station ist ein Bett frei. Wir können sie also für eine umfassende Diagnostik aufnehmen. Meinen Sie, Ihre Freundin ist damit einverstanden?«
Erleichtert atmete Inga auf. »Dafür werde ich schon sorgen. Ich bringe sie noch heute her.«
Fee sah sie nachdenklich an. »Wer übernimmt eigentlich die Betreuung der Kinder, wenn Trudi nun ausfällt?«
»Das ist das nächste Problem, das mich hergeführt hat«, gestand Inga seufzend. »Ich habe ja bisher immer mal wieder einen Spätdienst gemacht, um die anderen Schwestern zu entlasten und natürlich auch, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil ich ja nur die Tagschicht mache und sogar die Wochenenden frei habe. Aber nun … ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen soll. In der nächsten Woche bin ich noch mit Ole krankgeschrieben. Ich werde versuchen, einen Babysitter zu finden, bis ich wieder arbeiten muss. Aber wenn mir das nicht gelingt … Ich kann meine Jungs unmöglich allein lassen.«
»Das verlangt auch niemand von Ihnen«, sagte Daniel warm. »Solange keine andere Lösung gefunden wurde, machen Sie keinen Spätdienst mehr, sondern arbeiten nur dann, wenn die Jungs in der Schule oder in der Nachmittagsbetreuung sind.«
»Das ist wirklich sehr nett. Ich hoffe nur, es macht nicht zu viele Umstände. Und sobald ich jemanden gefunden habe …«
»Das wissen wir doch«, wurde sie von Fee lächelnd unterbrochen. »Und wir alle wissen auch, wie schwer Sie es in den letzten Jahren hatten. Alleinerziehend mit zwei lebhaften Jungs. Es gibt wohl niemanden unter uns, der nicht den Hut vor Ihnen zieht.«
Inga lachte verlegen. »Das sagen ausgerechnet Sie? Soviel ich weiß, haben Sie sogar fünf Kinder großgezogen, und darunter war auch ein Zwillingspärchen.«
»Ja, aber ich hatte es trotzdem einfacher als Sie. Als die Kinder noch jünger waren, habe ich nicht gearbeitet. Außerdem hatten wir eine gute Seele, die bei der Hausarbeit und der Kinderbetreuung half. Und natürlich stand mir mein Mann immer zur Seite.«
Daniel räusperte sich vernehmlich. »Es ist lieb, dass du das sagst, Feelein. Aber um ehrlich zu sein, auf meine Unterstützung konntest du dabei kaum zählen. Zugunsten der Praxis und meiner Patienten hast du sehr oft auf mich verzichten müssen. Den Hauptanteil hast du ganz allein getragen.«
Fee ging um den Schreibtisch herum, um Daniel einen zärtlichen Kuss zu geben. Dass sie dabei Publikum hatte, interessierte sie nicht sonderlich. In der Behnisch-Klinik störte sich niemand daran, wenn der Chefarzt und seine Frau offen zeigten, wie sehr sie sich liebten.
»Ich wusste doch immer, dass ich mich in jeder Situation auf dich verlassen konnte, Dan«, sagte Fee liebevoll. »Wir waren immer eine Einheit, und ich war nie wirklich allein, selbst wenn du nicht bei mir warst.«
Diese kleine Szene, in der sich zeigte, wie tief und innig die Liebe zwischen den beiden auch nach all den Jahren war, rührte an Ingas Herz. Ohne ihnen ihr Glück zu neiden, wünschte sie sich auf einmal, sie hätte auch so etwas Wundervolles erfahren dürfen. Ihre Gedanken wanderten zu Markus Never. Sie wusste, wenn dieses wunderbare Glück, das die Nordens erlebten, auch ihr bestimmt war, dann nur mit einem Mann wie Markus. Warum hatte sie eigentlich so lange gebraucht, um das zu erkennen?
*
Inga fuhr vom Krankenhaus direkt zu Trudi. Dabei widerstand sie dem großen Drang, kurz bei Ole und Markus reinzuschauen. Sie hatte Markus bereits von der Klinik aus angerufen, um ihm zu sagen, dass es später werden könnte.
»Kein Problem, Inga. Wir kommen prima klar. Und falls du mittags noch nicht hier bist, haue ich ein paar Eier in die Pfanne, falls dir das recht ist.«
»Ja … danke, das wäre sehr nett von dir.« Es war mehr als nett, war Inga bewusst. Markus machte kein großes Gewese, sondern tat einfach das, was nötig war.
So leicht wie bei Markus hatte sie es bei Trudi dann allerdings nicht. Sie musste ihre ganze Überredungskunst einsetzen, damit Trudi der Klinikaufnahme endlich zustimmte und sich von ihr hinfahren ließ. Der Abschied von Trudi fiel Inga sehr schwer. Das Gefühl, dass bald nichts mehr so sein würde, wie es war, und große Veränderungen ins Haus standen, ließ sie nicht los. Das machte ihr Angst und stimmte sie traurig.
