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Der Alte

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Als meine Mutter noch ein Mädel und sechzehnjährig war, diente sie in ihrem Heimatdorfe bei einem Kleinbauern als Magd. Sie musste sehr fleißig sein und hatte mehr als manche Großmagd des Ortes zu tun. Nach der Ernte jedoch begann für sie eine stille Zeit, da sie an schönen Tagen nachmittags die Kühe zur Weide treiben und sich, wenn ihre kleine Herde folgsam war, ausruhen durfte. Der Wiesengrund, auf dem sie die Freuden der Freiheit auskostete, lag zwischen den Dörfern Mogwitz und Waltdorf in einer oberschlesischen Flachlandschaft.

Von der Bäuerin war ihr verboten worden, beim Hüten zu singen, damit sie nicht vom alten, närrischen Mann bedroht werde. Sie versprach, zu gehorchen, ließ sich jedoch durch ihre Liederlust verleiten, wortbrüchig zu werden. Vor dem alten närrischen Manne war sie auch von erfahrenen Freundinnen gewarnt worden. Er war ihr nie zu Gesicht gekommen, doch sie hatte gehört, dass er fremd in der Gegen sei, verwildert aussehe und sich oft in schlimmer Absicht auf den Feldern umhertreibe. Die Freundinnen wussten genau, was er im Schilde führte, und sie erzählten Geschichten von Mädchen und jungen Frauen, an die er sich herangeschlichen hatte, um sie durch sonderbare Redensarten zu betölpeln. Das Beste sei, ihm weit aus dem Wege zu gehen. Er verlange von ihnen, dass sie ihm Lieder vorsängen, so dumm aber sei keine, auf solchen Kalmus zu beißen.

Die kleine Hirtin war wissbegierig und tapfer. Sie sehnte sich heimlich nach einer Begegnung mit dem viel verschrienen Fremdling. Ihre Füße waren flink, und so fürchtete sie keine Gefahr.

Eines Nachmittags saß sie im Weidengebüsch am Graben, bewachte die Rinder und ergötzte sich an dem lustigen Liede von der Schalaster und dem Nussknacker, die Hochzeit machen wollten. Auf einmal erstarb ihr der Ton auf den Lippen.

Er kam – er war’s, der Schreckliche. Am Graben daher schritt er langsam auf sie zu und griff grüßend nach der Mütze. Sie erhob sich fluchtbereit.

„Ei, ei, du liebes Maidlein, wie fein du singen kannst!“ rief er und lächelte freundlich.

Was er weiter sprach, überhörte sie in der Verwirrtheit ihrer Gedanken. Fremdartig und wild genug sah er aus, doch gar nicht so alt und nicht so hässlich, als sie es nach den Berichten der Freundinnen vermutet hatte. Schnell wich ihre Scheu, und nun vernahm sie, dass er Lieder von ihr begehre. Das Lied von der Vogelhochzeit besäße er schon, von andern jedoch, die er ebenfalls gern haben möchte, seien ihm nur Teile bekannt.

Er zog ein Büchel aus der Manteltasche und las daraus einige Liedanfänge.

„Die kenn ich alle“, sagte sie.

„Die kennst du?“ fragte er freudig. „Du bist ja nicht mit Golde zu bezahlen. Sage mir doch, bitte, das Gedicht vom Strahler und den schönen Jungfräulein!“

Da regte sich in ihr ein Misstrauen. Ihr war eingefallen, dass er das gleiche Lied auch von andern Hirtinnen verlangt hatte. Sie hielt es für garstig, weil darin die schönen Jungfräulein faule Hunde genannt wurden.

„Das sag ich nicht“, entgegnete sie gereizt.

„Wenn ich dich aber herzlich bitte?“

„Wozu wollen Sie‘s den wissen?“

„Wozu? . . . Ach, du kleine Maid, das verstehst du nicht! Aber sagen will ich dir‘s. Ich mache Jagd auf alle Lieder, die nirgends gedruckt zu finden sind. Die will ich einsammeln, damit sie nicht verloren gehen. Kannst du das begreifen?“

„Müssen es denn gerade solche sein?“

„Aha, du verstehst mich! Dir hab ich gleich angesehen, dass du klüger als die andern bist. Du wirst mir sammeln helfen. Im Vertrauen sollst du wissen, dass ich selber ein dichter bin und schon viele Lieder erdacht habe. Ein ganzes Buch voll schnke ich dir, wenn ich durch sich erfahre, was die Leute hier singen . . . Wie fängt doch das mir dem Strahler an? Ich glaube, so:

Wir wissens nicht, wo Strahler leit

Strahler leit im Grunde . . .

