Читать книгу 5447 Tage Im Schatten vom Paradies - Patrick Naumann - Страница 7

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Beten, Bertram, Umzug und Umtaufe

Der Hölle in Schondorf entflohen, kam ich nun in die Obhut der katholischen Kirche. Dort gab es andere Prioritäten. Beten, beten und nochmals beten. Doch vorab lernte ich nebst der Hausordnung, dass es noch eine andere gab. Eine Hackordnung. Regel Nummer 1: Leg dich mit niemandem an, den du nicht selber umhauen kannst. Zuvor kam ich nie in solche Situationen. Generell hatte ich nach der Pflegefamilie von Gewalt ziemlich die Schnauze voll.

Es gab verschiedene Kindergruppen, die nach Alter aufgeteilt waren. Ich war in die Gruppe der 7- bis 11-Jährigen eingeteilt. Jede Gruppe hatte seine Aufseherin. Meine hieß Schwester Elisabeth. Weiße Haube, graues Kleid. Eine ältere Frau. Sie hatte so viele Falten im Gesicht, dass ich nie sah, ob sie zufrieden war oder gar lächelte, wütend oder böse war. Einzig und allein an ihrem Ton oder ihren Augen konnte man kleine Gefühlsregungen erahnen. Streng war sie auf jeden Fall. Sie stand beim Beten immer hinter mir und korrigierte meine Körperhaltung. Sie nannte es Körpererziehung. Ich stand aber eher steif - verkrampft - als demütig, kerzengerade da.

Welcher Wind wehen würde, sollte ich gleich zu Anfang spüren. Als ich im Speisesaal Platz nehmen wollte, spürte ich plötzlich einen kräftigen Stoß von hinten, der mich zu Boden schleuderte. Als ich aufsah, sah ich, dass der Typ groß war. Wirklich groß. Mehr Zeit hatte ich nicht für die erste Einschätzung. »Hast du was gesagt?«, fragte er mich mit erhobener Stimme. Mir sackte das Herz sofort in die Hose, es ging ein Raunen durch die herumstehenden Zeugen, das konnte ich noch hören, aber alles andere um mich herum schien wie erstarrt. Als hätte jemand die Zeit angehalten und mich gelähmt. Es wurde plötzlich so still, dass ich glaubte das Holz an der Decke knacksen zu hören. Mir wurde kalt, meine Hände zitterten. Sollte ich vom Regen in die Traufe gekommen sein? Plötzlich packte mich jemand von hinten an der Schulter und richtete mich wieder auf. Er sah mich an und sagte zischend: »Kein Wort!«

Gerade war Schwester Elisabeth im Anmarsch. Sie fragte: »Was ist hier los?«

Ich glaube der Typ hieß Bertram. »Ich habe mich nur mit dem Neuen bekannt gemacht«, sagte Bertram. »Ab auf deinem Platz!«, zischte Schwester Elisabeth. Sie fragte mich was los sei. Bertram blickte zurück, ich nickte: »Alles in Ordnung!«

Die anderen hatten sich bereits hingesetzt. Auf den Tischen standen jeweils zwei Eisenkannen mit kaltem Tee, ovale Platten mit Aufschnitt, geschnittenen Broten, Butter und portionierter Marmelade. Zum Essen war mir aber nicht zumute. Noch schlimmer fühlte ich mich als Bertram mich ertappte, dass ich ihn anstarrte. Auf den musst du aufpassen, sagte ich mir. Ich trank ein Glas Tee von gefühlten zigtausend in dieser Zeit. Lauwarmer bis kalter Tee.

Jede Gruppe hatte seinen eigenen Schlafsaal und Waschraum. Die Schule war im Nebengebäude mit externen Lehrern. Ich war froh statt Schwester Elisabeth eine richtige Lehrerin zu haben. Jeden Sonntag war Kirchentag angesagt. Zu meinem Bedauern oder meiner Verwunderung wurde Geburtstag nicht gefeiert. Es gab an meinen achten Geburtstag also nichts. Keine Geschenke, nur einen Anruf von meiner Mutter. Jedoch, wenn Namenstag war, so wurde gefeiert! Wir mussten den Namen zwar nicht tanzen, aber es gab wenigstens mal eine Tafel Schokolade und einen kleinen Kuchen.

Ab und zu kam meine Mutter mit meinem zukünftigen Stiefvater zu Besuch. Meine Frage war meistens bei der Verabschiedung, wann ich wieder nach Hause dürfte? Die Antwort war immer die gleiche. Bald!

Nach 14 Monaten war es dann endlich soweit. Nach gefühlten 4000 Gläsern kaltem Tee, Bertram und zigtausenden Stunden Gebeten, welche ich jetzt fehlerfrei im Schlaf beherrschte, ging es endlich nach Hause. Aber vorher kam noch die Schwester Oberin, eine ältere Dame, mit einem riesigen schwarzen Holzkreuz um den Hals, das schwer schien, jedenfalls lief sie krumm und teilte mir mit, dass ich nun umgepolt werde. Umgetauft: Von katholisch auf evangelisch! Meine Mutter war evangelisch, mein neuer Vater auch, also warum ich nicht. Mir war es egal, Hauptsache weg - vom kalten Tee, von Bertram und den frommen Schwestern.