Kurz nach dem Mittag war Inga endlich wieder daheim. Sie folgte den Geräuschen, die aus ihrer Küche kamen. Markus räumte den Geschirrspüler ein und sah auf, als er ihr Kommen bemerkte. Er lächelte sie an, und Inga vergaß dabei ihre Traurigkeit. Es war, als hätte dieses Lächeln einen Schalter umgelegt, der dafür sorgte, dass sie wieder voller Hoffnung nach vorn schauen konnte.
»Hallo, Schatz, wie war dein Tag?«, witzelte Markus. »Schön, dass du wieder zu Hause bist.« Der letzte Satz klang nicht mehr nach einem Scherz, sondern so, als meinte er es ernst.
»Wie geht es Ole? Ist er oben?«, fragte Inga schnell, um zu überspielen, wie sehr sie sich darüber freute.
»Ja, ich habe ihm ein Buch in die Hand gedrückt, damit ich mich um die Küche kümmern kann.«
»Das hättest du nicht tun müssen. Wenn du schon auf Ole aufpasst, ist der Küchendienst meine Sache.«
»Es stört mich nicht. Außerdem bleibt uns dadurch mehr Zeit, um uns zu unterhalten. Komm, wir setzen uns.« Er wartete, bis sie auf einem Küchenstuhl saß, und fuhr dann fort: »Als ich gestern Abend bei meinen Eltern war, wollten sie natürlich wissen, wie es Ole und Malte geht. Meine Mutter war dabei gewesen, als ich Ole vom Baum geholt habe. Ich habe ihnen erzählt, mit welchen Problemen du zu kämpfen hast, weil Trudi nicht mehr auf die Kinder aufpassen kann. Meine Eltern würden dir sehr gern helfen. Sie arbeiten beide nicht mehr und haben viel Zeit. Wenn du möchtest, übernehmen sie die Betreuung von Ole und Malte, wenn du arbeitest. Was hältst du davon?«
Inga war kurz sprachlos. Das hörte sich wirklich nach der perfekten Lösung für ihr Problem an. »Ich weiß nicht so recht«, sagte sie dennoch.
»Was ist los? Ich dachte, du würdest dich darüber freuen. Fällt es dir so schwer, Hilfe von anderen anzunehmen?«
»Nein«, protestierte Inga augenblicklich. »Ich kann durchaus Hilfe annehmen. Trudis Hilfe habe ich zum Beispiel immer angenommen und auch die von Dr. Norden. Er hat nämlich festgelegt, dass ich keinen Spätdienst mehr mache, solange ich keinen Babysitter für die Jungs habe.«
»Dann muss es also wieder mal an mir liegen«, stellte Markus fest, ohne eine Miene zu verziehen. »Du willst nur meine Hilfe nicht annehmen.«
»Quatsch! Du weißt, dass das nicht stimmt. Schließlich hast du bis eben auf meinen Sohn aufgepasst. Von gestern will ich erst gar nicht reden. An dir liegt es wirklich nicht. Aber deine Eltern … Ich kenne sie doch gar nicht.«
»Dann solltest du sie unbedingt kennenlernen. Das sehen meine Eltern übrigens genauso. Deshalb laden sie dich und die Jungs für Sonntagnachmittag ein.« Markus kam ins Schwärmen: »Meine Mutter backt einen fantastischen Apfelstrudel. Den darfst du dir auf keinen Fall entgehen lassen.«
Inga fiel dazu kein vernünftiges Gegenargument ein. Warum sollte sie das nette und unerwartete Angebot der Nevers eigentlich nicht annehmen? Das Schicksal schien es wirklich gut mir ihr zu meinen. Eine Tür schließt sich, dafür öffnet sich eine andere, lautete Trudis Lieblingsspruch. Trudi … Es war nicht nur so, dass Trudi als Ersatz-Oma für die Kinder ausfiel. Sollte sie ernsthaft krank sein, bräuchte sie zudem selbst Hilfe. Für Inga wäre es selbstverständlich, dann für Trudi da zu sein. Mit den Nevers als Babysitter hätte sie mehr Zeit für ihre kranke Nachbarin.
»Also gut«, sagte Inga schließlich. »Richte bitte deinen Eltern aus, dass wir uns über die Einladung sehr freuen und gern vorbeikommen.«
Das Treffen am nächsten Sonntag lief bestens. Gudrun und Hartmut Never gehörten zu den warmherzigsten Menschen, die Inga je kennenlernen durfte. Sie verstand sich auf Anhieb mit ihnen, und die Zwillinge fühlten sich in dem gepflegten Haus mit dem zauberhaften Garten sofort heimisch und zeigten keine Scheu.
