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Michael Ehrling schob den vergilbten Vorhang gerade so weit zur Seite, dass man ihn von draußen nicht sehen konnte, und spähte auf den Kirchenvorplatz.

Das grelle Blaulicht zweier Polizeiautos und eines Krankenwagens blitzte rhythmisch und kalt durch den düsteren Vormittag und wurde von den Pfützen des vom Streusalz geschmolzenen Eises auf dem Asphalt reflektiert. Er wusste, warum sie dort standen, er selbst hatte Zora heute Morgen auf den Kirchenstufen gefunden. Ein Blick hatte genügt, um zu sehen, dass es eine Überdosis gewesen war. Die lange, silberne Nadel der Plastikspritze hatte noch in ihrem mageren Arm gesteckt. Aber verstanden hatte er es nicht. Sie war seit Wochen clean gewesen. Dessen war er sich sicher. Wenn einer so etwas erkennen konnte, dann war er das. Außerdem hatte sie ihre Schlupfwinkel, sie hätte sich niemals mitten auf dem Kirchplatz und direkt vor der DROBERA einen Schuss gesetzt. Das hätte sie ihm nicht angetan. Drogenabhängige hatten wenig moralische Skrupel, doch untereinander hatten sie den Rest eines Ehrenkodex.

Nach einem langen Blick auf ihr blasses Gesicht, das ausgesehen hatte, als würde sie schlafen, war Michael in die DROBERA gelaufen und hatte die Tür zugeschlagen. Mit zitternden Fingern hatte er Kaffee eingeschenkt und nach kurzem Zögern einen ordentlichen Schuss Wodka hinzugegeben. Die Polizei hatte er nicht gerufen. Das brachte er nicht über sich. In seinem Leben war die Polizei nie ein Freund und Helfer gewesen.

„Eh, Alter, hast du gesehen, was da draußen abgeht?" Er drehte sich um und sah Cora in der Tür stehen. Sie gehörte genauso lange zur Gruppe wie Zora.

„Ja, ich weiß, warum die Bullen hier sind. Es hat Zora erwischt."

„Fuck!" Cora wurde blass, ihre dunkel geschminkten Augen dominierten das Gesicht. Blind tastete sie nach einem der Stühle, die um den großen Tisch in der Mitte des Raumes arrangiert waren, und ließ sich darauf fallen. Michael setzte sich zu ihr. Mit fahrigen Fingern nestelte er eine Zigarette aus einer verknitterten Packung, die neben dem überquellenden Aschenbecher auf dem Tisch lag, und zündete sie an. Tief inhalierte er den ersten Zug und ließ den Rauch mit zurückgelegtem Kopf zur Decke aufsteigen.

Cora spielte mit einer schwarzen, langen Haarsträhne und schaute ihn unsicher an. „Voll krass. Was ist passiert?" Ihre Stimme zitterte.

„Überdosis."

„Wie beschissen ist das denn! Bist du jetzt völlig meschugge? Sie war doch so gut drauf! Hatte es geschafft! Unmöglich!" Cora schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen.

„Ist aber so. Ich habe sie draußen liegen sehen. Die Spritze war noch in ihrem Arm. Irgendwann erwischt es eben jeden von uns."

„Fuck, nein, nicht Zora!" Cora sprang so heftig auf, dass der Stuhl umkippte. „Sie war clean! Echt! Und wenn sie sich einen Schuss gesetzt hätte, dann never ever eine Überdosis. Sie war ein Pro!" Michael zuckte müde mit den Schultern und nahm einen weiteren tiefen Zug.

„Irgendetwas ist da oberfaul." Cora wanderte aggressiv durch den Raum. „Vielleicht hat ihr so ein Spacko schlechten Stoff untergejubelt. Aber das kann nicht sein. Sie hat nur bei Amdi gekauft. Der hat ihr sogar manchmal was auf Pump gegeben. Der hätte sie nie beschissen."

Michael stellte mit schwerfälligen Bewegungen den Stuhl auf, streckte die Hand aus und zog sie an ihrem dünnen Arm zum Tisch zurück. „Setz dich, du machst mich ganz kirre. Die Polizei wird gleich vorbeikommen und mit uns reden wollen. Wir sollten aufpassen, dass wir keine wilden Anschuldigungen machen. Wir wissen ja auch nichts. Warst du nicht gestern Abend mit Zora unterwegs?"