Die Umtaufe war eine riesige Zeremonie in der Kirche. Ich trug einen Anzug mit Krawatte, hatte eine riesige Kerze in der Hand, bekam Blumen und der Pfarrer tat seinen Job. Schwuppdiwupp war ich nun evangelisch. Und welch Überraschung: Es ging wieder nach Stuttgart-Möhringen. Zurück in den Ort, in dem ich aus Schrauben Himbeereis machte. Diesmal in ein eigenes Haus in der Leinweberstraße 84. Ein Haus mit Garten und ich hatte ein eigenes Zimmer. Ein »Herzlich willkommen« -Schriftzug hing über der Eingangstüre und davor stand ein neues Rennrad von Steiger mit 10 Gängen.

Scheunenrauch, Schafe und Dauerwellen

In Stuttgart-Möhringen lebte ich mich schnell wieder ein. Mit Bernd, dem Sohn von der Schlosserei, Fritz und Hans, den Söhnen vom Landwirt Huber, fand ich gleich Freunde und wir wurden eine kleine Rabaukenclique. Huber hatte noch zwei Töchter, aber mit mittlerweile neun Jahren hatte ich nun ganz andere Interessen. Obgleich ich schon meine ersten Anbandelungsversuche gestartet hatte. Ganz klassisch in der Schule. Sie hieß Bärbel und ich steckte ihr den berühmten Zettel: »Willst du mit mir gehen? Ja oder Nein«, zu. Wenn ich noch bedenke wie aufgeregt ich war. Nach mehreren Testläufen im Gedanken brachte ich es endlich übers Herz. Und ich erhielt den Zettel mit einem Ja zurück. Wir machten ab und zu Hausaufgaben und ich war auf ihren Geburtstag eingeladen. Sie sollte auch später die sein, die mir den ersten Kuss abnahm. Jahre später sollte es leichter werden, da war ich Empfänger statt Endsender von ominösen Zetteln, aber das war in meiner DJ- und Sängerzeit.

Damals aber, zog ich noch mein Rennrad von Steiger und meine Freunde vor. Wir stellten immer irgendwelche Sachen an und starteten wichtige, geheime Aktionen. Eine davon war streng geheim. Wir trafen uns alle vier, Bernd, Fritz, Hans und ich in einer Scheune. Wir mussten unbedingt wissen wie es ist, eine zu rauchen. Zu der damaligen Zeit war das Rauchen noch total angesagt. Ob das nun im Fernsehen, in der Werbung oder auf Plakaten war. Von den Politikern ganz zu schweigen. Es gehörte einfach dazu.

Nur war unsere Aktion nicht so geheim wie wir dachten. Die Töchter Hubers hatten uns, wie so oft, in unserem Vorhaben heimlich beobachtet und uns bei Oma Huber verpetzt, sodass wir unser blaues Wunder erleben sollten. Wir waren gerade dabei uns wie die größten Indianer zu fühlen. Die Zigarette ging im Kreis herum und jeder versuchte seinen Mann zu stehen, als auf einmal unter einem lauten Gezeter Oma Huber in die Scheune stürmte. In der einen Hand eine Mistgabel, mit der anderen wild rumfuchtelnd. Vor lauter Schreck, nahm ich den Zug voll auf Lunge, meine Augen fielen fast raus und noch während dem Rennen fing ich an zu husten, dass ich dachte ich müsste sterben. Entweder durch die Zigarette oder durch Oma Hubers Mistgabel. Gott sei Dank war beides nicht der Fall. Danach wollte ich dieses Teufelszeug nie mehr anfassen. Der Vorsatz hielt im Nachhinein doch sehr lange. Mit 30 fing ich dann aber doch damit an. 24 Jahre später war es mal wieder an der Zeit sich darüber Gedanken zu machen aufzuhören. Gut, Gedanken habe ich mir immer mal wieder darum gemacht, aber eben auch nur Gedanken! Nun bin ich aber – so kann ich stolz berichten – seit Herbst 2019 rauchfrei.

Nach zwei Jahren fing die Ehe meiner Eltern an zu kriseln. Alles wurde irgendwie lieblos. Immer mehr herrschten Gereiztheit und Streit bei uns. Dementsprechend bekam auch ich all die Gefühle und emotionalen Blitze, die zwischen meinen Eltern herumschwirrten, ab und da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Möglichkeiten hatte diese Emotionen zu managen, drohten sie mich zu übermannen. Was bleibt einem als Kind da übrig?

Bestimmte Gefühle werden dann einfach verdrängt, weil es einfach schwer ist sie auszuhalten. Man steckt da in der berühmten Zwickmühle. Auf der einen Seite möchte man, dass die Eltern sehen dass man unter der Situation leidet und sie dadurch ihr Verhalten ändern, auf der anderen Seite möchte man aber auch stark wirken, damit sie sich auf sich konzentrieren können und ihre Probleme wieder in den Griff bekommen. Ich zog mich eher zurück, spielte den Starken und machte gute Miene zum bösen Spiel. Aber nichts war gut, denn meist machen sich die unterdrückten Probleme dann erst auf andere Art bemerkbar. Bei mir waren es die schulischen Leistungen, die sich den Situationen zu Hause entsprechend anpassten.

