Читать книгу Abschiedsbrief an die Liebe - Patrick Sandro Nonn - Страница 6
Die Suche nach Ersatz
ОглавлениеOh ja, Ersatz. Ich habe so oft Ersatz für dich gesucht. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Ab einem unbestimmten, weil in der Erinnerung, verschüttet gegangenen Zeitpunkt, war ich fest davon überzeugt, ich würde mich umorientieren. Die bittere, mir heute bekannte Wahrheit lautet: Ich suchte keine Neue, ich suchte Ersatz. Das erste Mal, dass ich mich daran erinnere, war es Silke.
Unsere Lebensläufe trennten sich gerade endgültig, du warst im zehnten Schuljahr, ich musste mich auf der neuen Schule zurechtfinden. Damit habe ich zwar Schwierigkeiten, aber es reizt mich auch, etwas Neues kennen zu lernen. Ich bin versessen auf das Neue. Dazu gehört auch Silke. Ihr langes, wasserstoffblondes Haar ging ihr bis zur Hüfte, sie war unbedeutend vollschlanker, als der von mir angenommene Optimalzustand, aber sie war da und durch ihre stets etwas melancholische Stimmung für einen NeunzigProzentSanguiniker äußerst faszinierend. Ich habe sie sogar mal privat getroffen. Sie suchte allerdings leider nur eine Schulter zum Anlehnen und ausheulen, die ich ihr nicht bieten konnte. Als ich das aus sekundärer Quelle erfuhr verflog die Begeisterung, denn für so etwas ist Zeit viel zu kostbar. Ich tauge nicht als Tränenschwamm für Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als größtenteils grundlos Trübsal zu blasen. Dazu gebe ich mich nicht her. Ich bin Entdecker, neugierig aufs Leben.
Ausweg, beziehungsweise Flucht Nummer zwei, vor der ganz großen Liebe hieß Verena. Irrsinnigerweise war ich ihr schon auf der Abschlussfahrt der Hauptschule begegnet und damals tierisch in ihre Cousine Anke verknallt. Als ich Verena nun in Andernach wieder sah, änderte sich das schlagartig. Leider war sie jedoch noch schüchterner als ich. Jemand der sowieso schon schüchtern ist, wird nicht gerne zurückgewiesen. Also gab ich nach einer gescheiterten Einladung zu einem Eisbecher an einem heißen Sommertag des Jahres 1995 sang und klanglos auf. Ich überlegte, ob ich mir das Gefühl, verliebt zu sein, nicht besser ganz abgewöhnen sollte. Ich versuchte es, aber es funktionierte nicht wirklich, denn kaum das ich Verena stehen ließ, entdeckte ich Diana aus meiner Parallelklasse.
Diana war groß, schlank, hatte kurze blonde Haare, einen festen Freund, manchmal zierten rote Pickel ihr umwerfend süßes Gesicht. Man konnte sich wunderbar mir ihr unterhalten, morgens vor Unterrichtsbeginn oder in den Pausen, riskierte dabei jedoch, dass man sich der eigenen Klasse entfremdete, denn Leute aus Parallelklassen können sich üblicherweise nicht riechen. Mir war so etwas Kleinkariertes eigentlich immer egal, aber ich bin ja auch ein Ketzer.
Diana erzählte oft vom Zoff mit ihrem Freund, was mir als geduldig Wartendem Grund zu irrationaler Hoffnung gab. Leider schien sie nicht von ihm loszukommen, darum gab ich halt das Hoffen auf. Ich wandte mich wieder meiner eigenen Klasse und meiner Clique zu, einen guten Freundeskreis wie diesen durfte man nicht vernachlässigen. Eigentlich war mein Bedarf an Schule gedeckt. Dafür bekam ich dann auch die übliche Quittung. Doch das Jahr, das ich in der Berufsfachschule in Andernach wiederholte, wurde eines der schönsten in meinem bisherigen Leben. Der Gedanke an dieses Jahr ist die einzige wirkliche Sentimentalität, die ich mir gönne. Zum ersten Mal gehörte ich einer Clique an, mit den unterschiedlichsten Charakteren, die trotzdem alle gut miteinander auskamen. Leute, die Partys zusammen feierten, wie ich sie bis zu diesem Zeitpunkt nie erlebt hatte. Denn hier gehörte ich mit dazu. Das zu wissen, bedeutet ungeheures Glück für einen notorischen Außenseiter. Vielleicht passten wir so gut zusammen, weil wir alle ein bisschen Außenseiter waren. Oder weil unsere Klasse in zwei Cliquen gespalten war. Ein Mädchen aus diesem Freundeskreis habe ich schon einmal erwähnt: Anja.
