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4. Die Landkarte ist nicht das Gelände

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Where is My Mind?

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Mit gesundem Alltagsverstand kann man gegen die oben vorgeschlagene Definition des Materialismus einwenden, dass sie allzu abstrakt sei: Die Massigkeit einer Bowlingkugel etwa ist zwar eine physikalische Größe, deshalb geht sie aber nicht in der abstrakten Sprache der Mathematik auf. Die Bowlingkugel ist schließlich hart und schwer, eine mathematische Gleichung aber nicht. Solche Betrachtungen laufen jedoch der rein objektiven Perspektive des Materialismus zuwider, denn wenn ich die Schwere der Kugel fühle, dann tue ich das immer von einer subjektiven Perspektive aus. Anders formuliert: Wenn ich die Bowlingkugel in meiner Hand fühle, dann ist die Welt meines Geistes schon involviert.


Um die Methodik, die die naturwissenschaftliche Vorgehensweise und damit das materialistische Weltbild auszeichnet, besser zu verstehen, mag das folgende Beispiel hilfreich sein: Stellen wir einer Naturwissenschaftlerin mal die Frage, was Kaffee ist? Die Botanikerin wird vielleicht antworten: Die Kaffeebohnen gewinnt man aus den Steinfrüchten der Rötegewächse (Rubiaceae), umgangssprachlich auch Kaffeegewächs genannt. Am häufigsten trinken die Menschen die Frucht der bis zu acht Meter hohen Kaffeepflanze Coffea arabica. Aha. Und was ist nun Kaffee?


Fragen wir eine Chemikerin. Die wird uns vielleicht antworten: Eine Kaffee-Bohne ist zwar klein, aber in chemischer Hinsicht ziemlich komplex. Die Bohne besteht zu 30 bis 40 Prozent aus Kohlenhydraten, zu 10 bis 15 Prozent aus Wasser, zu ebenso viel Prozent aus Fettstoffen, zu 10 Prozent aus Eiweißen, zu 5 Prozent aus Säure, zu 4 Prozent aus Mineralstoffen und zu 0,8 bis 2,3 Prozent aus Koffein. Außerdem besteht sie zu 0,1 Prozent aus Aromastoffen, was für ein Lebensmittel ganz schön viel ist. Bei den Aromastoffen gibt es über 250 verschiedene chemische Verbindungen. Wenn man den Kaffee röstet, steigt diese Zahl auf 800. Fast die Hälfte dieser flüchtigen Verbindungen haben wir noch nicht entschlüsselt. Aber die chemische Formel für Koffein kann ich Ihnen genau nennen: C8H10N4O2.


Zugegeben: eine Menge Zahlen. Doch gerade solche Zahlen sind es, die der Materialist am Ende aller Tage in sein Notizbüchlein eintragen möchte, um unsere Welt zu beschreiben. Handelt es sich bei diesen Zahlen um Eigenschaften, die den Kaffee eindeutig in seinem einmaligen Wesen beschreiben? Es steht außer Frage, dass die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse eindeutig und mathematisch exakt formulierbar sind. Gleichwohl wissen wir nicht wirklich, was den Kaffee in all seinen für uns vertrauten Eigenschaften ausmacht: Was ist Kaffee? Wie lässt sich eine exakte Definition und Beschreibung seines gesamten Wesens geben?


Mehr als Zahlen und Formeln können uns die Naturwissenschaftler nicht geben. Alfred Korzybskis bekannter Ausspruch: »Die Landkarte ist nicht das Gelände« bringt die Misere des Materialismus auf den Punkt..[22] Die abstrakte Kartographie der Materie sagt nichts darüber aus, wie die konkrete Landschaft der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Geschmack von Kaffee kann (und darf) in einem Physik-Buch nicht vorkommen.


