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Gilda trat aus dem Kölner Hauptbahnhof auf den zugigen Vorplatz und zog fröstelnd ihren Schal enger um den Hals. Über ihr ragte der mächtige Dom in den bedeckten Himmel, auf dem Taxiplatz herrschte ein Chaos aus Menschen, Autos und Lärm. Sie tippte die Ziel-Adresse in ihr Handy ein, ließ sich die Route anzeigen und erklomm die Stufen zur Domplatte. Die Handtasche eng an den Körper gepresst musste sie sich fast gewaltsam durch den Strom von japanischen Touristen und einkaufsfreudigen Passanten schieben.

Auf dem Alter Markt wurde das Gedränge sogar noch größer und obwohl es erst Nachmittag war, grölten Betrunkene vor den Kneipen. Gilda zog den Kopf ein, drückte sich rücksichtslos durch die Menge und war erleichtert, als sie die Gasse gefunden hatte, die zur Kirche und zur DROBERA führte.

Erst auf den zweiten Blick entdeckte sie das baufällige Häuschen, das mehr einer Bretterbude glich, in dem die Beratungsstelle untergebracht war. Zu ihrer Überraschung waren Teile des Kirchenvorplatzes mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Auf den Kirchenstufen sah sie mit Kreide gezogene Umrisse eines schmalen, menschlichen Körpers. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

War hier ein Mord passiert?

Sie schüttelte sich und ging entschlossen zum Eingang. Noch bevor sie klopfen konnte, öffnete sich die Tür. Vor ihr stand eine Frau, etwa im gleichen Alter, mit langen, schwarzen Haaren und einem viel zu großen Wollpulli.

„Bist du einer von den Pressefutzies?"

Gilda schüttelte den Kopf. „Nein. Was ist denn vor der Kirche passiert?"

Die Schwarzhaarige ignorierte die Frage. „Was willst du? Schieb lieber ganz schnell wieder ab."

Gilda räusperte sich. „Ich möchte zu Michael Ehrling. Darf ich hereinkommen?"

Das Mädchen warf einen Blick hinter sich in den Raum und gab widerstrebend den Weg frei. Gilda trat ein und sah sich einem hageren, großen Mann mit hängenden Schultern gegenüber, der sie gleichmütig ansah.

„Sind Sie Herr Ehrling?"

„Ja. Worum geht es?" Seine Stimme klang müde, aber angenehm. Gilda ging einen Schritt auf ihn zu, blieb aber ruckartig stehen, als sie den stechenden Geruch von Alkohol wahrnahm. Er hatte getrunken.

„Komme ich ungelegen?"

Michael Ehrling zuckte die Achseln, dann wies er fahrig auf einen Stuhl. Gilda interpretierte das als Einladung, legte die Umhängetasche auf den Tisch und setzte sich.

„Mein Name ist Gilda Lambi von der Detektei Peters in Bonn. Ihr Freund Bernd Schlüter hat uns beauftragt, mit Ihnen zu sprechen. Er sagte, dass Sie ein Schultreffen organisieren möchten, dafür hat er uns um Unterstützung gebeten."

„Soso. Bernd schickt dich und hat gesagt, ich wolle ein Schultreffen organisieren. Na ja, er hatte schon immer seine eigene Sicht auf die Dinge. Wir können uns übrigens duzen." Michael setzte sich schwerfällig, zog eine alte Kaffeekanne zu sich und sah sie fragend an.

„Ja, gerne. Bei der Kälte ist das genau das Richtige." Gilda lächelte breit, um ihr Unbehagen zu verbergen. Der Raum war eiskalt, von den Wänden blätterte die Farbe ab, die Möbel waren abgestoßen und schäbig. Michael hatte einen Drink zu viel gehabt und das Mädchen sah aus wie eine Fixerin, die ihr gleich die Tasche entreißen würde, um den nächsten Schuss zu kaufen. „Was ist passiert? Ist jemand ermordet worden?" Vorsichtig trank sie von dem lauwarmen, bitteren Gebräu.

Michael schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein und nickte. „Eine unserer Schutzbefohlenen ist an einer Überdosis gestorben. Sie wurde heute Morgen gefunden. Wir sind total erschüttert. Deshalb haben wir jetzt eigentlich geschlossen."

„Tut mir leid", murmelte Gilda.

Das schwarzhaarige Mädchen schnaubte verächtlich. „Tu nicht so scheißfreundlich. Mir machst du nichts vor! Dir ist das total wurscht! Ihr Luxus-Barbies verachtet uns."

„Cora ..." Kraftlos versuchte Michael, die Attacke des Mädchens zu stoppen.