Ich verlor mich im Glanz ihrer Augen. Ich war hingerissen von ihrer weiblichen, aber nicht zu betont weiblichen Figur. Ihr Haar, nicht blond sondern dunkelblond, fast brünett, hatte traumhafte Schulterlänge. Es umrahmte seidig ihr Gesicht, ihre ausgeprägten, indianisch anmutenden Wangenknochen, die sie manchmal wie Winnetous Schwester aussehen ließen. Ich war, obwohl ich es ganz bestimmt nicht wollte, mal wieder verknallt.
Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, dass irgendwann einmal selbst die harmonischste Beziehung das zeitliche segnet. Bei Anja wusste ich ganz genau, sie würde ihren Freund früher oder später abschießen. Als der Zeitpunkt kam, das Schulhalbjahr neigte sich schon den großen Ferien entgegen, schrieb ich ihr eine nahezu unwiderstehliche Einladung, die anstehenden Sommerferien mit mir zu verbringen.
Dass aus mir irgendwann ein Schriftsteller werden sollte, hatte ich schon lange zu meinem Hauptziel erklärt. Vielleicht traf ich deshalb die richtigen Töne. Die Einladung kam so gut an, das ich mir sagte es gäbe einen Grund zum Träumen, denn Anja sagte zu. Also stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, morgens vor Sonnenaufgang neben ihr aufzuwachen, sie sanft mit Streicheleinheiten zu wecken, und ihr dann das Frühstück, mit allem was Genuss bedeutet, Kaffee, Orangensaft, Brötchen, Marmelade, Käse, Wurst und Schinken (Ich bin sehr fürs Herzhafte zu haben.), im Bett zu servieren. Genuss pur halt eben, bevor ich ihr die höchste und vollendetste Form von Verwöhnaroma, das ich für sie sein wollte, zuteil werden ließ: Stimulanz und Befriedigung. Let’s make love, suggar.
Ja, es waren phantastische Ideen. So prickelnd wie das Leben sein sollte. Ganz sicher hätte dieser Urlaub sie endgültig von ihrem Exfreund losgerissen. Losgerissen und fortgeweht, damit ich sie auffing. Wie jede andere Seifenblase, die ich mir im Leben zurecht geträumt habe zerplatzte auch diese. Sie explodierte schillernd bunt an der Ecke eines Briefumschlages, der eine schriftliche Absage enthielt. In diesem Brief entschuldigte sie sich hundertmal bei mir dafür, das sie zu ihrem Exfreund zurückgefunden habe, erklärte, ihr sei dieser Neuanfang wichtig und dass sie es sehr bedauere, mich, der ich zuerst da gewesen sei, zurückzuweisen. Ich fegte die Trümmer meiner Träume zusammen und erlebte einen recht eindringlichen Tagtraum, in dem ich sie genussvoll erwürgte. Keine Panik, sie lebt noch, ist mittlerweile verheiratet und steht im Telefonbuch. Ich träume halt zu gerne. Am Rande registrierte ich, wie sie mit ihrem Exfreund zusammenzog, sich ein halbes Jahr später endgültig von ihm trennte und einen neuen Partner fand. Unterdessen war ich mir sicher, dass ich sie viel lieber als Freundin im für mich üblichen Sinne an meiner Seite habe. Ich schätze sie viel zu sehr, um lange nachtragend zu sein.