Und wie geht’s weiter?“

Sie gab sich einen Ruck und sagte die Fortsetzung laut vor sich hin.

Er bedankte sich, meinte, dass der arme Strahler, dem seine Jungfräulein durch ihre Faulheit das Leben verbittern, zu bedauern sei, und fügte hinzu, dass der Urheber dieser Reimerei wohl an die Stadt Strehlen oder Strahlen, nicht aber an einen Mann namens Strahler, gedacht habe. Es stecke nur Rohheit drin, weiter nichts. Neugierig sei er auf ihre anderen Lieder.

„Da müsst ich erst nachdenken“, erwiderte sie.

„Denke nach, und trage mir alles vor, was du weißt!“

Sie redeten noch eine gute Weile miteinander, und zum Schluss Vereinbarten sie ein Wiedersehen für den übernächsten Nachmittag.

Die Hirtin blickt ihm nach, bis er fern am Dorfe hinter den Gärten verschwand. Sie wusste, dass es Dichter gab, hatte sich aber nie vorstellen können, was das für Leute seien. Nun war ihr einer begegnet, und sie dachte sich, dass er trotz seiner altmodischen Kleidung und feiner sonderbaren Redeweise ein feiner Herr sei. An dem Lobe, das er ihr gespendet, berauschte sie sich, und immer aufs Neue klangen ihr seine Worte durch den Sinn: „Du verstehst mich! . . . Dir hab ich’s gleich angesehen, dass du klüger als die andern bist . . . Du bist nicht mit Golde zu bezahlen . . .“ Süß wie Honig schmeckt das. Und wie vornehm er sich betragen hatte! Den hielten ihre Freundinnen für närrisch? Ach, wie dumm waren sie!

Sie lachte und sprang vor Vergnügen umher und fühlte dabei unklar, dass diese Begegnung ein großes Erlebnis für sie sei. Der Dichter sollte bei seiner Jagd nach Liedern nicht umsonst auf sie gerechnet haben.

Abends kaufte sie beim Krämer ein Schreibheft und einen Bleistift, machte von dort einen Sprung ins Elternhaus und verabredete mit ihrer jüngsten Schwester ein Zusammensein auf der Wiese. Tags darauf konnte sie ungestört im Weidengebüsch sitzen, sich nach Liedern aushorchen und immerfort schreiben. Ihr Schwesterchen sorgte, dass die Kühe nicht zu Schaden gingen. Viel zu zeitig war das Heft vollgeschrieben, und sie grämte sich, dass sie den Liedern, die ihr verspätet durch den Kopf summten, nicht gerecht werden konnte. Den erarbeiteten Schatz verbarg sie behutsam im Futter ihres Unterrocks.

