Читать книгу Abschiedsbrief an die Liebe - Patrick Sandro Nonn - Страница 4
Wie alles begann
ОглавлениеIch weiß noch haargenau, wie alles begann. Und ich erinnere mich sehr genau an den Augenblick, als ich dich zum ersten Mal sah. Es war der erste Tag und die erste Stunde in der neuen Schule, noch vor Unterrichtsbeginn und wir waren beide zehn Jahre jung. Das Sonnenlicht der Morgenstunden ließ dein Haar golden strahlen und der Wind spielte mit ihm. Ich war mir sicher, dass der Wind, der kühl durch den Schulhof strich, genau so verliebt in dich war wie ich. Er war mir sogar schon einen Schritt voraus, er durfte dein Haar streicheln. Die Morgensonne sah blass aus neben deinem atemberaubenden Lächeln. In dem Moment, als die Zeit stehen geblieben zu sein schien, brach sich ein Gedanke, mächtig wie ein Feuersturm, seine Bahn durch mein liebestrunkenes Gehirn. Er donnerte durch meinen Geist wie ein göttlicher Befehl. Er jagte mir durch Mark und Bein, während ich sprachlos und gefesselt von deiner Schönheit wie festgewachsen dastand: Das ist die Frau, mit der du dein Leben teilen möchtest. Mit dieser Frau möchtest du alt werden. Ohne sie wird dein Leben nichts wert sein. Ohne sie wird dein Leben niemals perfekt.
Ich habe wirklich gedacht: Diese Frau. Lieber Gott, tagtäglich möchte ich sie in meiner Nähe haben. Bitte mach, dass wir in derselben Klasse sind.
Der Pausengong ertönte, meine Spannung wuchs. Der Schulhof leerte sich, unsere Parallelklasse wurde von ihrer Lehrerin abgeholt und du warst immer noch da. Möglicherweise wurde meine Bitte schon erhört. Aber wer konnte das sagen, solange wir nicht gemeinsam in einer Klasse waren? Schließlich kam auch unser Lehrer, wir drängelten uns in den Klassenraum direkt rechts hinter dem Eingang. Ich ergatterte einen Platz ganz in deiner Nähe. Ein Außenseiter in der Hufeisenform, in der die Bänke angeordnet waren, aber immerhin in deiner Nähe und das allein zählte. Mein Leben war fürs Erste gerettet.
Die erste Stunde ging dahin, und ich nutzte diese Zeit sehr sinnvoll. Ich prägte mir dein Gesicht ein. Ich ließ deine Schönheit in mein Gedächtnis einbrennen. Ich schuf dir, meiner Göttin, einen Tempel in meinem Geist. Einen Ort, wo ich dich wieder finden konnte, egal was die Wogen der Zeit, ihre Fluten und Stürme auch mit uns vorhaben mochten. Noch gab es kein uns, noch wusste ich nicht einmal deinen Namen. Aber ich sorgte schon einmal vor und baute dir diesen Tempel. Die ersten neunzig Minuten vergingen wie ein Wimpernschlag, und in der ersten Pause erfuhr ich deinen Namen von einem echt sympathischen Typ aus unserer Klasse, deinem Cousin Matthias. Er wurde recht bald mein bester Freund und obwohl wir lange nichts mehr voneinander gehört haben, mein bester Freund wird er wohl immer bleiben. Er sagte mir wie du heißt.
Als sich hier nun dein Name mit dem bewundernswerten, sonnenumglänzten, anmutigen und strahlend schönen Bild von dir verband, war die Gedankenkomposition vollendet. Eine jubilierende, tönende Symphonie. Aus dem Gedankenbild wurde ein lebendiger Mensch, aus dem schlichten Tempel ein Palast. So unerreichbar du an jenem taufrischen Vormittag für mich warst, umso näher war ich dir in meinem Herzen und in meiner Seele: Stephanie.
Kann es sein? War das der Anfang vom Ende? Hat es jemals angefangen? Wann war es vorbei? Gibt es das Vorbei, wenn die Urgewalt einer brennenden Liebe die treibende Kraft im Spiel ist? Ja und Nein, denke ich.
Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelungen ist, in deine Nähe zu gelangen. Vielleicht waren es die endlosen Runden im Schulpark, die ich mit deinem Cousin gemeinsam um eure Mädchenclique gedreht habe und immer wieder auffällig zufällig an euch, an dir vorbeikam. Wir hatten nur die Möglichkeit euch auf die Nerven zu gehen. Dir. Um dich allein ging es mir. Also drehte ich meine Bahnen, wie ein nutzloser, toter Satellit im Orbit. Ich kannte dich kaum, aber dieses Gedicht entstand während einer Umrundung:
Kometen in der Umlaufbahn
Die haben keinen Halt
Die tauchen auf
Und schwirren ab
Und man vergisst sie bald
So wirst auch du mich irgendwann
In dunkle Nacht verdrängen
Ich werd’ jedoch mein Leben lang
Auf ewig an dir hängen
Erst viel später sollte sich herausstellen, wie richtig ich damit lag. Glücklicherweise hatte ich mir damals schon angewöhnt, gute Einfälle aufzuschreiben.
Irgendwann und irgendwie haben wir uns kameradschaftlich zusammengefunden. Haben gemerkt, dass wir dieselbe Sprache sprechen. Wir lernten uns zu unterhalten, lernten uns kennen. Fanden Themen über Themen und jede Menge Gesprächsstoff. Und ich war in deiner Nähe. Meinem brennenden Herzen war das jedoch ein bisschen zu wenig.
Deine beste Freundin, die ich schon seit dem Kindergarten kannte, brachte mir, als ich sie fragte, schonungslos bei, dass du keinen Freund haben wolltest. Das glaubte ich ihr. Eine ganze Zeit lang stellte dies die Wahrheit dar. Manchmal sieht man die Wahrheit. Mann kann sie mit bloßem Auge erkennen. Sie hat härtere Konturen als die Lügen, die einen umschleichen. An diese Wahrheit glaubte ich. Ich glaubte sie und wurde das, als was du mich in deinem Leben haben wolltest. Nicht ganz ein Freund, aber dein bester Kumpel. Es wurde zu einem geflügelten Wort zwischen uns. Teuflisch. Ich habe gelernt, es zu hassen: Bester Kumpel.
Jedenfalls habe ich diese Wahrheit dermaßen verinnerlicht, dass meine Wachsamkeit mit jedem Tag, den ich als dein bester Kumpel an deiner Seite genießen durfte, abnahm und weniger wurde und ich der Wachsamkeit müde, bis sie endlich einschlief. Du wolltest keinen Freund, predigte Nadine. Wahrheit, Gesetz, Amen. Die Tage an deiner Seite formierten sich, wie die Zeit es tut, seit der Mensch denkt. Tage, Monate, Jahre. Ich liebte dich, deshalb gab ich mich damit zufrieden. Vier Jahre vergingen. Der letzte Funke Wachsamkeit in mir lauerte noch immer auf deine Erweckung, auf das Ende deines kindlichen Dornröschenschlafs, als Silke mich mit der Frage, ob ich mit ihr gehen wollte, überbracht von ihrer Freundin, in ihren Bann zog.
Es war eine kurze und recht glückliche Episode in meinem Leben, aber leider fiel sie mit dem Zeitpunkt deines Aufwachens zusammen. Die viel schrecklichere Wahrheit, nämlich, dass ich, versunken in Silkes rehbraune Augen, eng umschlungen im Schulpark spazierend, deine aufflammende Liebe zu mir und deine glühende Eifersucht nicht bemerkte, lasse ich nur selten an mich heran.
Wenig später endete meine kurzfristige Romanze mit Silke, denn sie war in jugendlicher Liebe zu unserem Klassenkameraden Sascha entbrannt, der sie ab diesem Zeitpunkt wohl nie wieder als Flachbrett verspottete. Der letzte Donnerschlag dieser Episode traf mich schließlich mit der Nachricht, meine beiden besten Freunde, Matthias und du, würden die Schule verlassen, um den Realschulabschluss nachzuholen. Ich blieb noch ein halbes Jahr und starrte auf deinen leeren Platz, ohne auch nur eine Silbe über deine Gefühle erfahren zu haben. Meine Liebe zu dir war jedoch zurückgekehrt, auf den Platz in meinem Herzen, der ihr rechtmäßig zustand.
