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Der Krieg an der Sandgrube

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Wie weit mein Wissen von Völkerstreut und Heldentum bis zum Sommer 1866, dem siebenten Jahre meines Lebens, gediehen war, weiß ich nicht. Es mag wohl schon recht umfänglich gewesen sein, denn es nährte sich gierig von kriegerischen Bildern eines Buches, das im Topfschrank hinter den guten Tassen versteckt lag, und das ich oft, scharfem Verbot zuwider, hervorholte. Vertraut auch war mir das Lied vom tapferen Lagienka, denn das sang unser Gesell, der Johann Schie, jeden Tag an der Hobelbank. Mehr noch beschäftigte sich mein Denken über militärische Dinge mit dem großen Bilde, das bei Klars im Tanzsaale hing und auf dem eine Schlacht zu sehen war.

Als ich wieder einmal mit Klars Kindern in den Tanzsaal eindrang, nahm es mich so gefangen, dass ich es immerzu anschauen musste. Staunend sah ich ein Gewimmel von Soldaten, Pferden, Kanonen, Flinten, Fahnen und Pulverrauch. Kugeln flogen in der Luft, ein Haus brannte, viele Soldaten lagen tot, und eine Kanone war zerbrochen. Frau Klar kam herein, bespaßte sich mit mir und lachte. Richtig verstand ich sie erst, als sie anfing, von dem Bilde zu sprechen. Ich erstarrte bei hungrigem Lauschen und Genießen. Der Soldat auf dem weißen Pferde war der General und hieß Blücher. Die Soldaten hinter ihm waren die Preußen, die Soldaten vor ihm die Franzosen. Er zeugt den Preußen mit dem Säbel, wohin die schießen und mit den Spießen an den Flinten stechen sollten. Die Preußen waren tapfer, und darum gewannen sie. Frau Klar sagte, Blücher sei ein Held. Wo der hinkomme, müssten die Franzosen purzeln. Die anderen alle zusammen seien nicht so tapfer wie er, und er habe deshalb die meisten Orden. Gar zu gerne hätte ich erforscht, wie die Franzosen purzelten, gar zu gerne auch die Orden bewundert, Frau Klar aber ging, und wir mussten mit ihr gehen. Sie verschloss den Saal, und da war ich sehr traurig.

Vom Blücher kam ich nicht mehr los. Im Dämmerdunkel meines Weltbetrachtens war er mit seinem Schimmel eine strahlend klare Lichterscheinung. Ich malte nur noch ihn auf die Schiefertafel, in der Schule, daheim im Stübel, im Schuppen und im Schutz der Stachelbeersträucher, malte, bis er so schön war wie auf Klars Bilde. Doch ich konnte dabei nicht froh werden. Mir war eingefallen, dass ihn, der ganz voran ritt, leicht eine Kugel treffen könne. Der Gedanke, dass er dann bei den toten Preußen auf der Erde liegen würde, ließ sich nicht ertragen. Wenn ich allein war, flennte ich laut.

Der Sattler kam in unsere Werkstatt gerannt und schrie: „‘s wird Krieg! Ei Neisse drinne machen se schunt mobil.“ Mich berührte diese Botschaft kaum, und stumpf auch blieb ich bei den anderen Neuigkeiten, die der Sattler brachte. Für mich ergab sich daraus, dass die Österreicher ein Land erobern wollten. Vor den Österreichern bangte mir nicht. Sie wohnten am Rander des Himmels, bei der Bischofskoppe, weit, weit von uns. Vetter Natz war einer. Der blieb jedes Mal, wenn er der Mutter den echten Jerusalemer Balsam brachte, bei uns über Nacht, und uns Kindern gab er Pfefferkuchen. Vetter Natz hatte mir’s gezeigt, wo die Österreicher wohnten, und von ihm wusste ich auch, dass sie gute Leute waren.

Immerfort kam Besuch – Blasig, der alte Neugebauer, Milde, Stuschke, Hilbig und Frau Klar. Nur vom Kriege redeten sie mit dem Vater. Ich ging hinaus, kletterte im Garten auf den Zaun und blickte zur Bischofskoppe hin, nach Pulverrauch spähend. In unergründlicher Ferne suchten meine Augen den Krieg, und als ich ihn bald darauf in nächste Nähe sah, erkannte ich ihn nicht.

Durch Lorenzens Klee an unserem Zaun ritten zwei Soldaten. Nahe bei mir hielten sie. Flink lief ich durch die Gartentür auf den Fußsteig. Sie drehten mir den Rücken zu. Während meines staunenden Hinstarrens erwog ich die Frage, was Lorenz tun und sagen würde, wenn er sähe, dass ihm die Pferde den Klee zertrampelten. Ich war einmal hineingelatsch, weil ich einen blauen Schmetterling fangen wollt. Das hatte Loren gesehen, und ich kriegte Backpfeifen. Die Soldaten waren stärker als ich. Er hätte nur kommen und versuchen sollen, die zu backpfeifen!