Die Zeit erfüllte sich, und wieder wanderte die Hirtin mit ihrer Herde zum Dorfe hinaus, diesmal ohne die kleine Gefährtin. Draußen auf der stillen Flur erwartete sie, frohen Banges voll, den Dichter. Lange hielt sie Umschau, und endlich erspähte sie ihn. Auf dem Waltdofer Wege kam er langsam daher. Inbrünstig flehte sie zum lieben Gott, dass er ihn schütze vor den Blicken des alten Kringel, der drüben am Rande der Wiesen ackerte. Kringel war ein Lästermaul, und sie fürchtete Spott und böses Getratsch. An einem Busche setzt sie sich nieder, und als der Gast herankam und grüßend seine Mütze schwenkte, breitete sie hurtig ihr Kopftüchlein neben sich hin und lud ihn zum Ausruhen ein. Das fiel ihr schrecklich schwer, doch es musste geschehen, weil sie ihn auf andere Art vor Späheraugen nicht verbergen konnte. Sie bildete sich ein, er werde garstig von ihr denken, und sie schämte sich bis in den Hals hinab. Ein wenig leichter ums Herz war ihr, als er bei ihr saß und so wie bei der ersten Begegnung beteuerte, dass er nie zuvor ein verständigeres Jungfräulein gesehen habe. Gern ließ sie sich’s gefallen, dass er ihr die Wangen streichelte, und gern hätte sie ihm stundenlang gelauscht, wenn nur der Kringel nicht auf dem Felde gewesen wäre. Zaghaft reicht sie ihm ihr Schreibheft und bat ihn, es einzustecken und zu Hause zu lesen. Ihr kam es darauf an, ihn so rasch als möglich loszuwerden, er jedoch merkte das nicht, und zu ihrem Schrecken fiel er gierig über das Buch her, las Gedicht auf Gedicht und achtete nicht auf ihr Bitten, nicht auf das Gestammel von der Unleserlichkeit ihrer Handschrift. Bei einem der Lieder griff er nach ihrer Hand und drückte sie so fest, dass es wehtat. Dabei sprach er, ihr in die Augen blicken, sie verdiene, dass sie einst den besten uns schönsten Jüngling zum Manne bekomme. Von ihm selber sei dieses Lied gedichtet worden, und er freue sich, dass sie es lieb habe und wohl auch fleißig singe. Die andern seien ihm ebenfalls gut bekannt, und wenn sich auch kleines von denen darunter befinde, die er suche, kein richtiges Volkslied, so hoffe er doch, dass sie ihm helfen könne, sobald sie ihn verstanden habe.

Sie ertrug‘s nicht länger. Mit dem Ausrufe, sie müsse zu den Kühen, flog sie davon, jagte den friedlich weidenden Geschöpfen einen Schrick ein und trieb sie sinnlos auf engem Plan umher. Ihre Lieder konnten dem Dichter nichts nützen. Dumm was sie, dumm wie ein Kalb, sonst hätte sie ihn nicht falsch verstanden.

Er kam ihr nach. Er brachte das Schreibheft, er belehrte sie mit lauter Stimme, was er unter einem Volkslied verstehe. Kringel hielt staunen beim Ackern inne, schielte herüber und horchte. Sie entriss dem Dichter das Heft.

„Ich schreib andre auf!“ rief sie ihm zu, und das sollte heißen, dass er sich ihrer erbarmen und fortgehen möge.

Wann er wiederkommen dürfe?

„Montag“, anteortete sie aufs Geratewohl.

Eine ganze Weile noch redete er, und als er endlich ging, grämte sie sich bitter, weil sie die Grüße, die er ihr mit der Hand zuwinkte, nicht erwidern konnte. Was er nur von ihr denken mochte! Sie hatte zwar in ihrer Verwirrung und in ihrer Todesangst nicht gehört, was er vor dem Scheiden zu ihr sagte, zuletzt aber gefühlt, dass es lieb und lobend und schön gewesen war. In Gedanken flüchtete sie zur Muttergottes und suchte sich wegen ihres ungezogenen Betragens vor ihr zu rechtfertigen. Der Kringel, der allein war schuld daran, dass sie dem Dichter wehgetan hatte. „Morgen schandfleckt er über mich. Heilige Himmelsmutter, steh mir bei!“

Kringel wartete mit dem Schandflecken nicht bis zum andern Morgen. Bei sinkender Sonne schon vermeldete sein Weib auf der Dorfstraße die erstaunliche Neuigkeit, dass die Anna Hoffmann und der alte närrische Mann ein Liebespaar seien, und dass die beiden Ursache hätten, bald an den Hochzeitskuchen zu denken. Zwei Stunden später erfuhren die Mägde und die Frauen beim Spinnrocken, was sich auf der Wiese zugetragen habe, und was die Anna, die immer so scheinheilig tue, für eine sei. Brühwarm drangen die Geschichten zu den Ohren von Annas Bäuerin, und die verstand keinen Spaß. Bei ihrem Geschimpfe im Kuhstall erdröhnten Wand und Gewölbe. Sie dulde nicht, schrie sie, dass sich ihre Magd mit einem alten fremden Kerl einlasse und ihr noch Läuse ins Haus bringe. Sie werde sie beim Herrn Pfarrer anzeigen. Hinausgeworfen müsste sie werden.