Bald darauf sollte ich erfahren, wie sich glühende Eifersucht anfühlt. Stärker noch als bei den ersten bösen, für dich tödlich endenden Seiten, die ich im fünften Schuljahr über dich schrieb. Die Gelegenheit dazu bot sich dir bei der Party an deinem vierzehnten Geburtstag. Unsere erste Party.
Du hattest einen Freund. Euch verliebt knutschend im Zentrum der Tanzfläche zu sehen, schoss die erste glühende Nadel ab, die sich durch den Mittelpunkt meines Lebens bohrte. In unseren Telefongesprächen war dieser Kerl zwar schon des Öfteren schwärmerisch von dir erwähnt worden, hier jedoch endete alles Träumen und Verdrängen für mein phantasiebegabtes Gehirn. Das war erst der Anfang der Realität. Den zweiten Nadelstich, vom Gefühl her genau so köstlich wie der erste, versetzte mir, zu sehen, mit welcher raffinierten Weiblichkeit, die jetzt ihm galt und auf die ich so lange vergeblich gelauert hatte, du es vermochtest, die anderen Mädels, die sich um den langhaarigen Schönling scharten, zu vertreiben. Mit einer simplen und unmissverständlichen Geste. Du setztest dich auf seinen Schoß. Was glaubst du, sah ich in diesem Moment vor meinem geistigen Auge?
Stich Nummer drei und vier, die mit der Geschwindigkeit von Maschinengewehrprojektilen aufeinander folgten, war die Erkenntnis, dass du zu einer jungen Frau herangereift warst, während ich ein kleiner träumender Junge blieb. Viertens, hatte ich dich verloren. Chance vertan, verpasst, aus und vorbei. Das Mädchen im Gedächtnispalast, immer noch zehn Jahre alt, erstarrte. Die edlen, hohen Fensterscheiben im Palast zerbrachen. Die Musik, die laute, dröhnende Musik, zu der das Mädchen eben noch eng umschlungen mit diesem Fremdkörper tanzte, erstarb jäh. Genau wie meine Hoffnung, die dem Wissen um eine grausame Tatsache wich: Ich bin ein Clown. Ich bin niemals wirklich jung gewesen. Statt meinen Weg zu gehen, habe ich mit Clownereien versucht, dazuzugehören und bin doch in die wortlose Stille abgedriftet. Habe meine Gefühle verborgen und versteckt, weil die Allgemeinheit unserer Klasse Liebe für etwas lächerliches hielt. Habe versucht Leichtigkeit zu spielen, anstatt sie im entscheidenden Moment zu leben. Spielte mit und kam doch nie an die Leistung des Oberclowns unserer Klasse heran. Aber die Chance zur Leichtigkeit liegt jetzt, da mich auf deiner Party die Realität auffrisst schon sechs Monate zurück. Eigentlich war es meine Wut, durch die ich alles verspielt habe. Ich sehe diesen Alptraum wieder vor mir:
Der Kunstunterricht zwang mich, der ich sowieso kaum Luft durch die Nase bekomme, für fünfundvierzig Minuten unter eine Gipsmaske. Diese war ich grade erst wieder losgeworden, schwer schnaufend, wie ein Walross, fast am Ersticken, als eben jene Verräter, allen voran ausgerechnet du, die mich verlassen hatte, ihre alten Klassenkameraden besuchen kamen. Deine Frisur war neu, deine Haare entsetzlich kurz und eigentlich hattet ihr vier, vor allem aber du, in dieser Klasse nichts mehr verloren. So etwas in der Art muss ich gesagt haben. Ich wollte dich kränken und beleidigen, denn du hattest mich verlassen. Als ich mit dir fertig war und der fröhliche Glanz aus deinen Augen verschwunden, ging ich vor die Tür.
Es dauerte keine Minute und Matthias folgte mir. Er zuckte hilflos die Schultern und sagte nur zwei Sätze, die ich niemals vergessen werde:
„Gerade eben hättest du sie für dich gewinnen können. Du hättest bloß etwas Nettes über ihre Frisur zu sagen brauchen.“
Dann ließ er mich, verdattert, verdutzt, mit dem schalen Gefühl kalter, verrauchter, sinnloser Wut im Bauch, im Flur zurück und ging wieder in die Klasse. Wie ich an jenem Tag in meinen Bus nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr.