Heute muss ich aber sagen, ich verurteile meine Eltern nicht. Ich habe mal gelesen, dass neben Genen auch sogenannte »Meme« an die Kinder weitergeben werden. Es sind gewisse Verhaltensweisen, die wir damals von unseren Eltern vorgelebt bekommen haben und die wir unweigerlich, auch wenn wir sie damals verteufelt haben, unbewusst nachahmen. Wenn einem dann selber mal der Satz rausrutscht: »Solange du die Füße unter meinem Tisch hast, so lange…«, erschreckt man vielleicht, fühlt sich aber dennoch zu diesem Zeitpunkt im Recht. Klar gibt es immer welche, die den Kreislauf durchbrechen. Das sind dann die schwarzen Schafe der Familie, die ihren eigenen Weg gehen. So eines war ich zwar auch in meinem weiteren Leben - in anderen Situationen - und viele meiner Entscheidungen würde ich heute auch nicht mehr so treffen, aber was spätere Familienangelegenheiten betrifft, habe ich mich auch nicht immer mit Ruhm bekleckert. Im fortgeschrittenen Alter frisst man ja auf einmal die Weisheit mit Löffeln, während man früher den einen oder anderen vollen Teller mit Empathie hat stehengelassen. Jedenfalls kann ich heute ohne Groll sagen: Meine Eltern waren, wie sie waren. Sie haben ihr Bestes getan, nämlich genau das, was sie in der jeweiligen Lage tun konnten. Sie konnten vielleicht auch nur das geben, was sie selber mit auf den Weg bekommen haben.

Mein Stiefvater hatte nebenbei eine Freundin. Er kam nachts nicht mehr nach Hause. Die Scheidung wurde eingereicht und es war mal wieder soweit. Wir zogen aus. Ich verließ wieder meine gewohnte Umgebung, die Schule und meine Freunde. Neue Schule, neues Glück. Meine Motivation ließ ich aber in Möhringen und so schaffte ich es nach kurzer Zeit beim Schulpsychologen der neuen Schule vorzusprechen. Nach seiner Empfehlung/Anordnung wurde ich weitergereicht zu einer Sonderschule.

Wir wohnten jetzt in Forchtenberg und meine Mutter übernahm dort auch eine Gaststätte. Forchtenberg war ein kleines idyllisches Örtchen im Kochertal. Das schlimmste hieran war, dass ich jetzt jeden Morgen 20 Kilometer mit dem Bus nach Künzelsau zu dieser Sonderschule fahren musste.

Meine neuen Kumpels konnten in Forchtenberg auf die Hauptschule gehen, da blieb es natürlich nicht aus, dass man irgendwie schon dazugehörte, aber dennoch Angriffsfläche für den einen oder anderen dummen Spruch bot. Es half alles nichts. Ich musste mich wieder zusammenreißen. Ich musste wieder kämpfen!

So gab ich in den nächsten sechs Monaten Vollgas. Ich entwickelte mich zum Klassenbesten und konnte noch vor den Sommerferien einen Test für die Hauptschule Forchtenberg machen, den ich bestand und somit wieder ab der sechsten Klasse dort in die Schule gehen durfte.

Währenddessen lief die Gaststätte meiner Mutter gut. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin. Ab und zu half ich ihr und konnte so sehr viel von ihr lernen. Das Kochen sollte mich mein Leben lang begleiten. Jahrzehnte später war ich selber Besitzer einer Gaststätte in Thailand. Meine Riesenschnitzel waren dort legendär. Meme, Verhaltensweisen, sind nicht immer schlecht. Hierbei habe ich eine Leidenschaft übernommen. Die des Kochens. Aber das ich auch Jahrzehnte später im Knast eine Kochschule eröffnen sollte, wohlgemerkt als Insasse, der der Todesstrafe entgangen und nun ungewiss zwischen 10-15 Jahren dort hocken musste, ist wohl wieder dem schwarzen Schaf geschuldet, zu dem ich aber in dieser Geschichte unfreiwillig werden sollte.

Vorab: Damals erlernte ich aber noch ein anderes Handwerk, was so nicht zum schwarzen Schaf passen sollte. Nach meinem Schulabschluss, den ich mit 15 Jahren erreichte, fing ich ein Praktikum im Friseursalon Wöhr in der Stuttgarter Königstraße an. Beste Adresse, Kunden wie der ehemalige Ministerpräsident Lothar Späth, ging dort ein und aus. Nach kurzer Zeit entwickelte ich mich wohl zum besten Dauerwellenpapierchenfalter der Welt. Gut, der Welt vielleicht nicht. Die wollte ich erst noch sehen. Mit Marokko fing ich an.

5447 Tage Im Schatten vom Paradies

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