Einer mochte wohl der Anführer sein. Dicker als der andere war er. In den Händen hielt er ein großes Papier, und das faltete er über dem Halse des Pferdes auseinander. Sogleich erkannte ich, dass es eine Landkarte war. In Vaters Soldatenbuche gab’s auch Landkarten. Mir schien es jedoch, als sei jene viel schöner. Sie zog mich so heftig an, dass ich nicht widerstehen konnte. Ich wartete in der verbotenen Wildnis. Beinahe hätte mich das Pferd mir den Hufen geschlagen. Es hupfte fortwährend wegen der vielen Bremsen. Mit dem Pferde zappelte die Landkarte, so dass ich die Striche und die Punkte nicht ordentlich sehen konnte. Mein Blick verfing sich in einem Blumenstreif in Görlichs Weizen. Der war rot und blau und gelb du viel schöner als die Farben in meinem Tuschkasten. So nahe dabei war ich nie gewesen.

Schon wieder Soldaten auf Pferden! Droben auf dem Berge hinter dem Weizen bei der Sandgrube. Drei – vier – fünf. Sie konnten nicht weiter, die Grube war zu tief. Sie schossen auf uns mit Pistolen. Jeder einmal. Dann schwenkte sie um und waren weg. Die beiden Soldaten im Klee erschraken vor dem Schießen und sausten davon. Wie der Wind ging‘s über den Zaun weg durch den Garten, über den anderen Zaun, über die Gasse, schrägüber durch die Hofenrüben zum Dominium. Der Anführer sprang mit seinem Pferde hoch hinweg über den Staketenzaun in den Schlosspark, der andere ritt an den Zäunen entlang und bog dann um die Ecke. Das alles sah ich ganz deutlich, und ich wunderte mich, dass sie sich so ängstigten, da ihnen die anderen ja gar nicht mehr nachkamen. Ein Stück unseres Zaunes hatten sie umgeritten, die Latten lagen bei den Gurken. Ich blieb im Klee und wartete auf die fünf Reiter. Ein brennendes Verlangen, sie noch einmal zu sehen, noch einmal das Schießen zu hören, hielt mich so in Bann, dass ich nicht auf das Rufen der Mutter achtete. Sie kam gesprungen, gam mir eins auf den Kopf und riss mich fort.

„Stieht mer bei, ihr verzehn Nuthalfer!“ schrie sie. „Dir war ich reihalfen! Leeft der tälsche Drähniegel mitten nei ei Krieg! ‚s a Gootswunder, dass dich de Östereicher nich hon mausetut geschussen!“

In der Werkstatt verklagte sie mich beim Vater. Der nahm den Zollstock und wollt mich wichsen. Aber er verhieß mich nur. Ich durfte nicht mehr zur Haustür hinaus, solange der Krieg dauerte und die Österreicher da waren. Er drohte, mir alle Knochen entzweizuschlagen, wenn ich nicht gehorchte.

„Siehste naus, do biste weg!“ belehrte mich die Mutter. „Eim Krige wird nich gefackelt. De Östereicher schießen dir glei a Looch ei a Bauch.“

Offenbarungen überwältigten mich. Aus taumelnden Gedanken löste sich die Erkenntnis, dass ich in einer Schlacht gewesen war. Sie hatte mich nicht befriedigt. Je länger ich über sie nachdachte, desto mehr enttäuschte sie mich. Die in Klars Tanzsaale war hübscher. Warum wollten mir die Österreicher ein Loch in den Bauch schießen? Hatten sie aufgehört, gute Leute zu sein? Hielten sie schon wieder drüben an der Sandgrube? Oder warteten sie im Klee, bis ich zur Haustür hinauskommen würde? Ach, wenn ich sie doch sehen könnte! Johann Schie sagte, sie seien von Zuckmantel herübergekommen. Nach Zuckmantel ging manchmal die Prosession.

Ich stahl mich durch den Hausgang in den Stall. Dort stand ich auf dem Melkschemel am offenen Fenster, dicht bei der Kuh. Ihr Maul berührte mich, und ich spürte die Hörner im Rücken. Da bog ich mich weit hinaus und klammerte mich ans Fensterholz. Der Blick umfasste die Bilder bis zur Kirche hin. Von der Sandgrube sah ich nur ein Stückchen. Ob die Österreicher unser Dorf erobern wollten? – Wo sie nur sein mochten? Wie konnten sie bei der Bischofskoppe Wohnen, wenn sie von Zuckmantel herübergekommen waren?

Der Vater ging in den Hof. Hastig zog ich den Kopf zurück und suchte mit den Füßen den Melkschemel. Er fiel um, und ich purzelte hinab und lag unter der Kuh. Ehe sie mich treten konnte, war ich schon weggekrochen. Der Vater pfiff mir. Er mochte denken, ich sei wieder in den Krieg gelaufen. Hurtig sprang ich hinaus.

Im Schuppen wurden die Bretter gestapelt, die der Brettmann gebracht hatte. Die Mutter half dem Vater, und ich musste die Querhölzer legen. Sie freuten sich, dass die Österreicher danebengeschossen hatten und dass ich noch lebte. Mich aber freute das gar nicht. Ich erboste mich, weil es keinen Krieg mehr gab. Wären die Österreicher nicht fortgeritten, so hätte mich der Vater nicht in den Hof und in den Schuppen gehen lassen.

