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3. Was ist Materie?

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Ergebnis meiner Überlegungen. Erstens: Mathematik ist die Sprache der Natur. Zweitens: Alles um uns herum lässt sich durch Zahlen wiedergeben und verstehen.

Darren Aronofksy: Pi[20]


In der gesamten Wirklichkeit existieren einzig und allein Dinge mit materiellen Eigenschaften – so der Materialist. Demzufolge musste Gott bei der Erschaffung der Welt keine weitere Arbeit verrichten, nachdem er die fundamentalen materiellen Eigenschaften in die Welt gebracht hatte, denn mit der Schöpfung der materiellen Eigenschaften hat er alle Tatsachen und Gesetze geformt, die wir in der realen Welt antreffen. (Klarerweise ist Gott hier ein theoretischer Lückenfüller, um das Argument zu veranschaulichen. Für das vorliegende Buch und die Theorie des Panpsychismus ist es völlig irrelevant, ob Gott existiert oder nicht.)


Was aber sind diese materiellen Eigenschaften, von denen bislang die Rede war? Worauf bezieht sich der Begriff »das Materielle«? Zunächst einmal stammt der Begriff »Materie« vom lateinischen Wort »materia« ab, das so viel bedeutet wie Bauholz, Material und Stoff. Materie ist räumlich ausgedehnt und stofflich greifbar. Alles, was wir unter einem Mikroskop oder mit einem Teleskop beobachten können, ist Teil der materiellen Welt. Die Materie wirkt dabei auch in Form von Kräften wie der Erdanziehungskraft oder der elektromagnetischen Strahlung. Eine exaktere Definition der Materie sieht sich stets »Hempels Dilemma« ausgesetzt, benannt nach dem Philosophen Carl Gustav Hempel. Der Materialist hat zwei Möglichkeiten, das Materielle zu definieren:


(1) Definiert er es entsprechend dem Kenntnisstand der gegenwärtigen Physik, so muss seine Definition zwangsläufig unvollständig sein, da die gegenwärtige Physik bislang keine lückenlose Beschreibung aller im Universum auftretenden Phänomene liefert. Außerdem kann sich die gegenwärtige Physik (teilweise) als falsch erweisen, denn es kann jederzeit – wie im Fall der Relativitätstheorie von Albert Einstein – zu einem gravierenden Paradigmenwechsel kommen, der unser derzeitiges Verständnis der Materie entscheidend verändert.


(2) Verweist der Materialist auf eine zukünftige vollständige Physik, die einer »Weltformel« gleichkommt, so ist seine Definition nichtssagend, da er sie nicht näher erläutern kann. Denn er beruft er sich auf eine Physik, die derzeit schlichtweg nicht existiert und von der wir nicht im Geringsten wissen, welche Form sie annehmen kann. Seine Theorie wird also so lange nichtssagend bleiben, bis eindeutige Bedingungen gegeben sind, die klären, was überhaupt »materiell« bedeutet.[21]


Das ist ein echtes Geraffel, denn der Materialist sieht sich bei beiden Möglichkeiten einem Dilemma gegenübergestellt: Er kann nicht klären, was Materie ist. Zugleich behauptet er, dass sämtliche Phänomene der Welt, und damit auch die reichhaltige Welt des Geistes, auf rein materiellen Eigenschaften basieren. Damit versucht der Materialist ein Kartenhaus zu errichten, indem er die Spitze zuerst baut. Dieses Kartenhaus ist nicht nur labil, sondern unmöglich zu errichten, denn ein Kartenhaus muss eine fundamentale Grundlage haben. Gegenwärtig fehlt dieses tragende Fundament, so dass die Theorie des Materialismus wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Wer zu Beginn seiner Arbeiten nicht klärt, was das Materielle ist, der kann am Ende nicht mit einem Taschenspielertrick behaupten, dass alles rein materiell und damit das Leib-Seele-Problem gelöst sei.


Das Problem ist also keineswegs nebensächlich, sondern ein von den Materialisten meist unbeachtetes Dilemma: Wir können das Leib-Seele-Problem nur dann sauber formulieren, wenn wir genau sagen können, was der materielle Körper ist und was der Geist ist. Andernfalls hat das Leib-Seele-Problem keine konkrete Fragestellung zu bieten.


