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2. Neurowahn und Materialismus
ОглавлениеIch denke, daß wir in einigen Jahren in der Lage sein werden, unsere Persönlichkeit auf Computer hochzuladen und sie nach unserem Ableben in virtuellen Welten leben zu lassen. Dann wird unser Bewußtsein nach dem Tod weiterleben.
Kevin O’Regan[15]
Der Kognitionswissenschaftler Kevin O’Regan bezeichnet sich als »Materialisten«. Was heißt das eigentlich? Wenn wir unseren Geist und damit unser Bewusstsein tatsächlich auf einen Computer laden könnten, dann müsste sich unser Geist vollständig mathematisch entschlüsseln lassen. Denn ein Computer macht nichts anderes, als mathematische Symbole zu verarbeiten. Die entscheidende Frage ist, ob sich unser Geist derart speichern und virtuell realisieren lässt.
Die Materialisten glauben an die Möglichkeiten der Naturwissenschaft und behauptet deshalb, dass wir unser geistiges Innenleben theoretisch auf eine Festplatte packen können. Denn nach Ansicht der Materialisten ist der Geist nichts anderes als Materie, die auf eine bestimmte Art und Weise organisiert ist – und wer diese Organisation kennt, kann sie auf einer Festplatte simulieren. Die Naturwissenschaften operieren mit Erklärungen anhand von Zahlen, Formeln und Relationen. Das heißt, die Naturwissenschaftlerin misst und wiegt und vergleicht. Im Jahr 1623 schrieb der Astronom Galileo Galilei:
»Das Buch des Universums ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren; ohne die es dem Menschen unmöglich ist, auch nur ein einziges Wort davon zu verstehen – sie irren in einem dunklen Labyrinth umher.«[16] Die Wendung »Sprache der Mathematik« beschränkt sich nicht nur auf die Schulmathematik; sie bezieht sich, in einem weiten Sinne, auf alle naturwissenschaftlichen Formulierungen, die sich in Funktionen, Relationen, Regeln, Gleichungen und schließlich mathematischen Zahlen und Symbolen ausdrücken lassen. Die These, dass man mithilfe dieser Methode alle möglichen im Universum auftretenden Phänomene erfassen kann, ist der sogenannte »Materialismus«.
Der Begriff des Materialismus ist nicht unproblematisch, da er von verschiedenen Autorinnen mit recht unterschiedlichen Bedeutungen belegt wird. Wenn Materialisten behaupten, dass der Mensch »nichts anderes als Materie« ist und dass »alles in der Wirklichkeit Materie ist«, dann ist diese Aussage zweideutig. Wenn sie zum Ausdruck bringt, dass der Mensch ein Teil der materiellen Welt und daher mit ihr verbunden ist, dann ist sie sicherlich zutreffend. Denn zweifelsohne sind wir Menschen auch materielle Wesen. Und wir bestehen aus den gleichen »Bausteinen« wie der Rest des Universums, seien es Quarks, Atome und, bei Lebewesen, die DNA. Daraus folgt auch, dass die Naturgesetze weder vom Menschen noch von anderen Wesen außer Kraft gesetzt werden können. Wir sind alle ein Teil der materiellen Welt, aber das heißt noch lange nicht, dass wir keinen Geist haben.
Wenn die obige Aussage allerdings zum Ausdruck bringt, dass »die gesamte Wirklichkeit rein materiell ist«, dann ist die Absicht anders gelagert: Dieser »ontologische Materialismus« behauptet, dass sich alle Dinge der Wirklichkeit auf ihre materielle Natur, d.h. auf materielle Eigenschaften reduzieren lassen. Der philosophische Begriff »ontologisch« bezieht sich ganz einfach auf die Art und Weise, wie die Wirklichkeit tatsächlich beschaffen ist. Wenn Goethes Faust die Frage nach dem stellt, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, dann stellt er eine ontologische Frage nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit.