Den köstlichen Apfelstrudel ließen sie sich auf der Terrasse bei herrlichstem Sonnenschein schmecken und sprachen dabei fast beiläufig über die Betreuung von Malte und Ole. Ingas Bedenken waren bald ausgeräumt, vor allem als sie sah, dass sich Gudrun und Hartmut von Herzen auf diese neue Aufgabe in ihrem Leben freuten. Und da auch die Kinder von Markus’ Eltern begeistert waren, sprach nichts dagegen, dass sie bereits am nächsten Nachmittag die Kinder hüten würden. Inga wollte am nächsten Tag in die Behnisch-Klinik fahren, um Trudi zu besuchen. Sie hoffte, dass dann auch schon die ersten Befunde vorlagen.
Später, als sie wieder zu Hause war und die Kinder ins Bett brachte, dachte sie darüber nach, wie perfekt dieser Sonntagnachmittag gewesen war. Fast perfekt, denn einen kleinen Wermutstropfen hatte es gegeben: Sie hatten ihn ohne Markus verbracht. Er war für einen erkrankten Kollegen eingesprungen und hatte dessen Dienst übernommen. Inga hatte ihn vermisst – und nicht nur sie.
»Schade, dass wir Markus gar nicht gesehen haben«, beschwerte sich Ole, während er seinen Schlafanzug anzog.
»Ja, das war richtig blöd«, stimmte Malte seinem Bruder zu. »Aber vielleicht kommt er ja noch vorbei, wenn er mit der Arbeit fertig ist.«
»Das denke ich nicht«, sagte Inga und war darüber genauso traurig wie ihre Söhne. »Sein Dienst endet erst um zehn. Dann schlaft ihr schon längst. Außerdem wird Markus sicher froh sein, wenn er endlich ins Bett fallen kann. Die Arbeit bei der Feuerwehr kann ganz schön anstrengend sein.«
Die Jungs nickten. Markus hatte ihnen viel davon erzählt. Trotzdem blieb diese kleine Hoffnung, dass er doch noch kommen möge, bestehen, bis sie endlich einschliefen. Sie konnten nicht wissen, dass es ihrer Mutter nicht anders erging. Auch sie dachte an Markus, bis der Schlaf sie übermannte. Die Gedanken an ihn begleiteten sie bis in ihre Träume und sorgten dafür, dass sie am Morgen mit einem Lächeln aufwachte.
Es hielt an, bis sie am Nachmittag in der Behnisch-Klinik ankam. Auf der Inneren traf sie Dr. Norden. An seinem ungewöhnlich ernsten Gesicht erkannte sie, dass er keine guten Nachrichten für sie hatte, und ihr Lächeln verschwand, als wäre es nie dagewesen. Dafür machte sich eine große Angst in ihr breit, die ihre Stimme zum Zittern brachte.
»Was ist mit Trudi? Wissen Sie, was ihr fehlt?«
»Ja, Inga, das wissen wir jetzt.« Daniel fasste sie am Ellenbogen und schob sie sanft zum Dienstzimmer. »Das sollten wir nicht hier auf dem Flur bereden.«
»Wie schlimm ist es denn?«, fragte Inga, als sie sich gegenüber saßen.
Daniel sah, dass sie schon jetzt sehr aufgewühlt war. Das, was er ihr nun sagen musste, würde für viel Trauer und Schmerz sorgen. Doch er wusste, dass sich schlechte Nachrichten besser verarbeiten ließen, wenn sie offen angesprochen wurden und den Menschen klar war, was auf sie zukam.
»Ich möchte Ihnen nichts vormachen, Inga, und werde deshalb ganz ehrlich zu Ihnen sein. Um Ihre Freundin steht es sehr schlecht. Bei der Computertomografie wurde ein Oberbauchtumor festgestellt, der bereits Metastasen gebildet hat. Es gibt Tochtergeschwülste in der Lunge, an der Wirbelsäule und im Gehirn. Daraus erklären sich auch die Beschwerden, die sie hat.«
»Und nun? Wie werden Sie sie behandeln? Wann wird sie operiert? Wollen Sie gleich mit der Chemo anfangen? Oder bestrahlen?«
Daniel hatte bei allen Fragen, die ihm Inga gestellt hatte, nur traurig mit dem Kopf geschüttelt. »Nein, nichts davon. Aus medizinischer Sicht gibt es nichts mehr, was wir für sie tun können. Die Erkrankung ist zu weit fortgeschritten.«
»Wenn ich doch bloß früher …«, schluchzte Inga auf und begann heftig zu weinen.
