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Geschäfte
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I.
Marus wischte sich mit einem tiefen Seufzer den Schweiß von der Stirn. Heute war einer dieser Tage, an denen man besser gar nicht erst aufgestanden wäre.
Trotz seiner hageren Statur litt er unter der sengenden Hitze. Seit Wochen brannte die Sonne unbarmherzig vom Himmel und lähmte jede Bewegung, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Auch hatte er den Eindruck, dass es in Mogontiacum manchmal noch heißer und unangenehmer war als anderswo. In Treveris war es ihm nie so unerträglich vorgekommen. Doch hier machte die unmittelbare Nähe zum Rhein, an dessen Ufer sich die Häuser seiner Heimatstadt in der Ebene hinzogen, die Luft feucht und drückend. An solchen Tagen hasste er den breiten Strom, hasste er Mogontiacum und viel mehr noch Fortuna, die ihm wieder einmal nicht hold zu sein schien.
Marus saß an an einem Tisch, auf dem einige Wachstäfelchen mit geschäftlichen Aufzeichnungen, mehrere Schreibgriffel und ein Rechenbrett lagen. Er strich sich über sein kurzgeschorenes Haar und ließ seinen Blick gedankenverloren durch sein Wohn- und Arbeitszimmer schweifen. Er blieb hängen an einigen kleinen Bechern aus Ton, die in einem Regal an der Wand standen. Silbriger Glanz fiel ihm entgegen. Ein Strahl der Mittagssonne traf genau auf das Trinkgeschirr und ließ die grau-schwarze Oberfläche der Becher glänzen, als wären sie aus feinstem Silber. »Schön wärʼs«, dachte er bei sich und musste innerlich grinsen. Als wäre der Sonnenstrahl ein Zeichen der Götter. So ein Unsinn.
Er stand auf, nahm einen der Becher und ignorierte den kleinen Krug mit abgestandenem Wasser, der daneben im Regal stand. Stattdessen ging er durch die niedrige Tür in das hintere Zimmer seines kleinen Hauses, das er als Schlafraum nutzte.
Dort bückte er sich und öffnete eine hölzerne Luke im Boden. In dem kleinen Erdkeller, den er vor Jahren hatte anlegen lassen, griff er zielsicher nach einem schweren Tonkrug. Er nahm ihn heraus und schenkte sich daraus etwas verdünnten Wein ein.
Sofort nahm er einen tiefen Schluck und genoss das erfrischende Gefühl, als die kühle Flüssigkeit ihm die Kehle herunterlief. Er füllte den Becher ein zweites Mal, stellte den Krug in den Keller zurück und schloss die Luke wieder. Danach ging er zurück und setzte sich erneut an seinen Arbeitstisch.
Er stellte den Becher ab und nahm eines der Wachstäfelchen zur Hand, auf dem er den ganzen Vormittag über Notizen gemacht hatte. Marus runzelte die Stirn und war fast etwas enttäuscht, dass diese auch nach der kurzen Pause nicht erfreulicher waren als zuvor.
Von draußen war das Kläffen eines Straßenköters zu hören, der als einziger nicht Zuflucht vor der Hitze gesucht zu haben schien. Das Gejaule des Hundes pochte ihm zusätzlich in seinem Kopf, als er sich daranmachte, alles noch einmal durchzurechnen.
Doch schon nachdem er wenige Zeilen seiner Auflistung durchgegangen war, brach er seine Arbeit ab. Es war eindeutig. Im letzten halben Jahr waren seine Geschäfte so schlecht gelaufen wie noch nie.
Er kam nun endgültig ins Grübeln. »Alles wird besser, wenn der Kaiser die Grenzen wieder sicher gemacht hat«, haben sie gesagt. »Wenn erst die Straßen wieder in Schuss sind und das Land wieder urbar gemacht ist, dann kommen die goldenen Zeiten der Vorväter wieder.« Alles Unsinn.
Die große Katastrophe, die in seiner Jugend über das römische Land am Rhein hereingebrochen war, hatte man zwar überwinden können. Es stimmte zwar: In einer gewaltigen Kraftanstrengung hatte der Caesar Julian die Alamannen vor Jahren zurück über den Rhein gedrängt. Damals konnte Marus auch wieder in seine Heimat zurückkehren und das Geschäft seines Vaters weiterführen, nachdem dieser kurz nach seiner Mutter gestorben war. Aber die alte Ordnung, so es sie jemals überhaupt gegeben hatte, war alles andere als wiederhergestellt.
Der kaiserliche Prinz Julian war längst fort, sogar tot war er. Das tat Marus fast ein wenig leid. Denn einmal hatte er den jungen Heerführer sogar gesehen – damals, als er mit seinen Truppen durch Treveris gezogen war, wo Marus mit seiner Familie Zuflucht gesucht hatte. Tatkräftig hatte er gewirkt, wie ein geborener Anführer.
Alle waren sich damals sicher, dass Julian bald als Kaiser in Rom die Geschicke des Reiches lenken würde. Nun ja, für eine kurze Zeit hatte er das später zwar, aber auch ihm war die Schicksalsgöttin Fortuna nicht hold gewesen. Mittlerweile saß bereits sein zweiter Nachfolger auf dem Thron.