Wenn uns ein Marsmensch fragt, was Kaffee ist, dann würden wir ihm wohl erst einmal sagen: »Das ist ein leckeres Getränk, das man meistens heiß oder warm trinkt. Es schmeckt etwas bitterlich und säuerlich, weshalb manche etwas süßen Zucker oder Milch hinzugeben. Wenn man zu viel Koffein zu sich nimmt, kann es passieren, dass man sich hellwach, etwas nervös und angespannt fühlt.« Mit diesen Zeilen, die niemals in einem materialistischen Notizbuch stehen dürften, sind wir dem Wesen des Kaffees schon etwas mehr auf die Schliche gekommen. Es ergibt ja durchaus Sinn, dass wir morgens nicht die Inhaltsstoffe des Kaffees studieren, um dadurch seinen Geschmack auf der Zunge zu spüren. Das wird nicht funktionieren. Wir trinken den Kaffee. Nur so erleben wir seinen Geschmack und wissen: Das ist Kaffee.


Auch andere naturwissenschaftliche Erklärungen bieten uns lediglich Zahlenspiele: Was ist ein Atom? Ein Atom besteht aus einem positiv geladenen Atomkern und negativ geladenen Elektronen, die um diesen Kern schwirren. Mit dieser Antwort haben wir das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben. Denn nun stellt sich die Frage, was denn ein Elektron an sich ist. Auch hier ist die Antwort mathematisch: Ein Elektron hat eine Ruhemasse von ungefähr 9,1093 ∙ 10–31 Kilogramm, einen Spin von ½ und eine Ladung von –1 e. Ganz gleich, wie tief man die Skala des Mikrokosmos hinabsteigt, man wird stets nur mathematische Relationen ermitteln.


Die träge Masse mt eines Körpers definiert eine Physikerin beispielsweise so, dass sie das Maß für den Widerstand (Trägheit) angibt, den ein Körper einer Änderung seines Bewegungszustandes entgegensetzt. Die Formel F = mt ∙ a gibt ebendiese benötigte Kraft an. Doch wie alle anderen physikalischen Formeln auch vermag sie nichts über das Wesen materieller Dinge auszusagen: Man kann die Trägheit von Masse bestimmen und weiß dennoch nichts von der gefühlten »Massigkeit« und »Schwere« einer Bowlingkugel, wenn man sie emporhebt. Man kann die Wellenlängen des Lichts berechnen und weiß dennoch nichts über die Erlebnisse beim Anblick eines bunten Gemäldes von Picasso. Allein die Tatsache, dass ein Eisblock ein Eigengewicht hat und den Gesetzen der Gravitation unterliegt, ist durch den Materialismus lediglich beschreibbar, nicht aber erklärbar. Denn alle Versuche, das Wesen der Masse zu bestimmen – sei es durch Gleichungen wie E = mc2, Berechnungen über die Krümmung der Raum-Zeit oder das »Gottes«-Higgs-Teilchen – können den tragenden Grund für Gravitation und Massigkeit nicht erfassen. Die Fragen nach dem Wesen und der tragenden Ursache für diese Eigenschaften bleiben demnach unbeantwortet. Die Fragen, weshalb es Gravitation gibt und was Massigkeit an sich ist, übersteigen also das Erklärungsspektrum der Naturwissenschaften. Auch andere physikalische Messkategorien, wie zum Beispiel Geschwindigkeit, Dichte, elektrische Ladung, Volumen oder Temperatur, orientieren sich an diesem Raster.


Allen naturwissenschaftlichen Beschreibungen liegt das Muster »wenn-dann« zugrunde: Wenn A der Fall ist, dann ist B der Fall. Diese Methode eignet sich bestens, um Relationen aufzuzeigen, also kausale Beziehungen à la Ursache-Wirkung. Aber sie erklärt nicht, warum es diese Phänomene überhaupt gibt und was ihren Charakter, also ihre qualitativen Eigenschaften ausmacht.


Der Materialismus fragt nicht danach, was bestimmte Dinge sind oder weshalb sie existieren, vielmehr fragt er einzig danach, wie sich solche Dinge verhalten und wie sie in Relation zueinander stehen. Auch der Physiker Stephen Hawking, der sich selbst dem materialistischen Denken zurechnet, hebt deutlich die Grenzen seiner eigenen Position hervor: »Eine wissenschaftliche Theorie [ist] ein mathematisches Modell, das unsere Beobachtungen beschreibt und kodifiziert.« Und weiter: Es »lässt sich jedoch nicht bestimmen, was real ist. Wir können lediglich nach den mathematischen Modellen suchen, die das Universum beschreiben, in dem wir leben.«[23]


Über die objektivierenden Naturwissenschaften erlangen wir demnach keinen Zugang zum Wesen der materiellen Dinge. Wir aber haben »Gucklöcher« in die Materie. Denn wir erleben die Materie und unseren Körper und stehen deshalb in unmittelbarer Bekanntschaft zu ihrem Wesen. Genauer gesagt sind wir dabei selbst die Gucklöcher zur Materie.