Der Materialismus behauptet also, dass es keine Dinge oder Eigenschaften gibt, die das Materielle in irgendeiner Art und Weise übersteigen: »Alles ist Materie.« Die Naturwissenschaften untersuchen diese Materie – und sie können diese Materie in all ihren Eigenschaften vollständig beschreiben und erklären. In diesem Sinne benutzen die meisten Autorinnen den Ausdruck »Materialismus«. Die grundlegende These können wir so definieren:
Erste Definition des Materialismus: Der Materialismus behauptet, dass sämtliche Eigenschaften und Gesetze des Universums materieller Natur sind und dass uns die naturwissenschaftlichen Methoden den einzigen Zugang zu einem Wissen über diese Eigenschaften und Gesetze gewähren.
Ganz gleich, ob die Entstehung einer Sternengalaxie, die Plattentektonik der Kontinente, die Photosynthese bei Pflanzen, das Flugverhalten von Vögeln oder ob eben das bewusste Erleben erklärt werden soll – der Materialismus geht davon aus, dass sich all diese Phänomene mithilfe von mathematischen Formeln entschlüsseln lassen. Der Materialismus behauptet somit auch, dass sich sämtliche Eigenschaften dessen, was wir Geist nennen, mit naturwissenschaftlichen Methoden beschreiben und erklären lassen. Denn nach Ansicht des Materialisten ist der Geist rein materieller Natur.
Der Unterschied zwischen »beschreiben« und »erklären« ist folgender: Das Flugverhalten von Vögeln beschreibt ein Biologe, indem er mathematische Modelle entwirft: Dabei werden die Flugrouten, die Anzahl der Vögel in einer Gruppe, die tägliche Flugdauer und die Anatomie des Flügelschlags präzise in Zahlen, Diagrammen oder Graphiken wiedergeben. Demgegenüber bietet eine Erklärung stets eine (möglichst begründete) Interpretation: Wenn ein Biologe das Phänomen des Vogelflugs mit dem Phänomen der Kinetik in Verbindung bringt, dann zeigt uns der Forscher, warum ein Vogel in der Luft bleibt und nicht wegen seines Gewichts auf die Erde herabfällt. Wenn ein Naturwissenschaftler etwas erklärt, dann macht er dem unwissenden Laien ersichtlich, wie die Welt funktioniert.
Die Wurzeln des materialistischen Weltbilds reichen zurück bis in die griechische Antike. Während der Philosoph und Mathematiker Pythagoras das Wesen der Welt in Zahlen auszudrücken versucht, die Wirklichkeit aber als ein lebendiges Wesen auffasst, gehen die Atomisten Demokrit und Lukrez einen Schritt weiter: Sie wollen unsere bewussten Erlebnisse auf mechanische Atombewegungen reduzieren und schwenken als erste die materialistische Fahne. Parallel zur Entwicklung der Technik denken sich auch viele Philosophen: »Die Mathematik ist das Eichmaß, mit dem wir die Wirklichkeit beschreiben sollten.« Im Jahre 1450 fordert der Philosoph Nicolaus Cusanus in seinem Traktat Der Laie und die Experimente mit der Waage, dass »alles was messbar ist, gemessen werden soll«. Allerdings handelt es sich hier nur um einen Materialismus im weiteren Sinne: Die mathematisch-naturwissenschaftliche Vorgehensweise bietet eine Möglichkeit, die Eigenschaften der Wirklichkeit zu beschreiben. Sie greift bestimmte mathematische Merkmale der Wirklichkeit heraus, beinhaltet dadurch aber noch keinen ontologischen Materialismus, demzufolge sich die Eigenschaften der Wirklichkeit in diesen mathematischen Merkmalen erschöpfen. Somit sind sich die meisten der oben genannten Denker darüber einig, dass die Eigenschaften des Psychisch-Geistigen jenseits des naturwissenschaftlichen Zugriffs auf die Welt liegen. Der Mensch wird als eine leib-geistige Einheit aufgefasst, so dass die Sprache der Mathematik zwar Regelmäßigkeiten herausgreift, aber weder das gesamte Wesen des Körpers noch das des Geistes vollständig erfassen kann.