Trotz aller Festungen, die man heute baute, trotz aller Bemühungen, das Ackerland wieder zu bestellen und die Straßen sicherer zu machen, trotz aller Feldzüge, die man gegen die Germanen auf der anderen Seite des Rheins führte – das Leben wollte und wollte einfach nicht besser werden.
Dabei tat er doch, was er konnte. Er handelte mit Römern und Alamannen gleichermaßen, hatte genug Geschäftspartner und kannte sich mit den unterschiedlichsten Handelsgütern aus. Aber all dies nutzte ihm nichts. Einmal war ein Schiff mitsamt seiner Ladung im Rhein versunken. Ein anderes Mal hatte sich eine ganze Wagenladung Wein als ungenießbar herausgestellt. Und neulich erst war das Getreide auf den Feldern eines Gutsherrn, das er hatte aufkaufen wollen, vollständig verdorrt. Fortuna schien alle seine Bemühungen zunichtezumachen. Und dafür hasste er diese elende Göttin.
Er zog einen Strich unter die Auflistung auf dem Wachstäfelchen und wollte darunter eine Zahl schreiben. Doch dann ballte er die Hand zur Faust, drehte den Schreibgriffel herum und tilgte mit dem flachen Ende des Griffes die Berechnungen, mit denen er so viele Stunden verschwendet hatte. Schnell war das durch die Hitze ohnehin schon weiche Wachs geglättet und erweckte den Anschein, als hätte es den Vormittag nie gegeben. Auch der Hund auf der Straße war nun nicht mehr zu hören. Marus widerstand dem Impuls, das Täfelchen in die Ecke des Zimmers zu schleudern und fühlte sich für einen Moment sogar besser.
Doch es half alles nichts. Wenn er nicht bald Geld einnahm, konnte er seine Verbindlichkeiten nicht mehr zurückzahlen und musste vielleicht die Händlervereinigung verlassen, in der er Mitglied war. Am Ende war er vielleicht sogar dazu gezwungen, sein Elternhaus zu verkaufen. Er hatte noch eine letzte kleine Geldreserve, aber wenn diese aufgebraucht war, dann war es endgültig aus.
Er griff nach dem Becher mit Wein und leerte ihn mit einem Zug. Während er auf seiner Unterlippe herumkaute, kam ihm aber doch noch eine Idee. Vielleicht konnte er so seine Bilanz etwas aufbessern: Er hatte gehört, dass in letzter Zeit vermehrt Alamannen über die Rheinbrücke nach Mogontiacum kamen und um Aufnahme ins Gebiet der römischen Provinz baten. Er hatte früher schon oft solche Leute als Arbeiter vermittelt. Die Barbaren gaben gute Erntehelfer oder Arbeiter ab, und um diese Jahreszeit war die Nachfrage nach guten Hilfskräften groß. Schließlich waren in den Kriegsjahren viele Männer umgekommen und später waren längst nicht alle Geflohenen zurückgekehrt. Er konnte seine Kontakte in der Stadt und bei den Bauern im Umland nutzen und einige von ihnen unterbringen. Vielleicht. Aber wenigstens war diese Hoffnung besser als nichts.
Also stand er auf, griff erst nach dem Wachstäfelchen und dann nach seinem Kapuzenmantel, den er als Schutz vor der Sonne mitnehmen wollte.
II.
Doch da klopfte es an die Haustür. Einmal, zweimal, dreimal. Wer konnte das sein? Hoffentlich kein verdammter Gläubiger, einer von der Sorte, wie sie in den letzten Wochen öfter vor seinem Haus gestanden hatten. »Wer ist da?«, rief Marus gereizt durch die verschlossene Tür hindurch.
»Ich bin es: Samus, dein Bruder!«, bekam er als Antwort zu hören.
»Samus?«, kam es dem überraschten Händler über die Lippen, als er rasch zur Tür ging, den Riegel zur Seite schob und öffnete. Tatsächlich, da stand sein kleiner Bruder Samus und lächelte ihn mit seinem unverwechselbaren Gesichtsausdruck an. Er sah ziemlich verdreckt und abgekämpft aus. Auch Marus lächelte kurz, doch kaum aus Freude seinen Bruder nach so vielen Monaten wiederzusehen.
Vielmehr kam ihm sofort in den Sinn, dass Samus seit Jahren als Fuhrknecht bei einem seiner Geschäftspartner, dem Händler Amelius, arbeitete – eine Anstellung, die er ihm damals persönlich verschafft hatte. Und zusammen mit Amelius war er seit Wochen mit einer Ladung feinstem Tafelgeschirr aus Treveris überfällig, auf die er dringend wartete.
Er verlor keine Zeit mit rührseligem Begrüßungsgeplänkel. Danach stand ihm so ganz und gar nicht der Sinn. »Endlich!«, entfuhr es ihm, »wieso habt ihr so lange gebraucht? Und wo ist Amelius, der fette Halsabschneider?«
Das Lächeln verschwand aus Samusʼ Gesicht und wich einem trotzigen Stirnrunzeln. »So kenne ich dich, Bruderherz. Aber ich muss dich enttäuschen, ich komme allein. Darf ich vielleicht erst einmal hereinkommen?«
Marus wollte zwar lieber sofort wissen, wo sein Tafelgeschirr war und wieso der fette Idiot nicht selbst zu ihm gekommen war. Aber er hatte auch keine Lust, halb auf der Straße und in der prallen Sonne über Geschäfte zu sprechen. Also ließ er seinen Bruder herein und setzte sich mit ihm an den Arbeitstisch, auf dem noch immer der leere Weinbecher stand. Auf die Idee, seinem Bruder etwas anzubieten, kam er jedoch nicht.
