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5. Baron Münchhausen

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Ein andres Mal wollte ich über einen Morast setzen […] und fiel nicht weit vom andern Ufer bis an den Hals in den Morast. Hier hätte ich unfehlbar umkommen müssen, wenn nicht die Stärke meines eigenen Armes mich an meinem eigenen Haarzopfe, samt dem Pferde, welches ich fest zwischen meine Knie schloß, wieder herausgezogen hätte.

Gottfried A. Bürger: Münchhausen[26]


Hardcore-Materialisten behaupten, dass sie ihre Erkenntnisse einzig und allein durch die Methode der objektiven Naturwissenschaften gewinnen. Damit stehen sie dem berühmten Baron von Münchhausen in nichts nach, wenn dieser behauptet, dass er sich am eigenen Haarschopf aus einem Sumpf ziehen kann. Der Baron braucht einen Bezugspunkt außerhalb des Sumpfs, denn nur so kann er Halt finden und sich aus seiner misslichen Lage befreien. Auf vergleichbare Weise benötigt der Materialist eine subjektive Erlebnisperspektive, um überhaupt einen Zugang zur Welt zu haben. Wenn der Materialist im Sumpf der reinen Objektivität verharrt, kann er gar keine Beschreibungen über die Wirklichkeit anstellen – denn dafür muss er stets auf seine (subjektiven) Erlebnisse zurückgreifen.


Nehmen wir ein Beispiel aus der Philosophiegeschichte: In seinem 1921 veröffentlichten Tractatus behauptet der Philosoph Ludwig Wittgenstein: »Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft.«[27] Wittgenstein geht davon aus, dass diese Überzeugung eine wahre Behauptung ist: Nur naturwissenschaftliche Sätze sind wahre Sätze. Gleichwohl ist diese Überzeugung selbst, die doch wahr sein soll, keine naturwissenschaftliche Aussage und somit auch nicht wahr. Der von Wittgenstein angestrebte Reduktionismus ist in sich widersprüchlich: Wenn nach dieser Überzeugung einzig und allein naturwissenschaftliche Sätze wahr sind, dann kann ebendiese Überzeugung nicht wahr sein, da sie selbst kein naturwissenschaftlicher Satz ist. Die Überzeugung Wittgensteins ist nämlich ein philosophischer Satz, weil er die Methodik der Naturwissenschaften übersteigt. Kein naturwissenschaftliches Experiment der Welt wird diesen Satz zu seinem Messergebnis haben. Nur ein denkender Mensch kann ihn formulieren; und somit scheitert der Reduktionismus schon im Ansatz an seinen eigenen Grenzen.


Dieses Beispiel deutet an, dass sich Reduktionisten jeglicher Couleur von ihrem eigenen Denken nicht ausnehmen können. Tun sie es dennoch, dann fehlt ihnen wie schon dem Baron ein Halt, ein Bezugspunkt, durch den sie sich selbst und die Welt überhaupt erst erfahren und begreifen können. Das Beispiel Wittgensteins bezieht sich auf die philosophische Theorie, doch was geschieht in der naturwissenschaftlichen Praxis? Die Vertreter des Materialismus tendieren dazu, sich und ihre Arbeit zu vergessen.


Um dieses Problem etwas zu veranschaulichen, können wir für einen kurzen Augenblick einer Neurowissenschaftlerin bei der täglichen Arbeit zusehen. Nehmen wir an, die Neurowissenschaftlerin möchte dem Phänomen der »Arachnophobie« (der Furcht vor Spinnen) auf den Grund gehen. Was wird sie machen?