Es gibt derzeit immer mehr Materialisten, die in seltsamen Allwissenheitsphantasien schweben. So geht der Physiker Edward Fredkin davon aus, dass das gesamte Universum nichts weiter als ein riesiger Automat ist, dessen Eigenschaften sich mithilfe eines Computerprogramms vollständig wiedergeben lassen.[24] Ein klassischer Fall, bei dem jemand die Landkarte mit dem Gelände verwechselt: Die Wirklichkeit hat zwar auch Eigenschaften, die sich mit Computern, Zahlen und Codes wiedergeben lassen, aber die Wirklichkeit erschöpft sich nicht in solchen abstrakten Mustern. Das Universum ist kein Computer.


Das erste Problem besteht darin, dass Computer keine Bedeutung kennen. Beispiel: Ein Kapitän ist über seinen Matrosen erzürnt, weil dieser oft betrunken ist. Als der Matrose mal wieder zu tief ins Glas geschaut hat, schreibt der Kapitän ins Logbuch: »Heute, 23. März, ist der Matrose betrunken.« Der Matrose ist sich der drohenden Strafe nach Beendigung der Reise bewusst und sinnt auf Rache. Einige Tage später schreibt er deshalb ins Logbuch: »Heute, 27. März, ist der Kapitän nicht betrunken.« Der Matrose hat auf subtile Weise Rache geübt, ohne sich dabei weitere Disziplinarstrafen einzuhandeln, denn er schreibt ja nichts als die Wahrheit: Der Kapitän ist in der Tat nüchtern. Gleichwohl werden im Logbuch nur erwähnenswerte Dinge festgehalten, so dass die Implikatur folgendes nahe legt: Der 27. März war ein besonderer Tag, weil der sonst trinkfreudige Kapitän ausnahmsweise mal nicht betrunken war. Ein Computerprogramm könnte den Eintrag höchstens insofern »verstehen«, als dass es weiß, dass der Kapitän am 27. März nüchtern war. Doch es ist äußerst fraglich, ob das Computerprogramm die »wahre« Bedeutung begreifen kann – schon für einen Menschen bedeutet es einen gewissen kognitiven Aufwand, die Gewitztheit des Matrosen zu erkennen. Ein Computerprogramm simuliert lediglich Bewusstsein, aber es hat keins – wie auch die Simulation einer Explosion keine richtige Explosion ist.


Der naturwissenschaftliche Erkenntnisbereich beschränkt sich demnach auf bloße Relationen, sprich, auf mathematische Informationen. Was ist eine »Information«? Eine Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht, so die mittlerweile klassische (und etwas verwirrende) Definition von Gregory Bateson.[25] Vergleichbar mit dem Aufbau eines Morsealphabets zeichnet sich die einfachste Form einer Information durch binäre Befehlszeilen aus: Wie bei einem Münzwurf gibt es »Kopf« oder »Zahl«, ein binäres System bestehend aus »ja« oder »nein«. Auf diesem binären Grundmuster beruht folglich das naturwissenschaftliche Wissen: Entweder sind zwei zu untersuchende Dinge gleich oder sie unterscheiden sich. Ein solcher Unterschied wiederum lässt sich mithilfe der Mathematik exakt festhalten und beschreiben. Für qualitative Eigenschaften ist in einer Welt der bloßen Relationen kein Platz. Töne, Gerüche und Farben sind allerdings mehr als reines Zahlenspiel. Ein konsequenter Materialist müsste die Songs der Beatles auf Druck- und Dichteschwankungen akustischer Schallwellen reduzieren, Picassos Gemälde einer Spektralanalyse unterziehen und Kaffee auf seine chemischen Bestandteile hin untersuchen, wollte er ihre sämtlichen Qualitäten einfangen. Diese Methode kann zweifelsohne viele Tatsachen über unsere Welt aufhellen, doch das Phänomen bewusster Erlebnisse kann sie nicht erklären.

Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein

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