»Also, was ist los? Wieso bist du allein und wo ist meine Ware?«
Den Blick auf den Becher gerichtet, sprach Samus: »Wir wurden auf dem Weg hierher von einer Bande Räuber überfallen. Ich konnte entkommen, aber Amelius ist vermutlich tot, und die Wagenladung ist verloren.«
Marus schaute ungläubig. So viel Pech konnte ein einzelner Mann doch gar nicht haben. Erneut stieg der Zorn in ihm hoch. »Du bist also einfach davongelaufen?«
»Mir blieb keine andere Wahl. Aber ich habe alles dafür getan, die Kerle in die Flucht zu schlagen. Nur mit meinem Dolch in der Hand habe ich selbst sogar einen riesenhaften Herkules zu Fall gebracht - naja, fast zumindest. Leider hat er mich aber auch ganz schön erwischt. Es war schnell klar, dass es einfach zu viele waren. Also musste ich mein Heil in der Flucht suchen. Sextus, der andere Fuhrknecht, hatte nicht so viel Glück und wurde bestimmt erschlagen.«
»Ich habe noch versucht Hilfe zu holen«, fuhr Samus fort, »aber bis ich den nächsten Gutshof erreicht hatte, verging ein ganzer Tag. Dort habe ich dann niemanden gefunden, der mit mir zu der Stelle des Überfalls hätte gehen wollen. Es war den Leuten zu gefährlich. In dem halb verfallenen Haus lebte nur eine einfache Bauernfamilie, und man wollte keinen der wenigen Knechte vom Hof wegschicken. Ich habe einige Tage dort zugebracht und gewartet, das durfte ich immerhin. Als von Amelius aber nichts zu sehen und zu hören war, habe ich mich auf den Weg hierher gemacht. Allzu schnell kam ich leider nicht voran, ich weiß. Das lag an den Blessuren, die ich mir bei dem Überfall zugezogen hatte. So, Bruder, nun kennst du die ganze Geschichte.«
Marus schlug zornig mit der Faust auf den Tisch, kaum als Samus das letzte Wort gesprochen hatte. Fortuna, diese Hure unter den Göttinnen, hatte ihm ein weiteres Mal ein Geschäft zunichte gemacht. Er hätte seinem treudoofen Bruder am liebsten auf den blonden Kopf geschlagen. Da hatte er einmal den Helden spielen wollen und doch wieder nichts ausrichten können.
Seine Wut verrauchte allerdings umgehend wieder, denn insgesamt verschlechterten die Neuigkeiten seines Bruders seine Lage nicht wirklich. Die Wagenladung mit treverischem Tafelgeschirr hatte er wegen der großen Verspätung ohnehin schon mehr oder weniger abgeschrieben. Kurz zuckten seine Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen nach oben als er daran dachte, dass er heute Vormittag Ameliusʼ Lieferung bereits als Verlust aufgelistet hatte. Und als er die Zahlen und Buchstaben im weichen Wachs des Täfelchens getilgt hatte, hatte er unwissentlich auch den alten Amelius selbst aus seinem Leben gestrichen.
Der Trottel war in den letzten Jahren ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt gewesen sich um sein Seelenheil zu kümmern, als dass er über die Optimierung seiner Geschäfte nachgedacht hätte. Welche göttliche Macht hatte ihm nun beigestanden? Merkur? Der Christengott? Nein, natürlich nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen, in diesen unsicheren Zeiten mehr auf anständiges Schutzpersonal zu setzen als auf immer neue Götter.
»Nun gut, ich habe mir so etwas bereits gedacht und mit dem Geschirr in meiner Bilanz schon gar nicht mehr kalkuliert«, sagte er kühl zu seinem Bruder. Er sah ihn fragend an: »Und du, was willst du jetzt machen?«
»Nun, so wie es aussieht, habe ich keine Anstellung mehr«, antwortete Samus schicksalsergeben. Ich bin zwar ein guter Fuhrknecht, aber ich würde nur ungern in nächster Zeit wieder auf der Landstraße von Räubern überfallen werden. Einmal reicht mir. Hast du nicht eine Arbeit für mich? Ganz abgesehen davon, Bruder, könntest du mir darüber hinaus freundlicherweise noch etwas zu trinken anbieten? Ich war seit heute früh unterwegs, und es ist dir sicher nicht entgangen, dass es draußen ziemlich heiß ist.«
Marus verdrehte die Augen und stand auf, um einen weiteren Becher aus dem Regal zu nehmen. Es war wie immer. Wieder einmal war er es, zu dem sein kleiner Bruder kam, wenn er keinen anderen Ausweg mehr wusste.
Er befüllte den Becher mit ein wenig Wasser aus dem kleinen Krug im Wandregal. Das hatte für seinen Bruder zu reichen. Den Wein im Keller brauche ich für mich selbst; wer weiß, wann ich mir neuen kaufen kann, dachte er bei sich.