Außerdem bin ich ja flexibel und suche gerne nach Ersatz. Da gibt es jemanden, der zu genau diesem Zeitpunkt wieder ins Zentrum meiner wankelmütigen Aufmerksamkeit rückt. Ein wunderschönes Mädchen, welches noch ein paar Monate lang siebzehn sein wird und sich gerade von ihrem Freund getrennt hat.
Es ist nicht mehr lange hin bis zur großen, obligatorischen Party. Denn bald steht mein achtzehnter Geburtstag vor der Tür.
Auf dieser unausweichlichen Fete muss ich sie unbedingt auf diese Trennung und auf meine unauslöschlichen Gefühle zu ihr ansprechen. So ist es geplant. Ist doch klar, das bist du, liebes Steffichen.
Die Party an sich war ein voller Erfolg. Alle die ich kennen gelernt habe, versammelten sich in unauflöslichen Klümpchen im Jugendheim meines Heimatdorfes. So etwas wie Stimmung kam absolut nicht auf, und zu allem Überfluss hatte ich die ganze Zeit die bekloppte Idee im Hinterkopf, dich unbedingt nach draußen vor die Türe zu bitten, und dich mit meinen tief verwurzelten, dich betreffenden Gefühlen zu konfrontieren.
Daraus erwuchs sich, wie gehabt, mal wieder ein Desaster. Ich dachte, es freut dich vielleicht zu hören, dass es da jemand gibt, der dich von ganzem Herzen so liebt, wie du bist, der obendrein auch noch dein bester Kumpel ist. Fehlanzeige. Ganz im Gegenteil. Schon bin ich wieder der miese Verräter. In dieser Hinsicht stellt sich langsam Routine ein.
Der Frühling verging, der Sommer mit seiner elenden Hitze näherte sich. Im letzten Drittel des schönsten Jahres meines Lebens mussten wahlweise Janette, Diana I und II, Alexandra (ohne etwas zu wissen, ohne das ich etwas sagte) und trotz allem natürlich du, für die Projektion meiner romantischen Gefühle herhalten.
Noch etwas lernte ich gut und immer intensiver kennen, weil du mich nicht wolltest. Die seelische Nacht. Meine dunkle Seite, die erstmals im fünften Schuljahr mit höllischer Wut aufflammte, und jetzt, da ich noch öfter Teichoskopie betrieb und ernsthaft an einem rachedurstigen Krimi schrieb, zunehmend eine deutlichere Gestalt annahm. Ich machte die zweifelhafte Bekanntschaft von Wut, Bosheit und Sadismus. Der Weg dahin erschien mir ganz logisch. Darf die Liebe nicht existieren, muss sie durch eine gleichwertige Emotion ersetzt werden. Einsamkeit kann das nicht leisten. Nur der Hass ist der Liebe ebenbürtig. Ich begann dich zu hassen, bis aufs Blut. In meinem Krimi malte ich mir Szenen voller Rachsucht und Folter aus und schrieb sie auf. Ich quälte und tötete erfundene Opfer stellvertretend für dich. Ich bestrafte sie für ihren Hochmut und ihre Schmähungen. Hass und Wut rauschten durch meine Adern. Ich giftete vor mich hin. Wenn das die einzige funktionierende Art war, dich aus meinen Gedanken und aus meinem Leben zu tilgen, würde ich sie eben ausüben. Rache. Rache hieß eine jener miesen Ideen, die ich in die kosmische Ursuppe meiner kochend vor sich hin pubertierenden, sich wandelnden und täglich neu formenden Persönlichkeit