Cora nickte. „Wir haben in der City abgehangen. Unten am Rhein, am Bahnhof und auf der Domplatte. Haben ein paar Biere gezischt, geguckt, was so abgeht, ob wir was drehen können, du weißt schon", sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. „Aber Zora war ok. Nicht auf Droge. Echt."

„Ich weiß. Aber vor einem Rückfall ist man nie sicher. Du nicht und ich nicht. Und Zora auch nicht. Keiner von uns. Deshalb müssen wir der Polizei gegenüber vorsichtig sein und dürfen keine wilden Vermutungen anstellen."

Es klopfte an der Tür. Die beiden zuckten zusammen und sahen sich angespannt an. Ohne auf eine Antwort zu warten, traten zuerst zwei uniformierte Polizisten, dann ein kräftiger Mann mittleren Alters im ausgebeulten Anzug und abgestoßener Lederjacke ein.

„Guten Tag, die Herrschaften. Kripo Köln. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Auf dem Vorplatz wurde eine Frau tot aufgefunden. Könnten Sie bitte mitkommen? Sie ist wahrscheinlich keine Unbekannte für Sie."

Michael winkte ab. „Ich habe sie gesehen. Es ist Zora, sie gehört zu unserer Gruppe."

„Ach ja?" Die Augen des untersetzten Mannes starrten ihn argwöhnisch an. „Sie haben uns aber nicht benachrichtigt. Das war jemand anders. Das können wir nämlich sehen."

Michael senkte den Blick und drückte seine Zigarette aus.

„Ist Rauchen hier nicht verboten?" Der Dicke zeigte auf die Din-A-4-großen Verbotsschilder, die an den Wänden klebten. „Wenn Sie es mit den Zigaretten nicht so eng sehen, nehmen Sie es mit der Drogenabstinenz wohl auch nicht so ernst?"

„Doch." Michael wand sich. „Natürlich nehmen wir das Thema Drogen ernst. Deshalb gibt es uns ja. Aber es ist nicht leicht für die Leute, davon loszukommen. Vielen fällt es schwer, auf alles zu verzichten. Deshalb erlaube ich bei den Gruppensitzungen, dass geraucht wird."

Der Kommissar schaute Michael missbilligend an, verfolgte das Thema aber nicht weiter. „Was können Sie mir über die Tote sagen?"

„Als ich heute zur DROBERA kam, lag sie auf den Kirchenstufen. Die Spritze steckte in ihrem Arm. Ich wollte die Polizei rufen, aber dann sind Sie ja schon gekommen. Und keine Sorge, ich habe nichts angefasst."

Der Kommissar starrte ihn an, dann nickte er und zückte ein Notizbuch. „Wie ist der volle Name der Toten?“

„Sie heißt Soraya. Wir haben sie wegen ihrer roten Haare Zora genannt. Den Nachnamen weiß ich nicht auswendig, wir reden uns nur mit Spitznamen oder Vornamen an. Manche möchten anonym bleiben, wir respektieren das. Zora hat aber an einem Spezialprogramm teilgenommen, dafür musste sie ein Formular mit vollem Namen ausfüllen. Ich sehe in den Unterlagen nach."

Michael stand schwerfällig auf, ging zu einem Regal an der Stirnseite des Raums, zog einen Ordner heraus und blätterte darin. Dann schüttelte er den Kopf, sah hoch und suchte weiter. „Merkwürdig, ihr Antragsformular ist nicht mehr da. Ich weiß genau, dass ich es abgeheftet habe. Aber ich kann auf der Liste nachsehen, die wir zusätzlich führen. Einen Augenblick."

Er schlug einen anderen Ordner auf und fuhr mit dem Finger über eine Tabelle. „Ihr Name ist Soraya Kandikili. Sie ist neunzehn Jahre alt und seit sechs Wochen in dem Projekt."