Anna blieb ihr aus zornwildgewordenem Gemüte die Antwort nicht schuldig. Ihr brauche kein Mensch zu sagen, was sich schicke, und wenn die Leute wüssten, wie fein und gut der fremde Herr sei, würden sie sich ihre Lästermäuler nicht verbrennen. Vor dem Herrgott könnte sie schwören, dass er sie nur nach Volksliedern ausfrage, die er sammle, und dass er weiter gar nichts von ihr wolle. Wären die anderen Mädel nicht dumme Gänse, so hätten sie ihn angehört, anstatt davon zu rennen und ihn zu verschreien. Kringel sei ein Quatschkopf.

In solcher Tonart ging‘s heftig hin und her, und die Bäuerin ließ endlich locker, weil sie merkte, dass sie den gegen die Ehre des Mädchens gerichteten Vorwurf nicht aufrechterhalten könne. Als letzten Trumpf erhob sie die Beschuldigung, dass Anna ein frecher Balg sei, und mit der Drohung: „Ich sag’s deinem Vater!“ verließ sie den Stall.

Beim Abendessen und auch später waltete Friede. Die Familie saß beisammen im Schein der Öllampe, Frau und Magd spannen. Von den Vorgängen auf der Wiese und dem Wortkrieg im Stalle war keine Rede mehr.

Den Kopf der Magd durchschwirrten Liedklänge und Trotzgedanken. Verse des Gesanges von der Agnes, über deren Brautbett sich vom Fenster her eine bleiche Totenhand streckte, schufen ihm Arbeit. Wie mutwillige Lämmer waren sie von ihren Plätzen gehüpft und wusste nicht mehr, wohin sie gehörten. Doch es glückte, sie einzureihen. Andere Lieder drängten sich hinzu und prahlten, dass bei ihnen alles klappe. Der Trotz verlangt, dass Anna sich weder durch ihre Herrin noch durch den Klatsch im Dorfe hindern lasse, des Dichters Wünsche zu erfüllen. Bei vielem Nachdenken hatte sie erraten, welche Sorte von Liedern er suchte.

Der Hausherr sah noch einmal im Hofe und in den Ställen zum Rechten und prüfte das Wetter. Das war das Zeichen zum Schlafengehen. Anna stellte ihr Spinnrad in den Winkel, wünschte gute Nacht und ging. Durch das Dachfenster ihres Bodenkämmerchens grüßte ein schöner Stern. Den betrachtete sie bekümmert. Dann holte sie weinend aus ihrer Truhe ein Wachstöckchen und Schwefelhölzer hervor, auch blaues Briefpapier, das ihr eine Freundin zur Kommunion geschenkt hatte.

Das Wachsstöckchen war in Albendorf zu Ehren der Mutter Gottes geweiht und durfte nur zu heiligen Zwecken angezündet werden, auch in Fällen schwerer Leiden. War denn der Zweck, dem es nun dienen sollte, nicht auch heilig, und litt sie nicht schweren Pein? Umständlich verhüllte sie das Fenster mir Tüchern, damit der Nachtwärter nicht an ihr zum Verräter werde. Zögernd überlegte sie, ob sie wirklich die hübschen Bogen mit Bleistift bekritzeln solle, und rasch gelangte sie zu der Erkenntnis, dass für ihren Freund kein Opfer zu groß sei.

Der Deckel der Truhe war ihr Tisch. Kniend, in ihre Aufgabe ganz versunken, schrieb sie bis Mitternacht. Dann schlüpfte sie mit durchfrorenen Gliedern ins Bett.

Zur rechten Zeit erwachte erwacht sie, und innig dankte sie dafür ihrem Schutzengel! Beim Frühstück aber verging ihr die Lust am jungen Tage. Der Bauer verlangte, dass Minna von nun an die Kühe zur Weide treibe. Sie sie dazu groß und stark genug. Anna werde in der Wirtschaft und auf dem Rübenacker gebraucht.