„Ist doch wahr! Die beachten uns gar nicht. Schauen weg und interessieren sich nicht die Bohne dafür, wie dreckig es uns geht. Als wären sie etwas Besseres. Aber das seid ihr nicht. Hast du mich verstanden? Wir haben nicht immer auf der Straße gelebt. Wir sind nur in die Scheiße geraten. Das kann jedem passieren. Dir auch!"

Gilda hob beschwichtigend die Hände, es fiel ihr nichts ein, was sie hätte entgegnen können, ohne das Mädchen weiter zu reizen.

Michael schlug auf den Tisch. „Schluss jetzt, Cora. Hier geht es um ein anderes Thema. Entweder, du beruhigst dich und setzt dich zu uns, oder du verschwindest."

Gilda erwartete, dass das Mädchen wütend zur Tür hinausrauschen würde, aber überraschenderweise nickte sie und zog sich einen Stuhl heran.

„Tut mir leid, dass ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt komme, das konnte ich nicht wissen", begann Gilda erneut.

„Wir konnten das alle nicht ahnen. Zoras Tod ist der totale Schock. Sie war auf einem guten Weg, seit Wochen clean. Keine Ahnung, wie es zu einem Rückfall kommen konnte. Sie war viel zu erfahren für eine Überdosis." Michael schüttelte den Kopf, angelte nach der Wodka-Flasche, die mitten auf dem Tisch stand, und goss einen großzügigen Schluck in den Becher.

Gilda scharrte unbehaglich mit den Füßen. Betrunkene machten ihr Angst. Sie hatte es am eigenen Leib erlebt, wie aufdringlich und gefährlich sie werden konnten. Als sie auf Ibiza in einem Strandklub gejobbt hatte, war sie nur knapp einer Vergewaltigung entgangen. Ein Betrunkener hatte sie nachts auf dem Heimweg in ein Gebüsch gezerrt. Nur dank eines beherzt eingreifenden Touristen war es nicht zum Äußersten gekommen. Sie versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren: „Könnte es Selbstmord gewesen sein?"

„Bullshit!" Cora fuhr hoch. „Sie hatte es doch geschafft: Keine Drogen, auf der Warteliste für 'ne eigene Bude und in ein paar Wochen wollte sie eine Ausbildung als Kosmetikerin anfangen. Sie war so happy! Das schmeißt man doch nicht einfach weg."

Gilda zuckte die Schultern. „Vielleicht hat sie Angst vor der Herausforderung bekommen? Der Schritt zurück in ein strukturiertes Leben, in dem man alle Erwartungen erfüllen muss, kann einschüchternd wirken."

„Sag mal, bist du 'ne Psycho-Tussi? Was redest du da für einen Scheiß?“ Cora stützte die Arme auf den Tisch und guckte Gilda an, als wollte sie sich gleich auf sie stürzen.

„Cora, ich sage es nicht noch einmal: Halt dich zurück oder geh!" Michael warf einen strengen Blick auf das wütende Mädchen, dann wandte er sich an Gilda: „Nein, ich glaube nicht, dass sie Panik bekommen hat. Sie war in einem Spezialprojekt zum Drogenausstieg, da wurde sie psychologisch und medikamentös gegen Angstzustände und Depressionen behandelt. Die merken sofort, wenn irgendetwas mit den Teilnehmern nicht stimmt, und steuern dagegen. Zora hatte keine Angst vor der Zukunft. Sie hat sich darauf gefreut."

„Genau." Cora hatte sich wieder beruhigt. „Prof Martin hätte ihr sofort etwas gegeben, wenn sie einen Depri-Trip gehabt hätte. Hatte sie aber nicht. Im Gegenteil, sie war total gut drauf, weil alles so geil lief. Sie war höchstens ein bisschen mitgenommen von der Therapie. Aber so ein Entzug ist auch kein Kinderspiel."

„Prof Martin?", hakte Gilda ein. Hatte Barbara nicht heute Mittag noch von einem Professor Martin erzählt, der sie für eine Wohltätigkeitsveranstaltung gebucht hatte?

Michael lächelte schwach. „Genau der. Man bringt ihn eigentlich mit solchen Sozialprojekten nicht in Verbindung."

Gilda trank einen Schluck von ihrem Kaffee und schälte sich aus der Daunenjacke. Langsam wurde es ihr doch warm. Cora beugte sich vor, schnappte sich Michaels Feuerzeug und entzündete eine halb abgebrannte Kerze, die in einem Nest aus skelettierten Tannenzweigen steckte. Ihre anfänglichen Vorbehalte gegen Gilda schien sie abgelegt zu haben, jetzt wollte sie eine gemütliche Atmosphäre schaffen. Allerdings wirkte das Gesteck so trostlos und vernachlässigt wie die ganze Einrichtung.