Daniel legte tröstend einen Arm um Ingas Schultern. »Sie wissen, dass das nicht Ihre Schuld ist. Bitte reden Sie sich das jetzt nicht ein. Manchmal treten die ersten Symptome erst auf, wenn schon alles zu spät ist. Diese Geschwüre sind nicht über Nacht gewachsen. Sie muss sie schon mehrere Jahre mit sich herumgetragen haben.«
Als Krankenschwester wusste Inga das natürlich. Trotzdem tat es ihr gut, dass noch einmal von Daniel Norden bestätigt zu bekommen.
»Ihrer Freundin geht es bis auf ein paar kleine Unpässlichkeiten ganz gut. Es spricht nichts dagegen, dass ihr noch eine schöne Zeit vergönnt ist, die sie zusammen mit ihrer Familie verbringen kann.«
»Sie hat nur eine Tochter, die in der Schweiz lebt«, erklärte Inga leise schniefend. »Ich hatte sie angerufen, als Trudi hier aufgenommen wurde.«
»Vor einigen Stunden ist sie mit ihrem Mann angekommen. Sie weiß bereits Bescheid und wird ihre Mutter mit nach Hause nehmen.«
»Sie nimmt Trudi mit in die Schweiz?«, fragte Inga entsetzt. Sie wollte ihre Freundin nicht verlieren.
»Es war Trudis Wunsch. Sie möchte gern in der Zeit, die ihr noch bleibt, bei ihrer Familie sein.«
»Ja, natürlich … ihre Familie«, erwiderte Inga wie betäubt. Ihre richtige Familie, fügte sie für sich hinzu.
»Warum gehen Sie nicht zu ihr? Dann können Sie sich noch von ihr verabschieden.«
Inga nickte und stand auf. »Vielen Dank, Dr. Norden.«
Während sie zu Trudi ging, versuchte sie, damit klarzukommen, dass sie nicht nur ihre beste Freundin, sondern auch einen Teil ihrer Familie verlieren würde.
Inga kam erst am späten Nachmittag nach Hause, obwohl sie bei Trudi nur wenige Minuten verbracht hatte. Sie hatte schnell gemerkt, wie glücklich ihre Freundin über die Anwesenheit ihrer einzigen Tochter war, und hatte sich deshalb bald zurückgezogen. Der Abschied von Trudi hatte ihr dann fast das Herz gebrochen. Schon am nächsten Tag wollte Trudi in die Schweiz abreisen. Trotz des Versprechens, in Kontakt zu bleiben und sich gegenseitig zu besuchen, ahnte Inga, dass es ein Abschied für immer war.
Sie war zu traurig gewesen, um gleich nach Hause zu fahren. Das würde sie nur daran erinnern, dass sie irgendwann ihren Söhnen erzählen musste, dass sie ihre Oma Trudi verloren hatten.
Als sie endlich heimkam und den Wagen, der in ihrer Einfahrt stand, erkannte, beschleunigte sich ihr Herzschlag, und der Tag erschien ihr auf einmal weniger grau und trüb. Und dann sah sie Markus auf der kleinen Bank neben ihrer Haustür sitzen, und plötzlich kehrte auch das Lächeln in ihr Gesicht zurück.
Markus stand auf, als sie ausstieg, und kam ihr entgegen. Obwohl sie lächelte, sah er, wie traurig sie war.
»Es tut mir leid wegen Trudi«, sagte er warm und zog sie einfach in seine Arme. Das war genau das, wonach sich Inga die ganze Zeit gesehnt hatte, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und genoss den Trost, den ihr seine Nähe gab.
»Woher weißt du, was passiert ist?«, fragte sie nach einer Weile, rührte sich aber nicht von der Stelle.
»Ich war in der Klinik, weil ich hoffte, dich dort zu treffen. Du warst schon wieder fort, aber Dr. Norden erzählte mir alles. Ich dachte mir, dass du jetzt nicht allein sein möchtest. Deshalb bin ich hergekommen.«
Inga hob ihren Kopf und sah ihn voller Liebe an.
»Danke. Ich bin froh, dass du bei mir bist.«
»Wärst du auch froh, wenn ich bleiben würde?«
»Das hängt davon ab, wie lange du bleiben möchtest.«
»Für immer«, erwiderte Markus ernst. »Mit weniger könnte ich mich nicht zufriedengeben.«
»Für immer klingt fantastisch«, brachte Inga noch glücklich hervor, dann küsste er sie endlich.
»Ich liebe dich, Inga. Wahrscheinlich habe ich das schon immer getan.« Er hauchte einen weiteren zärtlichen Kuss auf ihren Mund. Es gelang ihm nicht, die Sorge aus seiner Stimme herauszuhalten, als er sagte: »Ich liebe auch deine Jungs, Inga, und wäre ihnen ein guter Kamerad und – wenn ich darf – ein noch besserer Vater. Meinst du … meinst du, sie wären damit einverstanden?«
Inga lachte auf. »Natürlich! Sie haben sich doch schon längst in ihren großen Helden verliebt. Genau wie ich.«