Minna, noch ein Schulkind, widersprach und greinte. Anna fühlt sich ins Herz getroffen, doch sie verbarg ihr Weh. Aus Rachsucht hatte die Frau das Gebot ersonnen und dem Manne in den Mund gelegt. Am liebsten hätte sie laut geheult. An die Weiden am Graben, an die Blumen, die Vögel, die Hasen, die Wolken und an ihr zerstörtes Wiesenglück dachte sie. Doch grausamer noch litt sie durch die Schmach, die ihr und dem Dichter angetan worden war. Wenn sie doch wüsste, wie er hieß und wo er wohnte! Ach, dass sie ihm die blauen Briefbogen nicht schicken konnte! Den besten Halt in ihrem Jammer gewährten ihr die Verse, die sie im Verlauf des Tagewerks aus entlegenen Tiefen des Erinnerns mühsam hervorkramte. Vor der Schönheit dieses Zeitvertreibs entwichen die trüben Gedanken. Trost spendete ihr dann die Zuversicht, dass es ihr auf irgendeine Weise glücken werde, die Wohnung des Dichters zu erfragen.

Sonntags nach dem Segen durfte sie mit ihren Angehörigen aus der Kirche heimgehen und bis zur Zeit des Fütterns und Melkens bei ihnen sein. Am Kaffeetisch lenkte sie das Gespräch auf Lieder aus ihrer Kindheit, ließ sich durch das verständnislose Gespött ihrer Geschwister nicht beirren und erreichte durch Beharrlichkeit, dass die Mutter sich auf allerhand Singsang besann, der Vater einhalf und die andern sich wetteifernd beteiligten. Reimklänge, Versgebilde, die sie längst vergessen hatte, lebte auf, und in verschwiegener Seele häufte sie Schatz auf Schatz für die Sammlung des Jägers, der Jagd auf Volkslieder machte.

Abends regnete es, und sie flehte zum Himmel, dass er den Montag auch verregnen lasse. Dann bleiben die Rinder im Stall, und der Dichter würde nicht kommen. Beim ersten Blick durch Fenster in der Montagsfrühe jubelte sie hell; „Es treescht – es gießt mit Kannen. Der Herrgott sei gelobt!“

Der Regen hörte tagelang nicht auf, dem Bauern und der Bäuerin zum Graus, der Magd zur Herzerquickung. Freitags erst wurde Minna wieder geheißen, die Kühe zur Weide zu treiben. Kurze Zeit nur blieb sie fort, und bei der Heimkehr in den Hof heulte sie und flennte. Der alte närrische Mann hatte sie überfallen. Um ein Haar, und er hätte sie erwischt. Sie fieberte vor Schreck am ganzen Leibe. Die Magd stritt für den beschuldigten Fremdling, aber die Bäuerin schrie, sie solle sich in den Boden hineinschämen, dem Kerl das Wort zu reden. Jetzt sähe man ja, dass er junge Weibsbilder suchte, die sich mit ihm im Grase herumwischen, wie es eine gewisse Person getan habe. Ließ sich das ertragen? Anna hielt sich, als sie im Stall das Vieh anketten wollte, mit beiden Händen an der Krippe fest. Im Kopfe tobten grässliche Gedanken, doch alle Wut zerfloss in Ohnmacht. Endlich ging ihr in finsterer Verzweiflung ein schwacher Lichtschein auf. Er leuchtete heller, gab tröstlichen Frieden und verhalf ihr zu einem Entschluss.

Sonntags drauf sagte sie zur Frau, dass sie Nachmittag einen Sprung zu ihrer Muhme tun wolle, die krank sei. Der Frau mochte das schlimme Wort leid geworden sein, denn sie hatte sich bald darauf recht versöhnlich benommen. Jetzt lobte sie das Vorhaben der Magd, und sie versprach, ihr ein Stückchen Butter für die Muhme mitzugeben.

Zur Butter gesellte sich ein Stück Speck, und später erbettelte sich Anna von ihrer Mutter ein Brot. Schon vor Beginn des Nachmittagsgottesdienstes lief sie mit ihrer Last zum Dorfe hinaus, auf Waltdorf zu, dem Wohnorte der Muhme. Suchend durchschweiften ihre Blicke das Gelände. Fernab vom Wege schmiegte sich die verlorene Wiesenheimat an den bebuschten Graben. Der Dichter war nirgends zu schauen, und ihre Sonntagslust mischte sich unversehens ein schneidend wehes Gefühl des Verstoßenseins.

Die Muhme war zu Hause. Sie empfing den Besuch mit staunender Freude. Durch die Grüße und die Geschenke der Bäuerin fühle sie sich besonders hoch geehrt.

