Читать книгу 5447 Tage Im Schatten vom Paradies - Patrick Naumann - Страница 6

Оглавление

Rübezahl und Himbeereis

Meine Mutter lebte zu diesem Zeitpunkt mit einem Mann zusammen, mit dem sie drei Jahre vor meiner Geburt einer Tochter bekommen hatte, meine Stiefschwester.

Dieser Mann war also nicht mein Vater, jedoch ließ man mich in dem Glauben und es gab auch keinen Grund das Gegenteil zu denken. Er nahm mich in den Arm, hatte mich lieb und ich hatte ihn lieb. Er verhielt sich so wie ein Vater sich seinem Sohn gegenüber verhält. Wir unternahmen viel. In Ludwigsburg gibt es das berühmte »Blühende Barock«, ein wunderschönes Schloss mit einem Märchengarten. Für mich war es ein ganz besonderer Ort. Alle Märchen waren dort dargestellt, von Hänsel bis Gretel im Knusperhäuschen bis hin zu Rapunzel. Dort stand ein Turm und man konnte von unten den bekannten Spruch rufen - und sagenhaft: Rapunzel lies wirklich ihr Haar herunter! Am meisten beeindruckte mich aber Rübezahl. Für meine Kinderaugen war es eine riesige dunkele Höhle, schier eine eigene Welt, in der ich mich festhaltend an der Wand vortastete. Man hörte klirrende, tropfende Geräusche, bis auf einmal eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit herausschallte: »Hoho, ich bin Rübezahl, der Berggeist!«

Mit großen Augen erschrak ich, hatte aber keine Angst vor ihm. Im Gegenteil, ich freute mich, dass ich in der gleichen Stadt wie Rübezahl wohnte, obgleich ich in der Höhle mit ihm nicht hausen wollte.

Die letzten Erinnerungen an meinen Papa zu dieser Zeit hatte ich an Weihnachten. Er schenkte mir eine Carrera-Autobahn. Wenn er von der Arbeit kam, spielten wir mit dieser und am Wochenende gingen wir mit der gesamten Familie einkaufen. Aus dieser Zeit habe ich gute Erinnerungen, aber leider trennte meine Mutter sich von ihm als ich drei Jahre alt war. Ich musste meinen Vater, Schwester und Rübezahl verlassen und zog mit meiner Mutter nach Stuttgart. Sie bekam in Stuttgart-Möhringen einen Job in einer Gaststätte, samt Unterkunft.

Es war ein kleines Zimmer unter dem Dach des Hauses. Spärlich eingerichtet. Zwei Betten an der Wand, ein Waschbecken und ein Holzschrank. Die typische Tapete aus den 60ern durfte nicht fehlen. Beige Hintergrund auf dem tausende gelbe Blumenmotive rankten, die beim längeren ansehen in sich verschwommen und schwindelig machten. Von dem Dachfenster aus konnte man die anderen Dachfenster sehen.

Für mich war es aber ein unheimlicher Ort. Man musste oft leise sein, aber die Dielen knarrten immer, selbst wenn man sich nicht zu bewegen schien. Generell hörte man immer irgendwelche Geräusche. Ich dachte immer an Gespenster. Selbst heute, nach 40 Jahren, kann ich mich an die intensive Angst von damals noch gut erinnern. Aber vielleicht lag es auch an der Tapete.

Meine Mama arbeitete tagsüber in der Küche. Kindergärten waren zu der damaligen Zeit noch nicht so weit verbreitet, sodass ich mich meist selbst beschäftigte.

Von der Gaststätte nicht weit weg gab es eine kleine Schmiede. Der Chef, ein älterer Mann, freute sich immer, wenn ich ihn besuchen kam und so war ich fast täglich dort. Es standen viele Eisenmaschinen herum, es war heiß und roch verbrannt. Regale mit einem Haufen interessanter Dinge, an die ich aber nicht ran durfte, machten den Platz noch kleiner als er vermutlich war. Ich saß auf einen Hocker und schaute mit großen Augen dem Meister bei der Arbeit zu. Zum Schluss durfte ich immer die Schrauben und Muttern sortieren. Die waren für mich etwas ganz Besonderes. Er schenkte mir welche, ich steckte sie in meiner Hosentasche und fühlte mich reich.