Auf einmal schrie von seinem Garten her der Sattler. Ich verstand nur, dass die Preußen da seien. Vater und Mutter ließen ein Brett fallen, das sie schon hochgehoben hatten, und liefen auf die Gassen hinaus. Ich mit. Hinten bei der Brauerei waren viele Menschen, und immer neue rennten herzu. Auch der Vater und der Sattler und mit ihnen Steiner und Blasig und viele Weiber und Kinder. Mich hielt die Mutter fest, so sehr ich auch bat und zerrte. Flinten und Helme funkelten. Die Preußen! Eine Schlacht! Für mich gab’s kein Halten mehr.

„Du bleibst doo!“ gebot die Mutte. „Dich lo ich nimme vum Bändel. Nei giehste!“

Hinein ging ich zwar, schlüpfte jedoch, einer trotzhaften Eingebung folgend, bei den Stachelbeeren durch die Latten und flüchtete an den Zäunen dahin, gehetzt von der Angst, zu spät zu kommen. Ich kam zurecht. Preußen. Lauter Preußen, kein einziger Österreicher. Aber sie machten keinen Krieg. Neben den Leuten standen sie und wischten sich den Schweiß aus den Gesichtern. Viele tranken aus Bierkusen. Jeder Preuße trug auf dem Rücken einen Tornister und eine ganz dicke Rolle. Mich zog es zu ihnen hin, doch ich musste weit weg bleiben, weil ich mich vor dem Vater fürchtete. Der stand ganz vorn mit den Männern. Ich war bei den Weibern und verkroch mich hinter den Röcken. Klar Josef kam getrabt. Er erzählte den Weibern, sein Vater fahr den Rittmeister nach Neisse zum Doktor. Der Der Rittmeister sei beim Springen über den Parkzaun kopfüber vom Pferde gestürzt und habe sich was gebrochen. Zuerst hätten die Österreicher von der Sandgrube auf ihn geschossen, und da sei ihm nichts passiert. Ich horchte betroffen.

Einer der Preußen brüllte plötzlich. Die anderen sollten sich in die Reihe stellen und still sein. Er hielt eine Rede über die Schlacht, die ich gesehen hatte. Beim Hinhören vergingen mir die Sinne. Fort lief ich und wusste nicht, wohin. Im Oberdorfe wollte mich Frau Hundeck auffangen. Ich entsprang über den Kirchhof und sauste weiter, immer weiter. Nur ein einziges Gefühl beherrschte mich, und das schrie: Gelogen, gelogen!

Auf unserem Boden im Stroh fand ich mich wieder. Ich presste das Gesicht zwischen die Schütten und heulte. So war’s ja nicht gewesen, wie es der Preuße bei der Brauerei den anderen Preußen gesagt hatte! Der Herr Rittmeister war nicht wie Blücher auf die Österreicher losgestürmt, und er und sein Bursche hatten nicht gekämpft wie die Löwen. Die Welt in mir war zertrümmert, und ich empfand, dass mich nichts mehr freuen könne, die Österreicher nicht, die Blumen nicht und der Tuschkasten auch nicht. Durch ein finsteres Gewoge leuchtete beständig die Reitergestalt aus dem Tanzsaale: Blücher auf dem Schimmel. Mein besseres Wissen sträubte sich gegen die Behauptung, dass auch der Herr Rittmeister ein Held sei. Mir war’s, als sei dem Blücher dadurch ein Unrecht ohnegleichen geschehen. Der hätte sich nicht vor den Österreichern gefürchtet – der hätte den Säbel geschwungen und den Krieg gewonnen. Etwa hatte der Preuße bei der Brauerei von vergossenem Blute gesagt. Ich wusste, was das heißen sollte, und ich heulte noch stärker. Nicht in der Schlacht hatte der Herr Rittmeister das Blut vergossen, nur, weil er über den Parkzaun gesprungen war. Er hätte ja um die Scheunen weiterreiten können, wie der Bursche. Die zwei hatten nicht einen großen Haufen Österreicher in die Flucht geschlagen, Von selber waren die Österreicher fortgeritten. Gewiss aus Angst. Ich verachtete sie. Tapfer nur war der Blücher, und tapfer war ich. Wegen mir hätte die Österreicher immerfort schießen können, ich wäre nicht ausgerückt. Warum hatte das der Preuße bei der Brauerei den anderen Preußen nicht gesagt? Ich flennte, dass mich der Bock stieß.

Aus Weh und Zorn schreckte mich der Ruf des Vaters. Mit einem Ruck riss ich mich empor, wischte mir die Augen und flog zur Treppe hinab, schlimmster Ahnungen voll.

Sie Eltern stapelten Bretter.

„Dalli, dalli! Gefaulenzt werd nicht.“

Sie lachten, prügelten mich nicht und waren auch nicht böse. Da wich das Grausen, und mir war’s, als müsste ich flattern wie die Schmetterlinge. Beim Legen der Querhölzer ging es so fix, dass mich die Mutter lobte. Wie gut, dass ich noch lebte!

Paul Barsch erzählt

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