Die alte Frau hatte viel zu erzählen. Der Zuhörerin aber war es nicht um Geschichten zu tun. Bei schicklicher Gelegenheit fragte sie, ob hier wohl einer wisse, wer der altmodisch gekleidete Herr sei, der sich in Waltdorf aufhalte und oft auf Feldwegen spaziere. Jawohl, den kannte die Muhme. Doch nur vom Sehen.

Mit verhaltener Stimme und näher zu Anna heranrückend sagte sie, dass er von den Leuten für einen Demokrater gehalten werde. Das müsse er wohl sein, denn er stecke drüben auf dem Schlosse bei den zwei Grafen, und die gehörten ja auch zu der Sorte, der nicht zu trauen sei. Graf Eduard und er führen jeden Sonnabend nach Neisse. Auf heim zu hätten sie immer Offiziere bei sich, und mit den Offizieren treiben sie dann Verschwörungen oder ähnliche gottlose Sachen. Es werde halt so allerhand gemunkelt.

Anna wollte nichts weiter hören. Ihr war es, als verfinstere sich der Tag bei hellem Sonnenschein. Gottlose Sachen traute sie dem Dichter nicht zu, und dass er bei Grafen und Offizieren im Schloss steckte, war gewiss keine Sünde. Aber sie schloss aus den Worten der Muhme, dass er viel vornehmer sei, als sie es sich in ihrer Unwissenheit vorgestellt hatte. Geradezu ungeheuerlich kam ihr der Abstand zwischen ihm und ihr vor und als frevelhaft verwarf sie den Gedanken, ihm die neuen Lieder hinzutragen. Ihr fiel ein, wie schlecht sie bei seinem letzten Besuch auf der Wiese gewesen war, und was sie angestellt hatte, damit er fortgehen sollte.

Nein, sie durfte nicht mehr vor ihn hintreten! Aber er musste die Lieder haben. Sie waren ihm von ihr versprochen worden, und er brauchte sie. In vier Nächten hatte sie ihre sämtlichen blauen Briefbogen vollgeschrieben und sie dann mit ihrem hübschesten grünen Haarband zu einem Päckchen vereinigt. Vielleicht ließ sich irgendein Schulkind erbitten, die Blätter für den dichter ins Schloss zu tragen.

Die Muhme richtete den Vespertisch her, und Anna beurlaubte sich auf ein Viertelstündchen zu einem Gange durchs Dorf. Vorsichtig näherte sie sich dem Schlosse, durchbebt von Furcht und heißblütiger Sorge, bedrückt vom Gefühl ihrer Niedrigkeit. Scheu wie eine Diebin lugte sie in den Gutshof. Hinten bei den Scheunen standen einige sonntägliche gekleidete Mägde. Rasch entschlossen zog sie ihr Kummerpäckchen unter der Jacke hervor und schritt auf die Mägde zu. Ihnen wollte sie den Schatz anvertrauen!

Da – o himmlische Barmherzigkeit! – trat er aus der Haustür. Sie prallte vor ihm zurück. Entrinnen konnte sie nicht. Der Gruß blieb ihr im Munde stecken. Wir zu Abwehr steckte sie ihm das Päckchen entgegen. Er betrachtete sie und fragte nachdenklich: „Ist das nicht meine Märchenfee?“

Im Augenblick darauf aber rief er: „Du mein Tausendkind, sie mir willkommen!“ und schon griff er nach den Liedern und nach ihr.

Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Ins Schloss gelangte sie, und in eine wunderschöne Stube. Dort saß sie an einem Tische, der mit Büchern und Papieren beladen war, und der Dichter saß bei ihr, las was sie geschrieben, und konnte sich vor Freude gar nicht bändigen. In alle Tönen pries er ihre Klugheit, bedankte sich zehnmal und öfter, auch dafür, dass sie ihn besucht habe, nahm dann eines der Bücher vom Tisch und ließ sich ihren Namen nennen.

„Was hör ich? Anna Hoffmann heißt du? Da sind wir ja Namensvettern und müssen erst recht zusammenhalten.“

In das Buch schrieb er, streute Sand auf die Schrift und gab es ihr. Das sei er ihr schuldig, auf das Abkommen hin, das er mit ihr getroffen habe. Gedichte für Gedichte.