Mein Geschäftssinn muss wohl schon damals ausgeprägt gewesen oder eben dort geweckt worden sein. Jedenfalls ging ich schnurstracks mit breiter Brust zu meiner Eisdiele. Der Italiener staunte nicht schlecht, als eine Hand sich den Tresen hochkämpfte und ich ihm auf Zehenspitzen stehend zwei Schrauben hinlegte. Ich wollte eine Kugel Himbeereis. Das war für mich der Gott unter den Eiskugeln, dunkelrosa mit Fruchtstücken, sahnig-cremig. Später sah man mir an, dass es mir schmeckte.

In der Erwartung auf mein Himbeereis muss mir wohl, als er über den Tresen schaute, schon der Zahn getropft haben. Jedenfalls gab er mir die Kugel und ich ging stolz und mit neuem Plan nach Hause. Ich wollte die Eisdiele nun mit Schrauben und Muttern überschwemmen und mir so tausende von Kugeln Himbeereis kaufen. Am nächsten Tag erzählte ich stolz in der Schmiede von meinem Vorhaben. Der alte Chef lachte nur, strich mir übers Haar und gab mir 20 Pfennig. So viel kostete nämlich damals eine Kugel.

Traktor, Flugzeug, Bus oder Liebe, Gürtel und Schmerz

Wie es das Schicksal wollte, war die neue Heimat nicht von langer Dauer. Ich stand kurz vor meinem fünften Lebensjahr, sozusagen mitten im Leben und da hieß es wieder Abschied nehmen von Stuttgart-Möhringen, der kleinen Schmiede, der Eisdiele um die Ecke, von meinen Schrauben und Muttern, von meiner Himbeereisquelle.

Toll fand ich den Tapetenwechsel nur wegen dem unheimlichen Zimmer. Nächster Halt: Weiler zum Stein in der Nähe von Winnenden. Diesmal in einem Zweifamilienhaus, zwar auch wieder unter dem Dach, aber da es eine Dreizimmerwohnung war, hatte ich ein eigenes Zimmer. Dazu bekam ich noch eine Oma. Sie wohnte im ersten Stock mit ihrem Mann. Er war ein alter Landwirt. Hier verbrachte ich einer meiner schönsten Zeiten in meiner Kindheit.

Meine Mutter war nun im Außendienst bei einer Kosmetikfirma angestellt und viel unterwegs. In dieser Zeit passte die Oma auf mich auf. Wir backten zusammen Kuchen, schauten TV und spielten im Garten. Hin und wieder nahm mich ihr Mann mit aufs Feld. Für mich war er ein Held. Er redete zwar nicht viel, aber was er sagte war wichtig. Er steuerte diese riesigen Maschinen auf diesen endlosen Feldern. Das Einzige was er brauchte war sein Stofftaschentuch mit dem er sich ab und zu den Schweiß wegwischte. Ich durfte dann auch mal Traktor fahren und war natürlich stolz wie Oskar. Als wir vom Feld kamen fühlte ich mich selbst wie ein Held, wie ein Cowboy und freute mich auf das leckere Essen bei Oma, der ich aufgebracht meine Heldengeschichte erzählte. Sie hörte mir beim Aufdecken zu, schaute ihren Mann an und lächelte, nachdem sie sich mir wieder zurichtete und mich lobte. Es war eine wunderschöne Zeit, ich hätte nichts mehr gebraucht, keine Schule, kein Verreisen, keine andere Stadt, nur meine Oma, meinen Opa, mein Meerschweinchen, das ich mittlerweile hatte und vor allen Dingen, mein Stofftaschentuch, das ich wie Opa, jetzt aus meiner Tasche stolz raushängen lies.