Als er Samus den Becher hingestellt hatte, sah er ihn ernst an: »Meine Geschäfte gehen nicht gut im Moment. Ganz und gar nicht gut, um ehrlich zu sein. Aber vielleicht hast du Glück. Ich wollte mich gerade auf die Suche nach Arbeitswilligen machen, die ich als Landarbeiter oder Hilfskräfte vermitteln könnte. Auf einem Landgut, hier im Umland der Stadt. Es ist Sommer, und bald beginnen die Vorbereitungen für die Ernte. Eine Anstellung als Landarbeiter wäre zumindest sicherer als auf der Straße unterwegs zu sein. Du könntest gleich mitkommen und mir bei der Suche helfen. Dann wärst du vielleicht in wenigen Tagen schon wieder in Lohn und Brot, und ich hätte meine Ruhe.«
Samus runzelte die Stirn. »Du suchst deine Leute sicherlich bei den Barbaren. Ich habe gehört, dass sie seit einiger Zeit wieder in größerer Zahl um Aufnahme bei uns bitten. Aber vielleicht ist dein Plan ja gut. Immerhin sind das die billigsten Arbeitskräfte, die man finden kann. Das gefällt mir zwar nicht, aber es ist besser als nichts. Es ist also abgemacht: Ich komme mit und helfe dir. Dafür siehst du zu, dass ich wieder eine Arbeit bekomme, etwas zu essen und ein sicheres Dach über dem Kopf.«
III.
Bereits nach wenigen Minuten außerhalb des Hauses rann Marus der Schweiß über die Stirn. Den Kapuzenmantel hatte er schnell wieder ausgezogen, weil er es darunter einfach nicht ausgehalten hätte. Beifällig richtete er seinen Blick immer wieder kurz auf seinen Bruder, dem die Hitze offenbar weit weniger zusetzte. Also hatte das Leben als Fuhrknecht doch auch sein Gutes, dachte er spöttisch bei sich.
Marus führte seinen Bruder durch kleinere Gassen in Richtung der Rheinbrücke. Hier war der Boden wegen des fehlenden Straßenbelags zwar oft uneben und schmutzig, aber in den verwinkelten Wegen zwischen den eng beieinanderstehenden Häusern gab es wenigstens deutlich mehr Schatten. Er war überrascht, wie viele Menschen unterwegs waren. Straßenhändler boten aus ihren Buden heraus Waren an, Bedienstete und Sklaven erledigten Besorgungen für ihre Herren und vereinzelt sah man Bürger in Gespräche vertieft beieinanderstehen. Nur schien das Leben unter der bleiernen Last der Sonne erdrückt zu werden; alles spielte sich verlangsamt und nahezu geräuschlos ab.
»Edler Herr, habt ihr vielleicht ein paar Münzen für eine arme alte Frau? Ohne eure Hilfe weiß ich nicht, wie ich den Tag überstehen soll.«
Marusʼ Blick fiel auf eine in sich zusammengesunkene Gestalt in dreckigen Lumpen, die an einer vom Schmutz der Straße verdreckten Hausmauer kauerte. Sie hielt ihm eine Holzschale entgegen und blickte ihn aus eisgrauen Augen an. Für einen kurzen Moment schauten sich Marus und die Frau an. Für einen Sekundenbruchteil war der Händler überrascht von der Stärke, die im Blick der Alten immer noch zu spüren war. Sie passte nicht so recht zu ihrem fast zahnlosen Grinsen und der flehend ausgestreckten Hand. Marus war zwar einen kurzen Moment lang verwundert darüber, aber es scherte ihn letztlich nicht weiter.
»Selbst bei diesem Wetter hat man keine Ruhe vor euch Bettlerpack!«, entfuhr es Marus verächtlich. Ohne die Frau eines weiteren Blickes oder Gedankens zu würdigen gab er Samus ein Zeichen, bloß nicht stehen zu bleiben und ging weiter.
Eingezwängt zwischen dem Fluss und dem Hochplateau, auf dem die Mauern des alten Legionslagers vor sich hinrotteten, war die Tiefebene seit Generationen bebaut und immer wieder überschwemmt worden. Was durch Feuer abgebrannt oder zu lange Nutzung in sich zusammengestürzt war, wurde notdürftig weggeschafft – gerade so weit, dass man auf den freigewordenen Stellen erneut Häuser aus Lehm und Holz errichten konnte. An Tagen wie diesen stand die feuchte Luft drückend zwischen den Gebäuden und ließ den allgegenwärtigen Gestank von Unrat, Fäkalien und Menschen unerträglich werden.
Marus fühlte sich wie ein verdautes und ausgeschiedenes Stück Brot, als sie aus der letzten Gasse auf ihrem Weg zum Fluss heraustraten und das offene Ufergelänge an der großen Brücke erreichten. Wenigstens war die Luft hier etwas in Bewegung und verschaffte Linderung, und auch der Gestank der Stadt war hier nicht mehr so unerträglich.
»Sieh, Bruder, oben auf der Brücke!«, raunte Samus mit immer noch erstaunlich frischer Stimme, während er den rechten Arm ausstreckte und mit dem Zeigefinger auf deren diesseitiges Ende deutete. Was sich dort abspielte, zerriss jäh den Mantel aus Stille, der bis eben über der Stadt gelegen hatte.