warf. Da ich nichts lieber tue, als lernen, wachsen und auf Perfektion hinarbeiten, fest an die Notwendigkeit des Gleichgewichts aller Kräfte und der Existenz eines Weltenschöpfers glaube, ist das Endprodukt heute ein anders, als das, worüber ich damals spekulierte. Das höchste Ziel auf Erden ist für mich, Schriftsteller zu werden. Ehe ich dir meinen ersten Krimi vorsetze, sollst du doch wenigstens wissen, warum ich so gerne Krimis schreibe. Die kratzen eben nicht nur an der Oberfläche, nein dabei geht es um Abgründe. Abgründe, auf die jeder, der einmal seine Seele erforschen muss, stoßen wird, ob es ihm gefällt oder nicht. Ich möchte gerne spannende Geschichten aus den verschiedensten Genres erzählen. Allen voran diese. Denn über die ersten, vom Zorn versprengten Seiten, bin ich zur Schriftstellerei gekommen. Die Phantasie hält so vieles für einen bereit. Man darf sie sich nur nicht abgewöhnen. Schlussendlich ist die Idee der Anfang von allem. Die Idee, dich nach meiner Geburtstagsparty aus meinem Leben verbannen zu müssen, um endlich wieder etwas Qualität in mein Dasein zu beringen, war der schwerste Felsbrocken, den ich jemals in die Ursuppe meiner Gefühlswelt fallen ließ. Es bildeten sich nicht bloß Wellen, nicht bloß konzentrische Kreise um ihn. Er brachte das Meer zum Schäumen und Kochen. Niemand kann sich vorstellen, wie befreiend ein Wutanfall ist, wenn man dem brennenden, höllischen Feuer den Weg zur Oberfläche ebnet, wo es seine Macht austobt, um nichts als Wüste, Ödnis, Asche und verbranntes Land zu hinterlassen. Ja, ich meine damit die Seele, die sich durch einen solchen Befreiungsschlag Luft und Raum verschafft, deren tägliches Zitterspiel um Stabilität und Ausgeglichenheit einen Teilsieg erringt, wenn beides, Tag und Nacht existieren darf. Meine Wut blieb sinnlos, um niemandem gefährlich zu werden. Meistens war ich sauer auf mich selbst. Heute, an diesem Tag, da ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, der Grund dafür war die unsterbliche Liebe.
Sie ließ alle anderen Seifenblasen zerplatzen. Luftballons, die eine spitze Nadel treffen. Peng. Wie eine Nadel so gut wie jedes Material durchdringt, drängte sich die Liebe, meine Liebe, immer wieder in mein Leben. Seifenblasen vermögen das nicht zu verhindern.
Das letzte Jahr in Andernach war schön, sehr schön sogar und doch ernüchternd, im Rückblick. In Sachen Liebe und aus der diesbezüglichen Erfahrung habe ich nichts gelernt. Viel gesehen und beobachtet, Daten gesammelt und analysiert, die Ergebnisse den bereits bekannten Fakten zugeordnet. Wissensblöcke neu sortiert. In gewisser Weise die Position als Außenseiter gefestigt. Auch wenn ich zu einer Clique gehörte, im Zentrum befand ich mich nie. Hatte kein Problem damit. Zuschauen, aus und verwerten fand ich hochgradig interessant. Mögliche Anzeichen meines Schriftstellerdaseins, die sich manifestierten und auf der nächsten Schule noch deutlicher in Erscheinung treten sollten.