„Lies, mein Kind, ob‘s richtig ist!“

Sie las ihren Namen und las ferner, dass sie seine jüngste, schönste und verständigste Mitarbeiterin sei. Den Schluss mit der Unterschrift erfasste sie nicht. Ihr flimmerte es vor den Augen. Dass ihr das Buch gehören solle, begriff sie, und ihr entrang sich ein inbrünstiges „Dankeschön!“

Nun fort! . . . Er wollte sie zurückhalten. So ein lieber Gast müsse doch bewirtet werden. Graf Eduard würd zürnen, wenn sie nicht auch bei ihm vorspräche. Vergeblich bat er. Sie stob hinaus wie ein verflogener Vogel. Draußen erst, auf der Treppe, verabschiedete sie sich.

Der Dichter war ernst geworden. Es sei ein Scheiden auf lange Zeit. In wenigen Tagen gehe sein Aufenthalt in dem stillen Waltdorf zu ende. Weit in die Ferne führe seine Weg, zu neuer Arbeit und zu neuen Pflichten. Er habe seinen Gastgebern versprochen, im nächsten Jahre wiederzukommen, und er werde dann auch sie zu finden wissen. Die Freundschaft bleibe bestehen.

Er küsste sie auf den Mund, und sie entwand sich ihm. Auf der Straße schlüpfte sie in ein Seitengässchen, aus Besorgnis, dass er ihr nachfolge. Zuerst war’s ihr, als sei sie glücklich einer Gefangenschaft entronnen, dann, als erwache sie aus einem unermesslich schönen Traum. Es war kein Traum, es war himmlische Wirklichkeit. Trug sie doch das Buch des Dichters in der Hand. Lauter Lieder. Gedichte für Gedichte. Die von ihm hineingeschriebenen Zeilen beschaute sie andächtig.

„Hoffmann von Fallersleben“ lautete die Unterschrift. Soviel Ehre, soviel Glück! Gar nicht zu ertragen!

Behutsam hüllte sie das Buch in ein Tüchel und verbarg es in ihren Kleidern. Der Dichter war im Schlosse geblieben, und ungefährdet gelangte sie ins Stübchen der Muhme.

Schwer fiel es ihr, die Zunge zu bezähmen und das große Erlebnis zu verschweigen. Sie nahm sich vor, auch in Mogwitz den Mund zu halten, und sie ist diesem Vorsatze treu geblieben. Wer auch hätte sie verstanden, wer hätte nicht gespottet! Manchmal, wenn in plauderfroher Gesellschaft das Gespräch auf den alten närrischen Mann kam und si dabei allerhand Neckereien auszustehen hatte, war sie nahe daran, zornflammend zu verkünden, wer und was er sei, und wie sie sich alle schämen müssten, so dumm und gottlos einen der besten Menschen zu verlästern. Sie bezwang sich dann mit Gewalt und lachte mit den andern.

Sein Buch hütete sie als ihr teuerstes Gut. Es war ihr so heilig wie der Kuss, den sie beim Abschied vom Dichter empfangen hatte.

Sehnsüchtig wartete sie auf den versprochenen Besuch. Herr Hoffman von Fallersleben aber kam nicht mehr nach Waltdorf zu seinen Freunden, den Grafen von Reichenbach, und nie mehr hat sie ihn gesehen. Die Liebe für ihn blieb ihr eine verklärende Leuchte durchs Leben.

Von mir, ihrem Ältesten, erfuhr die Mutter, dass sich ihr Freund zu jener Zeit in Waltdorf als Flüchtling aufhielt, nachdem er wegen seiner „Unpolitischen Lieder“ des Amtes als Professor in Breslau enthoben worden war und zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Ich sagte ihr, wie sehr auch ich ihn liebe und wie das große deutsche Vaterland ihm für alle Zeiten ergeben sei. Das machte sie von Herzen fröhlich.

Ihr zum Gedenken schrieb ich die Geschichte nieder, die sie mir und meinen Geschwistern anvertraute. Sie tat es dem Wortlaut nach in einer Weise, die ich nicht wiederzugeben vermag, auch sprach sie in dörflicher Mundart. Aber der Inhalt ihrer Erzählung lebt unveränderlich in meinem Gedächtnis.

Paul Barsch erzählt

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