Auf dem stadtseitigen Teil der uralten steinernen Brücke befand sich eine große Gruppe von Männern, Frauen und Kindern, ganz offenbar Alamannen, die auf eine Gruppe von Soldaten einredeten. Diese benutzten ihre Speere, einige von ihnen auch ihre großen Rundschilde, um den Ankömmlingen den Durchgang zu versperren. Man hörte ein Kind weinen und die aufgeregten Stimmen mehrerer Frauen.
Marus schätzte die Zahl der Menschen auf etwa 50. Es handelte sich offenbar um mehrere Familien, die sich auf den Weg in Richtung der römischen Provinz gemacht hatten – wie so viele in letzter Zeit. Den Grund dafür kannte er nicht. Aber er interessierte ihn auch nicht. Ärgerlich war jedoch, dass man die Leute anscheinend nicht durchlassen wollte. In der aufgeheizten Stimmung war es unmöglich, dort nach potenziellen Arbeitern zu suchen.
»Sie wollen sie wieder zurückschicken«, sagte Samus, der seinen prüfenden Blick keine Sekunde von dem Tumult ließ.
»Danach sieht es aus. Wie sind die überhaupt so weit gekommen?«, entgegnete Marus. »Verdammt, dort unten am ersten Brückenpfeiler lungern meistens ein paar von den Barbaren herum, die man gut als Arbeiter einsetzen könnte. Aber mit all den Soldaten und der Unruhe dort wird man heute sicher keine von denen finden.
»Und da drüben?« Samus zeigte auf eines der Bootshäuser, die in der Nähe des Ufers aufgereiht waren. Es stand augenscheinlich leer, aber im Schatten hinter dem langgestreckten Holzgebäude konnte man eine Gruppe herumsitzender junger Männer ausmachen, die nach ihrer Kleidung und Haartracht zu urteilen Alamannen waren.
»Dein Verstand ist wachsamer als ich dachte«, fand Marus und ging in Richtung des Bootshauses. Samus folgte ihm, erfreut über die ersten lobenden Worte seines Bruders seit langem.
IV.
Das Gespräch der Männer verstummte, alle drehten sich zu den beiden Brüdern um. Als sie näherkamen, stand die gesamte Gruppe langsam auf. Ein Mann machte einen Schritt auf sie zu und schaute Marus und Samus ernst an. Wie auch die anderen trug er eine einfache, ungefärbte Tunika aus grobem Stoff, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sein Gesicht wurde von ungezähmtem Haar gerahmt: auf dem Kopf ein wirres Geflecht dunkelbrauner Locken und dazu ein langer, in keiner Weise gepflegter Bart.
»Was?«, bellte der Kerl ebenso einsilbig wie eindeutig.
Während Samus verunsichert stehenblieb, musste Marus lächeln. Bereits dieses eine Wort verriet dem gewieften Händler viel über sein Gegenüber. Aufgewachsen war der Mann, passend zu seiner äußeren Erscheinung, eindeutig unter Alamannen. Welchen Dialekt er genau sprach, wusste er zwar noch nicht, aber offenkundig hatte er einige Zeit im Provinzgebiet verbracht. Marus wettete mit sich selbst darauf, dass der Bursche als einziger der Gruppe gebrochen die Sprache der Römer sprach und deshalb ihr Wortführer war.
»Ich grüße Euch, edler Germane. Euch und eure Freunde. Mein Name ist Marus, und das ist mein Bruder Samus. Ich nehme an, dass ihr euch hier, in der Hauptstadt der römischen Provinz Germania Prima, überaus wohlfühlt. Hier, wo doch die Verlockungen so zahlreich sind wie die Fliegen auf dem Hof eines alamannischen Rinderzüchters.«
Der Germane verzog die haarumwucherten Mundwinkel zu etwas, das man als ein Grinsen deuten konnte. Marus wähnte sich auf dem richtigen Weg.
»Allein, all die Köstlichkeiten der römischen Kultur haben ihren Preis«, fuhr er fort. »Und ich sehe es als meine Aufgabe an, es starken und tüchtigen Männern wie euch zu ermöglichen, diesen Preis zahlen zu können.«
Der Alamanne schnitt ihm das Wort ab: »Rede nicht so komisch, Römer. Du hast Arbeit für uns? Sag es doch gleich.«
»Euer Verstand ist so wach wie Euer Körper stark ist, Freund, der ihr mir Euren Namen sicher aus gutem Grund nicht verraten möchtet. In der Tat, ich könnte euch und euren Freunden Arbeit verschaffen. Auf einem der lieblichen Landgüter auf den sonnenumwobenen Hügeln südlich der Stadt.«
»Kein Interesse. Das nichts für uns. Wir gehen noch heute zurück über die Brücke. Und ihr beide, haut jetzt ab!« Mit einer drohenden Geste machte der Alamanne deutlich, dass für ihn das Gespräch beendet war.
Marus hatte ebenfalls keine Lust, Zeit und Energie an Männer zu verschwenden, die für ihn so offenkundig keinen Nutzen hatten. Er setzte einen entschuldigenden Gesichtsausdruck auf, machte eine verabschiedende Geste und drehte sich um.