Die Suche nach Ersatz kann mühsam sein. Wenn man jung ist, weiß man nicht genau, wonach man sucht und ahnt nicht, dass die Suche vielleicht das falsche Ziel hat. Ersatz ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Ersatz ist Wunschdenken und Hirngespinst. Die Suche nach Ersatz resultiert aus der Unfähigkeit loszulassen. Ich habe mich davor gefürchtet, dich loszulassen. Um dich drehten sich neunzig Prozent der in mir wach gebliebenen Erinnerungen an meine Vergangenheit. Ein Mensch ohne Vergangenheit ist ein Mensch ohne Zukunft. Ich weiß nicht woher der Satz kommt, aber ich weiß, es ist so. Das in der Vergangenheit Erlebte macht uns überhaupt erst lernfähig. Lernfähigkeit ist für mich die menschlichste aller Eigenschaften. Aufhören zu lernen, bedeutet Selbstaufgabe. Mich selbst aufgeben kann ich nicht, denn ich habe womöglich eine Aufgabe in dieser Welt. Sie mag global gesehen nichtig, unbedeutend und klein sein, aber sie will erfüllt sein. Bis das mein Schöpfer sagt: „Es reicht.“ Wer bin ich kleines Licht, in diesen Prozess einzugreifen? Aufgeben? Nein! Ich habe schon an der Schwelle gestanden. Bin nie gesprungen. Wer verletzt wurde weiß, dass er überleben kann. Möglichkeiten sich das Überleben schmackhaft zu machen gibt es viele. Man muss sie nur sehen und als Chance beim Schopfe packen. Bevor ich nicht jede einzelne erwogen und ausprobiert habe und darüber hinaus, ist für mich noch lange nicht Schluss. Wenn das heißt kämpfen, dann nehme ich diesen Kampf auf – sofern nötig auch gegen mich und meinen inneren Schweinehund. Andere mögen an ihrem Liebeskummer zerbrechen. Mich hat er irgendwie stärker gemacht. Eine gute Freundin hat mich gelehrt, damit klarzukommen. Sie heißt Einsamkeit und ist viel mehr, als dieses augenscheinlich niederschmetternde Wort. Ich dachte emotionale Ödnis und Wüste seien schlimm. Man geht in die Wüste, um sich selbst zu finden. Durch sie habe ich erfahren, dass ich die schönste Wüste und Einöde in mir habe. Mein Herz ist eine endlos weite, steinige Landschaft. Deshalb brauche ich nicht durstig zu sein und nicht zu verdursten. Ich trinke den spärlichen Regen, der in der Wüste fällt. In der Einsamkeit meiner eigenen Wüste kann ich uneingeschränkt ganz ich selbst sein. Ohne jemandem gefallen zu müssen. Keine Wüste auf unserer Erde ist schöner als meine Einsamkeit.
Nur ist Einsamkeit nichts anderes als ein schwacher Ersatz für Liebe, Zärtlichkeit und Partnerschaft. Kaum mehr wirklich eins zu eins austauschbar. Bei Licht betrachtet nicht ehrlicher, nicht verlogener als Wut und Hass. Wie bringt man diese Naturgewalten in Einklang? Wie lässt man sie harmonisch, wie in einem Orchester, zusammenspielen?
Keine Ahnung. Leider weiß ich es nicht. Sicher ist, sie alle haben ihre Existenzberechtigung. Aber in dem ganzen Gefühlstrubel gibt es schließlich und endlich auch noch mich. Und ich will meinen Frieden haben. Egal wie er aussieht und selbst wenn das bedeutet, dass ich meine ganz große Chance verpasst habe. Schweigt, ihr lieben, bösen Emotionen. Haltet die Klappe!
Ich würde euch gerne gegen neue Gefährten eintauschen. Es wird Zeit, die Räuberhöhle nach dem Winterschlaf zu durchlüften und für frischen Wind zu sorgen. Ich bin sowieso allzeit für jede Art von Veränderung bereit. Etwas Neues braucht der Mensch. Das Jahr 1995, alt und grau geworden, verging so sang und klanglos, wie es kam. Ich musste mich neu orientieren und meine Wahl fiel auf die Höhere Berufsfachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Bad Neuenahr. Ein kleines Stück den Rhein hinunter und dann das schöne Ahrtal hinauf. Bei allen Schulen, die ich besucht habe, schwang ich wie ein Pendel, rheinauf, rheinab um meinen Heimatort, den Platz wo ich hingehöre. Warum nicht da weitermachen, wo man aufgehört hat? Schule anstatt Ausbildung in Ermangelung einer Idee, welcher Beruf mir gefallen könnte. Ersatz eben.