Unsere Neurowissenschaftlerin liest in einem Fachartikel über ungelöste Probleme der Arachnophobie oder sie beobachtet zufällig einige Regelmäßigkeiten oder Kontraste bei einer Kernspintomographie. Sie überlegt, wie sie diese Phänomene erklären kann, schließt andere Erklärungen aus, stellt eine Arbeitshypothese auf und entwirft anschließend ein Experiment. Dabei überlegt die Wissenschaftlerin, ob sie lebendige Spinnen oder lediglich Fotos einsetzen sollte. Anschließend grübelt unsere Forscherin, wie sie um passende Probanden und finanzielle Fördermittel werben kann. Hat sie diese Hürde genommen, geht es mit der Arbeit los. Die ersten Testversuche misslingen vielleicht, und weil sie den Fehler nicht findet, geht sie nach der »Trial-and-Error-Methode« vor und experimentiert solange herum, bis sie einen Treffer landet. Anschließend verwirft sie ihre ursprüngliche Hypothese und die Anordnung des Experiments. Durch diesen Schritt bestätigen sich bei mehrfacher Wiederholung die Hypothesen, so dass unsere Forscherin die Messdaten säuberlich abliest und anschließend interpretiert; vielleicht erweitert sie ihre Daten zu einer neuen Theorie über alle bekannten Phobien und verwirft die Thesen eines berühmten Kollegen. Voller Tatendrang publiziert sie ihre Ergebnisse in bekannten Fachzeitschriften und auf der nächsten Konferenz wirft ihr der Kollege vor, dass sie nicht erklären könne, weshalb einige Kulturkreise (die Ureinwohner des tropischen Regenwaldes in Brasilien) die Furcht vor Spinnen nicht kennen. Die beiden Forscher liefern sich einen erbitterten Streit und kehren anschließend in ihre Labore zurück, um eine endgültige Erklärung für die Spinnenfurcht zu finden.


Das ist zugegebenermaßen eine recht lange Liste, und doch gibt sie nur eine Ahnung der dahinterstehenden Mühen der Naturwissenschaftlerin bei ihrer alltäglichen Arbeit – und das Stichwort der »Mühen« bringt uns zur richtigen Fragestellung: Wie kann all dies ohne das geistige Innenleben unserer Forscherin möglich sein? Unsere Neurowissenschaftlerin tritt mit einer bestimmten Fragestellung an ihre Untersuchungen heran, sie hat ein deutliches Ziel vor Augen, und sie kalibriert die Messgeräte, liest die Daten ab und interpretiert sie. Außerdem muss sie zumindest ahnen, wie sich die Furcht vor Spinnen anfühlt, um überhaupt die Fragestellung ihrer eigenen Forschungsarbeiten zu verstehen.


Sowohl die materialistischen Thesen als auch die Forschungen des Neurowissenschaftlers sind ohne denkende und ihre Umwelt erfahrende Menschen unmöglich. Demzufolge können weder der Materialist noch der Naturwissenschaftler ihre eigenen Voraussetzungen erklären. Versuchen sie dennoch, ihre eigenen Zwecksetzungen zu leugnen, so verheddern sie sich sofort in Widersprüche, wie der Philosoph Alfred N. Whitehead ironisch hervorhebt:


»So mancher Wissenschaftler hat mit viel Geduld und Scharfsinn Experimente konstruiert, deren Zweck die Bestätigung seiner Überzeugung war, daß tierisches Verhalten nicht durch Zwecke gelenkt wird. […] Ich finde, Wissenschaftler, deren Lebenszweck in dem Nachweis besteht, daß sie zwecklose Wesen sind, sind ein hochinteressanter Untersuchungsgegenstand.«[28]


Jeder noch so kleine wissenschaftliche Versuch ist schon von einem Wissenschaftler abhängig, der durch diesen Versuch einen bestimmten Zweck anstrebt. Wer diesen Aspekt ausklammert, betreibt eine schizophrene Wissenschaft. Jede Form der Wissenschaft ist das Produkt eines denkenden Geistes. Sprich, die Wahrheit einer Theorie – und damit auch die Wahrheit des Materialismus – muss sich in der Selbstanwendung bewähren.


An dieser Stelle können wir festhalten, dass die Wissenschaft die Bedingungen ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis nicht erklären kann, da das erkennende Subjekt systematisch ausgeblendet wird. Die Spinnenfurcht kann sich schließlich nicht selbst untersuchen. Ebenso wenig kann ein Haufen Neuronen eine Theorie über sich selbst formulieren. Unser Bewusstsein ist nicht primär ein Untersuchungsgegenstand der Naturwissenschaft, sondern eine Voraussetzung derselben. Eine objektive Wissenschaft kann es also nur dann geben, wenn es einen subjektiven (menschlichen) Zugang zur Wirklichkeit gibt, der überhaupt erst ein Objekt erkennbar macht. Ohne einen Bezugspunkt gelangen weder der Baron von Münchhausen noch der Materialist an ein sicheres Ufer. Doch der materialistisch orientierte Naturwissenschaftler blendet nicht nur seine eigene Subjektivität ab: Der objektiven Perspektive verpflichtet, ist es ihm auch nicht möglich, die subjektive Erlebnisperspektive des »Anderen« zu erfassen. Der Blickwinkel seines Gegenübers bleibt ihm prinzipiell verschlossen.

Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein

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