Samus tat es ihm gleich und murmelte ihm zu: »Das war wohl nichts. Aber sag, Bruder, hast du nichts, was du denen verkaufen könntest? Wenn sie heute noch in Richtung ihrer Heimat abreisen, haben sie vielleicht Interesse daran etwas mitzunehmen?«
»Nein, habe ich natürlich nicht, du einfältiger Narr. Auf diese Idee wäre ich schon selbst gekommen.«
»Was?«, hörten die beiden die Stimme des Bärtigen hinter sich. »Ihr auch Händler? Dann vielleicht doch ein Geschäft für euch.«
Das klang schon besser. Marus ging zurück und sah das breite Grinsen im Gesicht des Kerls.
»Ja, was wäre das wohl?«
»Wir haben Freunde. Drüben. Die können nicht rüber, weil Brücke gesperrt für alle. Die haben aber Waren und wollen sie verkaufen.«
»Was denn für Waren?«, platzte es aus Samus heraus, für Marusʼ Empfinden viel zu hastig und fordernd.
»Frauenhaar, fünf große Säcke. Nur blonde und lange. Gute Qualität. Ist eine Goldmünze wert.«
Eine ganze Goldmünze. Ein Solidus war eine Menge wert. Marus war nun ganz in seinem Element. Blitzschnell kalkulierte er die Herstellung von Perücken aus dem begehrten blonden Germanenhaar und berechnete deren Verkaufspreis. Egal wie viel Haar es genau war, er müsste mehrere Solidi Gewinn damit machen können. Und den einen Solidus Kaufpreis hatte er sogar noch. Es war seine letzte Reserve. Auf diesen Weg konnte er sie sinnvoll einsetzen.
»Und wie bitte sollen wir an diese Wagenladung kommen? Du hast selbst gesagt, dass im Moment niemand über den Rhein kommt.«
»Gesagt, nicht über die Brücke. Über den Fluss schon. An anderer Stelle. Geh heute Nacht auf der Straße am Fluss entlang nach Süden. Du kommst an eine große alte Eiche. Dort geht ein schmaler, wie sagt man, Tr… Trampelpfad, zum Fluss. Ist sehr flach dort, aber viele Bäume und Pflanzen und Inselchen im Wasser. Dort wir kommen rüber. Bring ein Goldstück mit, dann kannst du die fünf Säcke haben.« Er hielt Marus die rechte Hand hin, um das Geschäft zu besiegeln.
Der wartete nicht lange und ergriff die Hand des Germanen. Er sah dem Mann tief in die Augen und sagte: »Heute, nach Einbruch der Dunkelheit, an der Stelle, die du beschrieben hast.«
Beide nickten sich kurz zu, dann gingen die beiden Parteien auseinander. Die Alamannen setzten sich wieder in den Schatten des Bootshauses. Anscheinend unterrichtete der Wortführer seine Kumpane vom Inhalt des Gesprächs. Sie hatten wohl wirklich nichts verstanden.
Während die beiden Brüder zurück in Richtung der engen Gassen der Stadt gingen, atmete Samus schnell und aufgeregt. »Ist das dein Ernst? Du willst schmuggeln?«, platzte es aus ihm heraus. »Mit diesen zwielichtigen Gestalten?«
Marus seufzte. Sein Bruder hatte keine Ahnung und trotzdem regte er sich so auf, statt sich bedeckt zu halten. Es war wie immer. »Hör zu, erstens habe ich keine andere Wahl. Meine Geschäfte sind schlecht gelaufen in letzter Zeit, und wenn ich nicht bald zu Geld komme, kann ich meine Schulden nicht bezahlen. Zweitens ist die Sache ungefährlich. Wer sollte uns bemerken? Wenn die Germanen eine Furt kennen, dann nutzen sie sie schon länger. Es sind so wenige Soldaten hier stationiert, die haben besseres zu tun, als nachts auf der Landstraße herumzulaufen.«
»Vielleicht hast du recht, Bruder. Aber was, wenn die Germanen uns, ähm, ich meine: dich, betrügen wollen? Sie könnten das Haar doch auch so über die Furt bringen und in der Stadt verkaufen. Wofür brauchen sie uns dazu?«
»Sie hätten in der Stadt keinen Abnehmer. Du hast doch sicher bemerkt, dass sie sich hier nicht auskennen und Probleme haben würden, einen Interessenten zu finden. Die Nacht müssten sie außerdem sowieso abwarten, wenn sie die Säcke herüberschaffen wollen. Dann ist es doch das einfachste für sie, wenn auf der anderen Seite direkt ein Käufer wartet und sie das Geschäft abschließen können.«
»Ich habe trotzdem ein ungutes Gefühl bei der Sache. Aber du bist hier der Geschäftsmann. Ich bin nur ein Fuhrknecht. Also sollte ich dir dabei helfen, den Wagen zu fahren und die Säcke zu transportieren. Alles andere überlasse ich dir.«
»Genau dafür brauche ich dich. Für nichts anderes.«
V.
Es war schon seit einer Stunde dunkel, als sich der Karren klappernd der Silhouette einer großen Eiche näherte. Der sternenklare Himmel ließ gerade genug Licht auf die Erde fallen, um sich auch ohne Laterne oder Fackel zurechtzufinden. Samus zog die Zügel scharf an. Das Maultier, das vor das Gefährt gespannt war, blieb abrupt stehen. Es war zwar alt und nicht mehr so stark wie ein junges Tier, aber offenbar war es aus Armeebestand. Das merkte man sofort, denn die waren die besten.