Warum sucht man nach Ersatz? Das fragst du dich jetzt sicherlich. Vielleicht hast du auch schon mal nach einer anderen Möglichkeit gesucht. Anstatt Kaffee trinkt man Tee, gibt’s keinen Rotwein, dann vielleicht einen weißen. Ersatz kann die Abwechslung und die Würze sein, die man sucht, um neuen Schwung in den Alltag zu bringen. Oder aber die Suche nach Ersatz ist der Versuch, eine große Leere, einen schwerwiegenden Verlust auszugleichen, damit die Waage wieder im Gleichgewicht ist. Obwohl die Wut großes Gewicht unter den Emotionen hat, den Verlust der großen Liebe, die einem nur einmal im Leben begegnet, kann sie nicht ersetzen. Stabilität und Ausgewogenheit sind mit die wichtigsten Faktoren im Leben. Ohne schwarz kein weiß, ohne Tag keine Nacht. Jedes Element hat seinen Gegenpol. Es müssen beide spürbar vorhanden sein, um Sicherheit gewährleisten zu können.
Was hast du bei denen gesucht, die dich nicht verehrten, wie es dir gebührte? Womit hast du dich abspeisen lassen? Tee anstatt Kaffee? Du hast doch so oft gemerkt, dass etwas fehlte. Ich weiß ja leider woran das liegt. Mir ist klar, du willst das nicht hören. Ich selbst hab ja schon kaum ein Selbstbewusstsein. Warum siehst du dich selbst ausschließlich durch rußgeschwärztes Glas? Du bist doch… (Du weißt schon, was ich sagen will.)
Ich habe die Idee im Hinterkopf, bei jeder Frau, die mir gut gefällt: Was ist, wenn sie doch nur wieder Ersatz ist?
Eigentlich bräuchte ich gar nicht mehr zu suchen. Noch öfter als bisher, muss ich gar nicht feststellen, wie uninteressant ich als Partner bin. Für lange, tiefschürfende Gespräche über Gott und die Welt durchaus verwendbar. Zu mehr jedoch wohl kaum. In diesem Universum scheine ich lauter Pech mit den Frauen zu haben. Ein Hoch auf alle Paralleluniversen, die es gibt. Die können es nur besser antreffen. Ein bisschen ironisch ist, dass wir vom Schicksal auf die gleiche Art geschlagen worden sind, bei dem was wir lieben. Ist das nicht verrückt? Optimistischer Schwarzseher, der ich bin, vermute ich, es gibt hinter all den verzerrenden Spiegeln, die uns die Sicht geradeaus versperren, einen Weg, auf dem wir beide wieder zusammenfinden. Leider ist er mir in den dreizehn Jahren, die ich dich jetzt kenne, noch nicht begegnet. Ich suche ja auch ganz alleine danach. Ersatz. Die einzige Möglichkeit, einen Funken vom Glück zu erhaschen. Ein winziger Schimmer, halb verdüsterter Hoffnung, kaum der Rede wert. Der kleinste Stern des Universums. Der Rest, der bleibt, wenn man das große Glück schon verspielt hat.
Für mich persönlich habe ich festgestellt, Ersatz ist nicht das Richtige für mich. Ersatz füllt nichts aus. Ich mag keinen Tee. Habe letztens eine Kanne Erdbeertee getrunken, weil nichts anderes mehr da war. Vor allem kein Cappuccino. Ein relativ billiger Tausch, natürlich. Aber für mich muss es schon Kaffee sein. Das heißt nicht, dass der Tee nicht geschmeckt hat. Im Gegenteil, er war sogar recht gut. Ich weiß nur leider, oder Gott sei Dank, je nach Standpunkt, viel zu genau, was ich will. Ich will in die Tiefe bohren, wo andere nur an der Oberfläche kratzen. Mag ja sein, dass deren Fingernägel brechen. Ich will die klare Wahrheit, wo geflunkert wird. Ich will Ozeane anstatt Rinnsalen. Will mich und die Welt bewegen. Mit dem richtigen Löffel kann ein Mann allein ganze Ozeane umrühren. Ich will das Mark des Lebens und die Hintergründe in ausgiebigen Diskussionen erforschen. Ich mag Schweigen, das niemand als schmerzhaft empfindet. Mag laut streiten und brüllen, wenn es sein muss. Ich will die Freiheit zu träumen. Ich alter Geist will die Jugend in meinen Knochen endlich wieder spüren. Ich bin viel zu lange scheintot gewesen. Ich suche eine Prinzessin, die weiß, dass sie eine ist. Denn nur eine echte Prinzessin kann mich wach küssen. Du solltest es wissen, aber du leugnest es zu beharrlich. Deshalb muss ich gehen, darf mich nicht mehr bei dir melden. Die Gefahr eines Rückfalls ist viel zu groß. Angesichts der Unendlichkeit des Universums kann ich mich nicht mit Weniger zufrieden geben. Ich kann keine halben Sachen in Punkto Liebe mehr sehen. Ich lebe lieber ungewöhnlich. Für mich muss es schon Cappuccino sein.