„Also schließt ihr Selbstmord aus?" Das Thema ging Gilda nichts an, aber sie war neugierig.

„Ja, auf jeden Fall." Michael nickte entschieden mit dem Kopf. „Sie hätte sich nicht auf den Kirchenstufen direkt vor unserer Haustür umgebracht. Das hätte sie uns nicht angetan."

Cora nickte zustimmend, stellte ihre Füße auf den benachbarten Stuhl und schlang die mageren Arme um ihre dünnen Beine.

Draußen war es stockdunkel geworden, das spärliche Licht der Deckenlampe drang kaum bis in die Ecken. Gilda sah beunruhigt auf ihre Uhr. Zu lange wollte sie sich nicht aufhalten.

„Könnt ihr für uns herausfinden, was mit Zora passiert ist?" Cora sah Gilda durch den Schleier ihrer langen Haare erwartungsvoll an.

„Nein, tut mir leid. Wir übernehmen keine Mordfälle. Und auch nichts mit Gewalttaten. Firmenpolicy."

„Firmenpolicy", äffte sie das Mädchen nach.

„Wieso glaubst du, dass es Mord war? Vielleicht ist nur irgendetwas schief gelaufen." Michael schien noch blasser geworden zu sein, sofern das in dem düsteren Raum überhaupt zu erkennen war.

Gilda beugte sich vor: „Na, entschuldigt bitte, eure Zora hatte keinen Grund, sich umzubringen, war zu erfahren, um eine Überdosis zu nehmen, und hätte nicht vor eurer Tür gespritzt. Was bleibt da noch übrig?"

Michael malte mit den Fingern nervös ein paar Buchstaben nach, die jemand in die gemaserte Holzplatte des Tisches geritzt hatte. „Weißt du, es gibt noch etwas anderes. Unsere Akten sind durchwühlt worden, es fehlen Formulare. Könntet ihr darüber mehr herausfinden?"

„Was meinst du damit?" Cora blickte Michael genauso erstaunt an wie Gilda.

„Jemand hat unsere Ordner durchgeblättert. Es ist bereits vier- oder fünfmal vorgekommen. Genau weiß ich es nicht, weil ich es nicht unbedingt immer bemerkt habe. Und manchmal fehlte ein Blatt."

„Was für Unterlagen?", fragte Gilda.

„Anträge für das Projekt von Prof Martin. Ab und zu fehlte ein Stammblatt mit den persönlichen Angaben einer Teilnehmerin."

„Teilnehmerin? Gibt es keine Männer?"

„Doch, aber von denen fehlt nichts."

„Komm, das war garantiert einer der DROBIES. Manche wollen nicht clean werden und durchsuchen alles, um an Kohle zu kommen." Cora winkte verächtlich ab.

„Wer sind die DROBIES?" Gilda schaute von einem zum anderen.

„Unsere Kunden, wenn du so willst. Die Menschen, die von den Drogen loskommen möchten und bei uns Unterstützung suchen. Das hier ist die DROBERA und die Leute, die wir betreuen, nennen wir DROBIES. Hat sich so eingebürgert."

„Ok", nickte Gilda. „Könnte es einer der DROBIES gewesen sein?"

„Klar", rief Cora, doch Michael schüttelte gleichzeitig den Kopf.

„Nein. Was sollen die mit den Unterlagen? Wenn die etwas mitgehen lassen, dann Bares, Ziggies oder Alk. Manchmal einen Schokoriegel. Alles andere interessiert die nicht. Hier gibt es nichts Wertvolles."

Gilda schaute sich um und musste ihm unwillkürlich recht geben. Die Möbel und das vermackte Steingut-Geschirr, das auf dem Tisch stand, waren höchstens etwas für den Sperrmüll. Den wertvollsten Gegenstand, eine uralte Kaffeemaschine, die auf der Spüle stand, hätte auch keiner freiwillig mitgenommen. „Warum ist dir das Thema so wichtig, dass du uns damit beauftragen willst? Es sind nur Papiere. So wertvoll können die nicht sein.“

„Ja, es sind nur Papiere. Aber sie gehören zu einem Projekt, über das keine Einzelheiten nach außen dringen sollen. Die Therapie ist neu entwickelt worden und befindet sich in der Erprobungsphase. Es wäre fatal, wenn die Konkurrenz jetzt davon Wind bekäme. Es könnte sein, dass jemand die Teilnehmer ausfragen möchte und deshalb die Unterlagen stiehlt. Wenn Prof Martin das erfährt, verlieren wir womöglich die Kooperation. Für uns wäre das eine Katastrophe. Dann können wir den Laden über kurz oder lang dichtmachen."