Jetzt stehe ich hier, auf deiner Party und wundere mich darüber, deine Hand auf meinem Arm zu spüren. Deine Stimme fragt mich, ob alles in Ordnung sei, obwohl ich dich gerade eben erst eingefroren habe. Merkwürdig, sie zu hören.
Die Alptraumblase zerplatzt. Die scheußliche Realität, mit der grässlichen Stille, nach dem widerwärtigen musikalischen Lärm und der Ausgeburt der Hölle an deiner Hand, hat mich wieder.
„Ja klar“, sage ich und versuche ein Grinsen. Dieser Knilch, dein Freund konnte ja nichts dafür. Du hattest mich verraten. Mich, immer noch unwissend, dass ich deine Liebe nicht gesehen habe. Diese Party musste gesprengt werden. Schon allein wegen deinem freudestrahlenden, wunderschönen Gesicht. Als ihr euch wieder auf der Tanzfläche befandet, sagte ich Matthias, ich würde nach Hause gehen. Vereinbart war, dass mein Vater mich um Mitternacht abholen käme. Ich wusste, es würde eine Suchaktion auslösen, wenn ich mich jetzt schon aus dem Staub machte. Aber ich fühlte mich zu verletzt, zu wütend, zu eifersüchtig, um noch länger im selben Haus mit dir und ihm zu bleiben. In deinem Heimatort kannte ich mich gut genug aus, um vor den Suchtrupps ein paar Haken zu schlagen. Schließlich trafen wir uns in unserer Freizeit oft. Letzten Endes erwischten sie mich doch und ich durfte den Rest des Abends auf deiner Party verbringen. Partys und Discostimmung liebe ich noch heute. Als ich in dieser Nacht endlich wieder daheim ankam, verfluchte ich ein Mädchen, (Silke) das nichts für meine Blindheit konnte und verfluchte mich selbst und dich, weil du einen anderen mir vorzogst. Ich durfte dich nicht lieben und so lernte ich eine neue, gefährliche Art, Emotion Nummer eins, die Liebe, zu bekämpfen. Ich entdeckte den Hass, der Hass entdeckte mich. Er schmeichelte mir, er flüsterte mir alles, was ich schon seit dem fünften Schuljahr hören wollte ins Ohr. Er sagte, du müsstest sterben, damit ich meine Freiheit wiedererlangen konnte, und ich schrieb seitenweise auf, was er mir sagte.
Wir trafen uns einige wenige Male nach deinem Schulwechsel. Meine Liebe und unsere Freundschaft waren stärker als der Hass, wenn ich nur in deiner Nähe sein durfte. Ich habe dir für deinen Geschmack viel zu oft gesagt, dass ich dich liebe. Und dann endete auch für mich die Zeit in der Hauptschule, die mir meine Vorliebe für Mathematik eingebrockt hatte.
Den ersten Zweijahres-Bruch in unserer freundschaftlichen Liebesbeziehung besiegelte dann unsere Abschlussfeier, bei der auch ihr vier Ehemaligen und natürlich dein Freund, dessen Name ich vergessen habe, mit dabei ward. Über euch zwei, als inniglich verliebtes Paar, freute ich mich verständlicherweise so stark, das ich erst Mal tüchtig einen gesoffen habe. Als mein Verstand leicht und meine Zunge schwer geworden war, muss mir etwas passiert sein, an das ich allerdings heutzutage nur glaube, mich zu erinnern. Ich glaube, ich habe deinen Freund angefleht, das er mir dich für eine einzige Liebesnacht, nur um dich zu entjungfern, überlässt. Schließlich hatte ich die älteren Rechte. Kannte dich ja länger. Wohl noch nie den Film „Die Normannen kommen“ gesehen? Ich hingegen träumte von meinem Pretty Baby am Strand einer blauen Lagune…
Vom Rest des Abends ist nichts übrig in meinen grauen Zellen. Auch weiß ich nicht, ob es wahr ist. Sicher ist nur, ich traute mich zwei Jahre lang nicht, dich anzurufen. Als ich endlich wieder etwas Mut zusammenkratzte, in den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1992 und du meine Entschuldigung annahmst, war die Welt wieder in Ordnung. Du warst eine bildschöne junge Frau, ich ein kleiner verträumter Junge, der verzweifelt und unbedingt, ja bedingungslos an die Unsterblichkeit der Liebe glaubte.