Nachtrag:
Im September 1990 (lange bevor ich die Suche nach Ersatz antrat) lief eine faszinierende neue Fernsehserie bei uns an, und ich begab mich auf die USS Enterprise, NCC 1701D. Eine andere Variante. Dieses Raumschiff bot mir eine weitere Möglichkeit, vor dir, der Liebe und dem ganzen Rest zu fliehen. Mit dem Interesse an der Serie wuchs das Interesse an den Hintergründen und aus der anfänglichen Flucht wurde weit mehr. Die Philosophie der Serie entsprach stark meiner eigenen Herangehensweise an neue Situationen und Menschen. Neugier und Vorsicht, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ganz nach dem Motto: „Was auch immer es sein mag, ob positiv oder negativ, von meinem Gegenüber kann ich nur lernen.“ Ich habe mir meine eigene Hauptdirektive aus dem, was ich wusste und dem was ich lernte, zusammengemischt. Es gibt uns Menschen in unendlicher Vielfalt und unendlichen Variationen. Schon charakterlich könnte jeder einzelne eine „Spezies“ sein. Da wir aber alle auf diesem Planeten leben, müssen wir lernen, diese Welt zu schützen und gut miteinander auszukommen. Diese Serie spricht mir aus dem Herzen. Daher ist Captain JeanLuc Picard, obwohl er eine erfundene Figur ist, gleich nach meinem Vater, mein größtes Vorbild. Nichts ist wichtiger als Menschlichkeit, und man muss sie täglich neu lernen. Was kann einer alleine schon großartiges tun? Ein Computerprogramm entwickeln, Songs schreiben, nach Erdöl bohren, auf einem Geldberg sitzen. Phantastisch! Zum Mars fliegen und künftigen Generationen eine lebenswerte Erde erhalten, das können wir nur gemeinsam, als Menschheit. Ja, ich glühe sogar noch heute vor Begeisterung, wenn ich den Begriff „Star Trek“ höre. Aber auch das musst du wissen, wenn du meine Sicht unserer Geschichte kennen lernen möchtest. Du musst wissen, wie ich ticke und funktioniere. Ich bin eine Supernova der Emotionalität. Ohne Gefühle kein Leben. Das ist halt leider so. Empfindungen, die einem bis auf die Knochen gehen, machen uns erst zu richtigen Menschen. Es fällt mir schwer, diese zuzulassen, vor allem wenn sie abgewiesen werden. Aber ich bin zäh. Und du bist die schönste Frau, die mir jemals begegnet ist. Du bist in meinen Gedanken. Meine Gedanken sind sehr wichtig, denn ich habe gelernt, zu schweigen. Ich habe es gelernt, weil meine Liebe für dich nicht von Bedeutung war. Da ich nicht viel zu sagen habe, schreibe ich umso mehr, denn meine Gedanken sind ständig in Bewegung. Sie kreisen ungefragt, ohne meine Erlaubnis, um das was wäre, wenn ich dich mal wieder anrufen würde. Sie kreisen um dies und das. Alles was sie nicht zu interessieren hat, hält sie in ständiger Rotation.