Im 17. Jahrhundert der »Wissenschaftlichen Revolution« kommt es zu einer entscheidenden Wende: Denker wie Francis Bacon, René Descartes, Galileo Galilei und Isaac Newton läuten einen Paradigmenwechsel ein, bei dem die Methode der Naturwissenschaften auf eine ontologische Sichtweise ausgeweitet wird: Für die meisten Denker der »Wissenschaftlichen Revolution« ist das Materielle und Körperliche etwas, das sich strikt vom Geistigen trennen lässt. Dadurch wird der Körper vollends zum Gegenstand der Naturwissenschaften.
Bis zur Neuzeit galt die Wirklichkeit (und damit alles, was existiert) als geistig und lebendig. Platon beispielsweise beschreibt die Wirklichkeit im Timaios als »das seiner Natur nach schönste und beste Werk« und als ein »beseeltes und mit Vernunft begabtes Lebewesen«. Diese und vergleichbare Deutungen der Wirklichkeit bilden die vorherrschende Sicht bis zum Beginn der Neuzeit. Die Welt ist vom Lebendigen und Geistigen durchdrungen. Von der gesamten Flora über die Fauna bis hin zum Menschen und schließlich dem gesamten universellen Geschehen lässt sich dieses Prinzip ausmachen. Deshalb war für die griechischen Philosophen der Tod eine ziemlich merkwürdige Angelegenheit. Wenn wirklich alles lebt, warum müssen wir dann sterben? Die antiken Denker haben über den Tod gerätselt. Heute ist es genau umgekehrt: Nicht mehr der Tod ist (in einer lebendigen Wirklichkeit) problematisch und erklärungswürdig, sondern das Leben (in einer unbelebten Wirklichkeit). Früher galt: Alles ist belebt. Heute gilt: Alles ist mechanisch und materiell.
Die Folge: Der Tod ist zum »natürlichen« Zustand der Dinge geworden, denn wo kein Leben ist, da finden wir bloß tote Materie – und die lässt sich dem Materialismus zufolge lückenlos beschreiben und erklären. Wie aber aus dieser toten Materie ein lebendiger Organismus hervorgehen kann, ist ein großes Rätsel der zeitgenössischen Wissenschaft. Dadurch ist ziemlich klar, weshalb sich die Wissenschaften derzeit anschicken, das Wesen des Lebens und des Geistes auf seine materiellen Eigenschaften zu reduzieren: Denn die qualitativen Eigenschaften der Wirklichkeit, die im geistdurchwirkten Lebewesen am deutlichsten zum Ausdruck kommen, vertragen sich nicht mit einem Bild der Wirklichkeit, das rein materielle Eigenschaften aufweist: In einer Welt der toten Materie sind wir Biomaschinen und damit »nichts weiter als ein Haufen Neuronen«. Der Materialist behauptet, dass unsere Gefühle und Träume ein paar elektrische und chemische Signale sind, die unser Gehirn verarbeitet. Diese Gefühle und Träume sind nichts Besonderes – sie sind genauso materiell und mechanisch wie ein Auto und sein Benzinmotor.