Und hier wird es tricky: Schon die bloße Existenz der Materie ist schlichtweg rätselhaft. Bei der Entwicklung des Universums kamen auf 1.000.000.000 Antiteilchen 1.000.000.001 Materieteilchen. Die gesamte Materie wurde beim Aufeinandertreffen dieser Teilchen vernichtet – bis auf jenen winzigen Bruchteil, der die Existenz der Sonne, der Erde und unseres Lebens ermöglicht. Die Zahnbürste, die Sie morgens in der Hand halten, ist der winzige Rest dieser gigantischen Vernichtung von Materie. Warum gab es dieses Ungleichgewicht? Weshalb hat sich das Sein gegenüber dem Nichtsein »ins Recht gesetzt«? Ist unsere Existenz ein kosmischer Glücksfall? All das sind offene Fragen der Wissenschaft.


Erwähnenswert ist auch, dass es gegenwärtig zu einer rasanten Zunahme der postulierten fundamentalen Dinge und Eigenschaften kommt – man denke etwa an die »Dunkle Materie«, die »Dunkle Energie« und die »Higgs-Teilchen« –, so dass sich die zeitgenössische Physik geradezu verkompliziert. Je tiefer die Forscher in die Materie eintauchen, desto unklarer ist, was da eigentlich vor ihnen liegt. Über 70 Prozent der Masse und Energie des Universums müssen erst noch entdeckt und gemessen werden! Die uns vertraute Materie macht lediglich 5 Prozent des Universums aus, der Rest setzt sich aus ungefähr 25 Prozent dunkler Materie und 70 Prozent unbekannter dunkler Energie zusammen. Vielleicht unterscheiden sich die 70 Prozent grundlegend von den uns (ebenso nur lückenhaft) bekannten 5 Prozent? Die derzeitige Physik ist unvollständig, und daher bleibt unklar, was das Materielle ist. Wenn Ihnen also ein Hirnforscher weismachen will, dass Sie nichts weiter als ein Haufen Neuronen sind, dann fragen Sie ihn einfach: »Aha, und was bitte sind diese Neuronen? Und vor allem: Wie sieht es im Inneren dieser Materie aus?«


Was soll der Materialist angesichts dieses Dilemmas tun? An dieser Stelle möchte ich eine neue Definition des Materialismus vorschlagen. Wenn sich nicht eindeutig festmachen lässt, was das Materielle ist, so lässt sich vielleicht definieren, welche Eigenschaften etwas hat oder haben muss, damit wir es »materiell« nennen können. Damit spielen wir den Materialisten natürlich ein wenig in die Hand. Aber irgendetwas stört uns ja an der Aussage, dass wir bloß ein materieller Haufen Neuronen sind. Anhand der oben genannten Thesen des Materialismus können wir ablesen, dass etwas dann materiell ist, wenn es in der Sprache der Mathematik greifbar ist.


Zweite Definition des Materialismus: Der Materialismus behauptet, dass sich sämtliche Ereignisse, die zu einer beliebigen Zeit an einem beliebigen Ort im Universum auftreten, in all ihren Eigenschaften vollständig in der Sprache der Mathematik beschreiben und erklären lassen.


Diese Definition gilt für den Idealfall: Die meisten Physiker sind beispielsweise davon überzeugt, dass quantenmechanische Prozesse zwar vollkommen materiell sind, heben aber gleichzeitig hervor, dass sich bestimmte Eigenschaften (bis heute) nicht mathematisieren lassen. Doch erstens ist die versuchte Mathematisierung geradezu ein Fingerzeig dafür, dass Naturwissenschaftler nur solche Dinge und Eigenschaften akzeptieren, die in der Sprache der Mathematik greifbar sind. Zweitens sind die meisten Physiker davon überzeugt, dass sich die besagten Phänomene theoretisch mathematisieren lassen. Drittens gibt es auch schon in der Quantenmechanik mathematische Modelle, die eine exakte Beschreibung der Phänomene anstreben. Zusammenfassend lässt sich über die hier mitschwingende Absicht sagen, dass eine »Weltformel« keinen Nutzen hat, solange man sie nicht präzise in der Sprache der Mathematik formuliert. Für eine Philosophie wäre demzufolge wenig Platz; dass sie dennoch vonnöten ist, soll die folgende Diskussion zeigen:

Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein

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