„Genau", schaltete sich Cora ein, „sie hat nicht mehr gespritzt. Die kriegen so ein Zeug, damit sie von der Droge runterkommen."

„Methadon?", fragte der Kommissar.

Michael Ehrling schüttelte den Kopf. „Nein, eine ganz neue Therapie. Es sind spezielle Medikamente zur Linderung der Entzugserscheinungen und zur körperlichen Kräftigung. Das Projekt beinhaltet auch psychische Unterstützung, Fitness und die Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung. Die Kandidaten werden rund um die Uhr betreut. Es ist nicht leicht, einen Platz zu erhalten. Wir haben Glück, dass die DROBERA den Zuschlag für die Kooperation bekommen hat." Michael stellte den Ordner zurück und schlurfte mit hängenden Schultern zum Tisch.

„Eben." Cora gestikulierte wild mit den Händen. „Sie war total heiß auf den Platz. Es kann nicht sein, dass sie sich einfach ins Jenseits geschossen hat."

„Sind sie auch in dem Projekt?" Der Kommissar musterte Cora zum ersten Mal eingehend, sein Blick blieb an den Piercingringen in ihrer Nase hängen.

„Nein, noch nicht. Aber ich krieg das hin." Sie zupfte an dem viel zu großen, schwarzen Pulli herum.

„Jedenfalls hatte Zora gestern Nacht einen Rückfall. So erfolgreich war das Projekt nicht." Aus dem letzten Satz des Kommissars war die Häme nicht zu überhören.

Michael presste die Lippen zusammen. „Wir haben beachtliche Erfolge mit dem Projekt. Professor Martin ist sehr zufrieden mit den Ergebnissen. Wir haben ihm viel zu verdanken."

„Professor Martin? Von der Suchtklinik für Schöne und Reiche draußen in Marienburg?"

„Genau der!" Michael straffte den Rücken und nickte. „Er hat viel für uns getan. Er hat mit Pfarrer Zieten die DROBERA ins Leben gerufen. Uns gibt es seit dreißig Jahren."

Der Kommissar schaute sich geringschätzig um. „Das sieht man. Der betuchte Herr Professor hätte ruhig mal ein paar Euro für Farbe und neue Möbel lockermachen können. Wie auch immer, es sieht nach einer Überdosis aus, allerdings müssen wir die Ergebnisse der Gerichtsmedizin abwarten, bevor wir den Fall abschließen können. Sollte es Ungereimtheiten geben, kommen wir auf Sie zu, um die Punkte zu klären. Halten Sie sich zu unserer Verfügung." Michael nickte und atmete auf, als sich die Tür hinter den Ordnungshütern geschlossen hatte.

„Wir müssen Prof Martin Bescheid sagen!" Cora war ans Fenster gelaufen und sah den Polizisten hinterher.

„Das mache ich. Er wird nicht begeistert sein. Zora war eine seiner Vorzeige-Exemplare. So hat er sie immer genannt. Jetzt bleiben nur noch Eddie, Nico und Nastja. Hoffentlich schaffen die es und bleiben standhaft, sonst sind wir die Kooperation los und können den Laden über kurz oder lang dichtmachen."

Cora kam zum Tisch, schenkte sich einen Kaffee ein und griff beherzt zur Wodka-Flasche.

„Halt, das ist meiner!"

Ohne auf seinen Protest zu achten, goss sie einen ordentlichen Schluck in die Tasse, gab drei Löffel Zucker hinzu und rührte um. „Das brauche ich jetzt, ich bin total durch. Die arme Zora. Ich kann es nicht fassen. Weißt du, sie war so gut drauf. Hatte alles gecheckt, wusste genau, was sie wollte. Sie hatte irgendetwas in der Hinterhand und meinte, das wäre ihr Sechser im Lotto. Und jetzt das."

„Was für ein Sechser im Lotto?" Michael schaute alarmiert auf.

Cora zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Sie wollte nichts rauslassen. Hat sich wichtig gemacht damit. Meinte, dass sie sich jetzt keine Sorgen mehr um ihre Zukunft machen müsste."

Er lachte bitter.

„Das hat ja gut geklappt. Sorgen muss sie sich jetzt keine mehr machen."

Böse Obhut

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