Wo und wie sein Bruder den kleinen einachsigen Karren samt Zugtier organisiert hatte, wusste er nicht. Ebenso wenig war er sich sicher, dass die versprochenen fünf Säcke darauf Platz finden würden. Die beiden hatten sich nebeneinander gerade so auf den schmalen Kutschbock zwängen können.
Marus waren in der Zeit, die sie in der einbrechenden Dunkelheit über die schlecht geschotterte Uferstraße unterwegs waren, ganz andere Gedanken durch den Kopf gegangen. Seine Nervosität mochte er vor seinem Bruder verbergen, doch in seinem Kopf konnte er sie nicht ausblenden.
Was, wenn der einfältige Samus doch recht hatte? Es durfte nichts schiefgehen. In dem Beutel an seinem Gürtel befand sich der letzte Solidus in seinem Besitz. Wenn dieses Geschäft nun auch noch schiefging, dann würde er so enden wie die alte Bettlerin, die sie heute Mittag getroffen hatten. Weiter reichte seine Fantasie nicht. Das war auch gut so, wie er fand.
Immerhin war die verdammte Hitze mit dem Verschwinden der Sonne einer angenehmen Kühle gewichen, fand er und konnte sich so etwas ablenken.
»Die Eiche dort vor uns ist sehr alt und steht einzeln am Wegesrand. Das muss sie sein«, riss Samus ihn aus seinen Gedanken.
»Wir sind recht weit weg vom Hauptarm des Flusses«, fand er. »Zwischen ihm und uns dürfte ein gutes Stück Auwald liegen, voll von Gestrüpp und kleinen Nebengewässern. Wo genau der Treidelpfad verläuft, weiß ich schon seit einer halben Stunde nicht mehr.«
Samus sprang auf den Boden und ging schnellen Schrittes in Richtung des Baumes. Er sah sich kurz um und ging dann zurück zum Karren. »Doch, wir sind richtig. Ich habe einen schmalen Pfad gefunden, der zum Fluss runterführt.«
»Dann lass uns mit dem Karren so weit fahren wie es möglich ist. Dann sehen wir weiter«, entgegnete Marus.
Samus lenkte das Gefährt vorsichtig den Pfad entlang. Er war sehr froh, dass er mit einem guten Zugtier arbeiten konnte. Die Sicht war minimal und der Boden auf dem kaum gepflegten Pfad sehr holprig. Es dauerte nicht lange, und sie standen vor einer Wand aus Bäumen und Büschen.
Zwischen dem üppigen Grün konnte man in der Finsternis Flächen ausmachen, die von Wasser bedeckt waren und sich mit zahlreichen kleinen und unbewachsenen Sandbänken abwechselten. Hier wollten die Germanen die Säcke über den Fluss schaffen?
»Der Rhein hat sehr wenig Wasser«, stellte Samus fest. Es kann gut sein, dass es hier eine Furt gibt.«
Langsam war Marus doch froh, seinen Bruder dabeizuhaben. In diesen Dingen war er eindeutig erfahrener als er, das musste er ihm lassen.
Die beiden schauten sich ratlos um, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte. Da hörten sie ein Knacken. Jemand bewegte sich im Dunkeln des Auwalds auf sie zu. Instinktiv wichen sie einige Schritte zurück, ihre Augen in der Hoffnung, etwas erkennen zu können, auf die Quelle der Geräusche gerichtet.
»Ihr da. Wir auch!«, hörten beide eine bekannte Stimme. Kaum hatten die Brüder realisiert, dass es sich um den Alamannen von heute Mittag handelte, trat dieser auch schon aus der Dunkelheit heraus und stand vor ihnen.
»Seid ihr überrascht? Wir kennen den Weg über das Wasser, auch wenn er nicht gesehen werden kann«, sagte er mit einer Lautstärke in der Stimme, die nicht so recht zu der Situation passen wollte.
»Sei doch leiser«, wisperte Samus ängstlich, »sonst hört uns noch jemand!«
Der Germane lachte laut auf. »Hier niemand. Keine Angst. Wir ganz allein. Eure Soldaten nur tagsüber auf Patrouille. Nachts Angst, ha.«
Doch ganz stimmte es nicht, was er sagte. Plötzlich traten zwei weitere Germanen aus dem Dunkeln. Samus erschrak, Marus war höchst erstaunt. Die beiden Männer hatten sich ihnen völlig geräuschlos bis auf wenige Meter genähert.
Während Samus das Herz vor Schreck fast stehenblieb, fing sich Marus schnell wieder. »Gut, wir sind also alle hier. Wo sind die fünf Säcke? Lasst uns das Ganze hier nicht unnötig in die Länge ziehen.«
»Du hast recht. Die Säcke dort hinten auf einer Sandbank«, sagte der Germane und deutete hinter sich. Du und dein Freund können holen und auf den Karren laden. Wo ist das Goldstück?«
»Das bekommst du, wenn wir die Säcke haben«, entgegnete Marus, als er sich bereits daranmachte, das Gestrüpp des Auwaldes zu betreten. »Samus, komm her, lass uns schnell die Säcke holen.«
Samus folgte der Aufforderung seines Bruders nur widerwillig. Warum mussten sie selbst zu der Sandbank gehen? Ihm wurde mulmig im Magen. Aber sein Bruder gab vor, was zu tun war.