»Alles Messbare soll gemessen werden« – während Cusanus noch den Gesetzmäßigkeiten einer geistdurchdrungenen Wirklichkeit auf den Grund gehen wollte, ist die logische Konsequenz des Materialismus, dass alles messbar sein muss und dass diese Messungen alles erklären, was einer Erklärung bedarf: In einer Welt des rein Materiellen ist kein Platz für die Anomalien des Lebendigen und Geistigen. So verwundert es nicht, dass Vulgär-Materialisten wie der Mediziner Carl Vogt Mitte des 19. Jahrhunderts schreiben:
»Ein jeder Naturforscher wird wohl, denke ich, bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht kommen: daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelenthätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken: daß die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren.«[17]
Für Hardcore-Materialisten steht fest: Philosophische Untersuchungen sind ungeeignet, das Wesen der Wirklichkeit zu beschreiben oder zu erklären. David Hume, der den Mechanismus von Isaac Newton auf die Philosophie zu übertragen versuchte, war der Ansicht, »daß die einzigen Gegenstände der abstrakten Wissenschaften oder der Demonstration Größe und Zahl sind, und daß alle Versuche, diese vollkommeneren Wissensarten über diese Grenzen hinaus zu erstrecken, nur Blendwerk und Täuschung bedeuten«, weshalb man all diese Versuche den Flammen übergeben sollte.[18] Größe und Zahl sind diejenigen formalen Mittel, derer sich die naturwissenschaftliche Methode bedient. Philosophie? Braucht niemand! Denn die Philosophie beruht auf Argumenten, die sich naturwissenschaftlich nicht beweisen lassen. Das Handwerk der Philosophie ist bloß wichtigtuerisches Blendwerk. Die Methoden der Naturwissenschaften bieten demnach die einzigen Entscheidungskriterien darüber, was existiert. Das Credo des US-amerikanischen Philosophen Wilfrid Sellars gibt diesen Anspruch treffend wieder: »Wenn es um die Beschreibung und Erklärung der Welt geht, sind die Naturwissenschaften das Maß aller Dinge.«[19]
Für die Materialisten existieren also nur diejenigen Dinge, die in der konkreten Raum-Zeit eine konkrete materielle Manifestation aufweisen. Eine Bowlingkugel beispielsweise hat mathematisch exakt beschreibbare Eigenschaften, sie hat ein bestimmtes Gewicht und eine räumliche Ausdehnung. Und aufgrund ihres Gewichts und ihrer Ausdehnung ist sie empirisch nachweisbar vorhanden, während geistige Eigenschaften aus dem Netz dieser Methode herausfallen. Bowlingkugeln kann man anfassen und wiegen – den menschlichen Geist nicht.
Die Qualität von Farben, Gerüchen und Tönen ist bloßes Zahlenwerk. Die Farbe einer Rose kann der Forscher durch eine naturwissenschaftliche Spektralanalyse des Lichts und der molekularen Beschaffenheit der Rose lückenlos durch mathematische Gleichungen wiedergeben. Alle bunten Qualitäten sind auf graue mechanische Quantitäten reduzierbar.
Ob die Forscherin etwas mit den Methoden der Physik, Chemie, Biologie oder der Neurowissenschaften untersucht, spielt eine untergeordnete Rolle. Der Begriff des Materialismus bezieht sich auf die Gesamtheit der naturwissenschaftlichen Methoden, da sie sich alle aus dem Handwerkskasten der Mathematik bedienen. Hier könnte man stutzig werden: Zahlen und Formeln standen zwar in unseren Physik-Schulbüchern, aber in unseren Bio-Wälzern schlängelten sich keine mathematischen Zahlenkolonnen. Stimmt, viele biologische Theorien sind näher an der Philosophie, als ihren Urhebern vielleicht lieb ist. Die Evolutionstheorie Darwins zum Beispiel bietet viel Spielraum für Interpretation und Diskussion. Deshalb versuchen einige Hardcore-Materialisten, die Evolutionstheorie auf den sicheren Sockel der Mathematik zu heben. Sie wollen die Entstehung und die besonderen Eigenschaften der Lebewesen mit mathematischen Modellen und komplexen Programmiersprachen erklären. Das perfekte Bio-Buch wäre demnach kein Lesevergnügen, sondern ein Computerprogramm mit zahlreichen Einsen und Nullen.
Materialisten teilen also die Überzeugung, dass alle Dinge des Universums ontologisch so beschaffen sind, dass sich ihre Eigenschaften im rein Materiellen erschöpfen. Alles ist Materie. Ende der Geschichte. Philosophiestudenten brauchen gar nicht erst anzufangen, über die Welt nachzudenken und wilde Theorien zu entwickeln. Stattdessen sollten sie Physik, Chemie oder Biologie studieren, um die Welt zu begreifen. Der Geist ist eine Illusion. Doch was bedeutet es, wenn der Materialist behauptet, dass sich die Eigenschaften der Wirklichkeit auf »materielle« Eigenschaften reduzieren, also zurückführen lassen?