Doch wie ein Cowboy auch mal vom Pferd fällt, so sollte auch ich hart aufschlagen. Ich wurde mit sechs Jahren eingeschult und machte meine traurigste und schrecklichste Erfahrung zu dieser Zeit. Meine Oma verstarb! Ich wurde in eine Pflegefamilie gegeben.

Wieder in eine neue Stadt ziehen, Schule wechseln, Umfeld ändern und alles zurücklassen. Eine neue Art von Kindheit sollte mir bevorstehen. Meiner Mutter blieb wahrscheinlich nichts anderes übrig, sodass sie das Jugendamt um Hilfe bitten musste. Wer sollte auf mich aufpassen?

Eine Pflegefamilie wurde schnell gefunden. Ein Ehepaar mit einem Jungen, der in dem gleichen Alter war wie ich. Mein neues Zuhause sollte nun Schondorf werden. Vorab gab es ein erstes Treffen mit der Pflegefamilie. Der Mann hatte so viele Modellflugzeuge in der Wohnung, dass ich dachte er sei Pilot, aber er war nur Busfahrer und seine Frau Hausfrau. Zum Anfang lief alles gut und die Eingewöhnungsphase war soweit überstanden. Nach etwa zwei Monaten begann es aber mit den Misshandlungen. Erst war es nur, dass ich das, was ich an einem Tag nicht gegessen hatte, zum Beispiel Grießbrei, ich hasste Grießbrei, dass ich das am nächsten Tag wieder vorgesetzt bekam – so lange, bis es aufgegessen war. Am Wochenende durften wir beiden Jungs nicht vor neun Uhr aufstehen. Ich konnte es aber nicht verhindern, dass sich menschliche Bedürfnisse bemerkbar machten und musste auf die Toilette. So kam es, dass ich ins Bett machte und dafür meine erste Tracht Prügel erhielt. Im Winter wurde ich zur Strafe mit kurzer Hose zur Schule geschickt. Es war kalt und die anderen Kinder hänselten mich. Einmal kamen der Sohn und ich 15 Minuten zu spät vom Spielen heim. Ich kann mich noch erinnern, dass wir die Mutter anflehten nichts dem Vater zu sagen, der auf Spätschicht war. Sie versprach uns nichts zu sagen. Wir schliefen bereits als ich von einem Grölen und Gepolter wach wurde. Ich wusste noch gar nicht recht was los war. Die Türe wurde aufgerissen und wir aus dem Bett gezerrt. Schon spürte ich den Gürtel. Wir bekamen eine ordentliche Tracht Prügel. Weinen und Wimmern animierten ihn nur noch fester zuzuhauen. Sein Sohn jammerte leise, fast lautlos. Er war es schon gewohnt! Seine Mutter hatte uns natürlich verraten.

Ich vermisste meine Mutter in dieser Zeit mehr als je zuvor und fragte mich, warum sie das zugelassen hatte. Auf Besuch fragte sie zwar nach meinen vielen blauen Flecken, aber gab sich mit der Antwort zufrieden, es sei beim Spielen passiert. Ein Jahr musste ich bei der Familie bleiben. Ein Jahr war ich ihnen ausgeliefert. Ich denke nur dem Umstand war es zu verdanken, dass meine Mutter noch einmal geheiratet hatte und ich so dort rauskam. Ihr neuer Freund, ein Angestellter bei einer Krankenkasse im mittleren Dienst, Beamter, meinte es besser mit mir. Statt Pflegefamilie sollte ich nun in einem Internat meine »Erziehung genießen«. Zu diesen Zeitpunkt war ich noch katholisch geeicht. Mit sieben Jahren ging nun meine Reise weiter. Statt nach Hause ging es in ein katholisches Wohnheim mit Nonnen. Gürtel haben die Nonnen nicht am Gewand, das wusste ich, aber sonst keine Ahnung was mich dort erwarten würde.

5447 Tage Im Schatten vom Paradies

Подняться наверх