Da beförderte ein kräftiger Tritt in den Rücken den Fuhrknecht zu Boden und gab seinem Bauchgefühl auf brutale Art recht. Keuchend fiel er auf das feuchte Gras direkt am Rand der Wasserrinne vor ihm. Sein Gesicht landete im Schlamm, der seinen Augen sofort die Sicht nahm. Er wollte sich aufstemmen und um Hilfe rufen, aber dazu kam er bereits nicht mehr. Ein zweiter, kräftiger Tritt auf den Hinterkopf ließen ihn das Bewusstsein verlieren.
Erschrocken fuhr Marus herum. Er sah, wie einer der beiden Begleiter des Wortführers seinem am Boden liegenden Bruder einen weiteren kräftigen Tritt gab, mit dem er dessen schlaffen Körper auf den Rücken drehte. »Samus! Ihr Hunde, was soll das?«, entfuhr es ihm. Panik kroch in ihm hoch.
»Ihr Idioten. Es gibt keine fünf Säcke mit Haaren. Wir uns nun das Gold nehmen!«, fauchte der Alamanne und blickte gierig auf den Beutel an Marusʼ Gürtel. Alle drei Germanen fingen laut an zu lachen, als der Wortführer mit schweren Schritten und entschlossener Miene auf Marus zuging. Nur fünf Schritte trennten die beiden noch voneinander.
Marus schossen die Gedanken durch den Kopf. Sollte er fliehen? Das war unmöglich: hinter sich der undurchdringliche Auwald und vor ihm die drei Germanen. Noch vier Schritte.
Er konnte verhandeln. Das war seine Stärke. Aber welchen Handel konnte er in dieser Situation noch anbieten? Hätte er doch nur den Solidus im Karren gelassen! Noch drei Schritte.
Seine Gier war schuld. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass seine Gier nach dem Abschluss eines Geschäftes die Kontrolle über sein Handeln übernommen hatte. Sonst wäre er viel vorsichtiger gewesen. Unter anderen Umständen wäre er niemals so naiv gewesen, sich auf so eine Dummheit einzulassen. Noch zwei Schritte.
Und seinen Bruder mit hineinzuziehen! Der arme Samus. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte er aufrichtiges Mitleid mit ihm. Sie würden ihn nicht umbringen, sonst hätten sie ihn im Schlamm ersticken lassen. Sie würden ihn mitnehmen und als Sklaven in irgendein stinkendes Alamannendorf bringen. Er wusste nicht, was schlimmer war.
Noch ein einziger Schritt. Der Germane zog ein Messer, das er unter seiner Tunika verborgen hatte.
In diesem, kurzen Moment kam es dem Händler so vor, als ob nicht ein grobschlächtiger Germane auf ihn zustapfte, sondern die Schicksalsgöttin Fortuna persönlich sich ihm näherte. Wie sehr hatte sie ihn verspottet in all den Jahren seiner Geschäftstätigkeit und wie sehr hatte er sie dafür verflucht. Er war verbittert, hatte den Glauben an die Götter und auch die Freude am Leben verloren.
Noch vor vielleicht einer Stunde hatte seine Fantasie nicht ausgereicht, um sich auszumalen, was das Schicksal nun noch für ihn bereithielt. Er wurde endgültig ins Unglück gerissen und sein armer Bruder, der gerade erst mit dem Leben davongekommen war, gleich mit.
»Nein!«, rief er laut aus und wusste selbst nicht genau, was er damit eigentlich meinte. Dann packte ihn eine starke Hand an der Tunika und rammte seinen hageren Körper gegen den nächsten Baum. Er hatte das Gefühl, dass sein Rückgrat an der verkrüppelten Eiche zerbarst, solche Kraft steckte hinter dem Stoß. Das Letzte, was er sah, war die Spitze des Messers, die der Germane mit voller Wucht in seinen Hals rammte.
Nach kurzem Todeskampf blieb sein erschlaffter Körper für einige Sekunden an dem Baum hängen, bis der Mann, dessen Namen Marus nie erfahren hatte, sein Messer erst aus der Eich, dann aus Marusʼ Hals herauszog. Leblos sackte er zusammen und blieb unter dem Baum liegen.
Der Alamanne bückte sich über sein Opfer und schnitt ihm den Beutel mit dem Solidus darin vom Gürtel. Er gab seinen beiden Begleitern ein Zeichen und verschwand dann im Dunkel des Auwaldes. Die beiden anderen Germanen schirrten das Maultier ab und warfen den bewegungslosen Samus über dessen Rücken. Ohne Murren trabte es an einer Leine hinter ihnen her, als sie ihrem Anführer folgten.
Zurück blieb außer dem Karren nur eine in sich zusammengesunkene Leiche im feuchten Schlamm. Es würde nicht lange dauern, dann würde der Rhein beim nächsten Ansteigen des Wasserpegels seinen Körper verschlingen und das Andenken an ihn tilgen – ganz so, wie er es selbst nur einige Stunden zuvor mit dem Namen von Amelius auf der Wachstafel getan hatte. Marus wäre sich sicher gewesen: Fortuna, die Hure, hatte gesiegt.