Gilda nickte. „Verstanden. Tut mir leid, wenn ich das frage, aber könnt ihr uns bezahlen? Ehrenamtlich arbeiten wir nämlich nicht."

Michael lachte hart auf. „Soll Bernd den Auftrag gleich mitübernehmen. Der hat schließlich genug Schotter." Als er Gildas unbewegte Miene sah, lenkte er ein. „Mach dir keine Sorgen. Es gibt ein Budget, das der Pfarrer unter seiner Fuchtel hat. Er wird Geld lockermachen. Hauptsache, wir geben nichts aus für die Renovierung der DROBERA oder für Neuanschaffungen. Seiner Ansicht nach wissen die DROBIES das nicht zu schätzen und machen alles nur kaputt."

Gilda wühlte in ihrer Handtasche und legte ein Formular und einen Kuli vor ihn auf den Tisch. „Das ist das Vertragsformular. Du kannst es gerne direkt unterschreiben, allerdings starten wir mit der Arbeit erst, wenn du den Vorschuss bezahlt hast. Ok?"

Michael nickte, überflog halbherzig den Text und unterschrieb. „Ich spreche noch heute mit dem Pfarrer, er kann morgen das Geld überweisen."

„Gut. Da ich dir glaube, dass du uns bezahlen wirst, kannst du mir gleich eine Liste der verschwundenen Unterlagen machen. Die nehme ich direkt mit."

Aber Michael schüttelte den Kopf. „Sorry, da muss ich mir erst ein paar Gedanken machen. Auswendig kenne ich die Namen nicht."

„Ok, schick sie mir per E-Mail. Hier ist meine Karte. Nun zu dem Thema, dessentwegen ich hier bin. Bernd Schlüter sagte, dass es deine Idee war, ein Schultreffen zu organisieren?"

„Tja, also ich finde auch, dass wir das machen sollten. Es ist alles so lange her. Es interessiert mich, was aus den anderen geworden ist."

„Hast du noch Kontakt zu jemandem? Kannst du mir Namen nennen?" Gilda hatte jetzt einen Block vor sich liegen und wartete mit gezücktem Bleistift.

Michael wand sich. „Bernd natürlich", begann er langsam aufzuzählen, „und Tommy. Mit den beiden habe ich das Zimmer geteilt. Tommy hat ständig gefurzt, er vertrug das Essen nicht."

Cora kicherte schrill, doch Michael nickte ernst.

„Wir haben fast täglich eine widerliche Pampe bekommen, Graupeneintopf mit Mehl. Da konnte es einem schlecht von werden. Onkel Heini hielt uns immer vor, dass er von dem bisschen Geld, das er für uns bekam, uns eigentlich nur verhungern lassen könnte. Wir sollten froh sein, dass es wenigstens das gab."

„Wer ist Onkel Heini?", fragte Cora dazwischen.

„Dem gehörte die Schule. Heinrich Krabost, wir mussten ihn Onkel Heini nennen. Dann würden wir uns wie zu Hause fühlen, hat er gesagt, schließlich wären wir eine große Familie. Aber zu Hause hat man sich da nicht gefühlt. Eher wie in der Hölle. Obwohl, für die meisten von uns machte das keinen Unterschied. War vielleicht doch wie zu Hause." Michael starrte in die Dunkelheit.

„Gibt es weitere Namen, an die du dich erinnerst?", fragte Gilda sanft. Sie wollte nicht gefühllos erscheinen, aber sie musste langsam aufbrechen.

„Es gab noch zwei auf unserer Bude. Wie hießen die? Ede irgendwas. Und Klößchen. Der war ziemlich dick. Dann waren da noch die drei Kapos. Scharfe Hunde, Friedrich, Axel und Werner. Onkel Heini nannte sie seine Augen und Ohren. Damit meinte er, dass sie alles sahen und hörten, was wir machten. Das haben sie ihm brühwarm erzählt. Manchmal bekamen sie den Auftrag, demjenigen, der etwas falsch gemacht hatte, eine gehörige Abreibung zu verpassen. Immer dann, wenn Onkel Heini zu besoffen war, um es selbst zu machen."

Gilda schluckte. Das hörte sich nach einem Horror-Internat an. Im Internet hatte die Schule einen anderen Eindruck erweckt. Aber die Zeiten waren auch besser geworden.

„Warum willst du das Schultreffen auf die Beine stellen? Angenehme Erinnerungen können es nicht sein."

Michael nickte bedächtig. „Stimmt. Es war nicht schön. Überhaupt nicht. Aber es gab ein paar nette Jungs unter den Kameraden, die ich gerne wiedersehen möchte. Und bei einem hätte ich noch etwas gut zu machen.

Aber der wird wohl nicht kommen."

Böse Obhut

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