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Die Glaskrächze

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Wenn in weihnachtlichen Tagen meine Erinnerung wandern geht und forschen fragen will, wie alle die Weihnachtsabende meines Lebens aussahen, dann drängt sich jedes Mal der von 1870 fürwitzig vor und lässt die andern nicht zu Worte kommen. Er lächelt mich mit tränenfeuchten und glückverklärten Augen traulich an, beginnt mit seinem „Weißt du noch, im Schnee, mit der Glaskrächze und den Goldleisten?“ … Und dann erzählt er zudringlich, auch wenn ich keine Lust habe, ihm zuzuhören.

Von einem zehnjährigen Bübchen berichtet er. Die Mutter schnallte dem Kleinen schwächlichen Kerlchen ein Holzgestell auf den Rücken, das fast so groß wie das Gatter an der Haustür war, und der Vater erteilte ihm Befehle und Unterweisungen. Das geschah in der Behausung eines oberschlesischen Dorftischlers. In dieser Behausung sah es recht wunderlich, ungastlich und ärmlich aus. Eine geräumige, sehr niedrige Stube mit vier kleinen Fenstern, nassen, von Rauch und Ruß geschwärzten Wänden und gekrümmten Deckenbalken, die ganz so aussahen, als könnten sie ihre Last nicht länger tragen, und als würden sie eines Tages mit den Deckenbrettern und dem Estrich nieder stürzen. Der Fußboden war früher gedielt gewesen. Jetzt zeigte er nur noch dürftige Überbleibsel der Dielung, und so wohnte die Familie auf dem nackten Erdreich. Zwei Hobelbänke nahmen zwei Wände für sich in Anspruch. An der dritten Wand standen die Betten, an der letzten der Ofen mit den Küchengerätschaften, den hölzernen Wasserkannen, den Gefäßen für das Viehfutter. Der Tisch, ein Schrank und ein paar zerbrochene Stühle mussten mit bescheidenen Winkeln fürlieb nehmen. Das war die Heimat des Bübchens.

Ein reicher Bauer hatte als Weihnachtsgabe von einem Zeitungshändler aus der Stadt, der ihm die Romanhefte lieferte, zwei Prämienbilder erhalten, die ihm so wohl gefielen, dass er sie einrahmen lassen und seiner Frau auf den Weihnachtstisch legen wollte. Auf dem einen war die Königin Isabella von Spanien, auf dem anderen das Gefecht bei Nachod zu schauen. Am frühen Morgen des Tages, der den Heilligen Abend bringt, erschien der reiche Bauer beim Tischlermeister und verlangte mit der Bestimmtheit eines hochvermögenden Herrn, der keinen Widerspruch duldet, dass die Bilder bis Abend fertig eingerahmt seien. Er rühmte ihr Schönheit und ihren hohen Kunstwert und verlangte ganz absonderlich schöne Goldrahmen.

Der Tischlermeister wagte nicht, den Auftrag abzulehnen, obwohl er weder Glas noch Goldleisten im Hause hatte und die Stadt einige Meilen entfernt war. Er betrachtete es als eine ehrenvolle Auszeichnung, dass gerade ihm und keinem der beiden andern Tischler des Ortes die kostbaren Bilder anvertraut wurden.

Die Mutter hatte keine Zeit, in die Stadt zu gehen, und so fiel dem Bübchen die Aufgabe zu. In der achten Morgenstunde wanderte er mit seiner Krächze bei dichtem Schneegestöber zum Dorfe hinaus in den eisigen Wintermorgen.

Ihren merkwürdigen Namen hatte die hölzerne Glastrage vielleicht dem Umstande zu verdanken, dass sie durch ihre Schwere den Träger zum Ächzen und Krächzen zwang. Für das Bübchen aber war sie nicht allein viel zu schwer, auch viel zu umfangreich. Wenn es sich ein wenig überrücks beugte, so berührte der Untersatz den Erdboden, während ihm die Rückenwand hoch über den Kopf empor reichte. Für die Breite des Dinges war der Rücken des Knaben viel zu schmal, und es konnte nur durch die Gewalt der Ellbogen und der Hände vor schlimmen Schwankungen gehütet werden.

Der Weg nach der Stadt war weit, unendlich weit, und die Luft blies den Knirps so scharf an, dass ihm Ohren, Finger und Nase vor Kälte abspringen wollten. Doch er verzagte nicht und klagte nicht. Unterwegs gab es viel zu schauen: Krähen auf den Feldern, eine Windmühle, Soldaten die auf Urlaub eilten, zugefrorene Dorfteiche mit kaschelnden Kindern, große Hunde, Schneemänner und andere Merkwürdigkeiten. Auch des Phantasierens, und so fehlte es ihm unterwegs nicht an Unterhaltung und Kurzweil.

Tapfer kam er vorwärts, trotz Schneesturm und Kälte. Langweiliger wurde der Weg, als die Vorstädte mit ihren hässlichen Kohlenhöfen, ihren unfreundlichen Häusern und schmutzigen Wegen begannen. Doch auch diese Strecke nahm ein Ende, und glücklich gelangte das Tischleinsöhnchen an das ihm bereits bekannte Ziel.

Der Glashändler war ein Grobian. Er konnte aus dem Zettel, den ihm der Tischlermeister durch das Bübchen geschickt hatte, nicht klug werden, und ärgerlich fragte er: „Was sollen denn das für Leisten sein?“ „Der Vater hat gesagt, er hätte alles aufgeschrieben!“ gab der Junge ängstlich zur Antwort.

„Quarkspitzen hat er! . . . Was sein denn das für Bilder?“ Auf diese Frage wusste der Kleine zu antworten. Er hatte die Bilder nur flüchtig ansehen dürfen, doch Zeit genug gefunden, die Unterschriften zu lesen.

„Ach, solcher Trödel! Da weiß ich schon!“

Den Knaben empörte es, dass der grobe Mensch die herrlichen Bilder als Trödel bezeichnete. Glücklich aber machte ihn die Bemerkung: „Da weiß ich schon!“ Denn daraus entnahm er, dass der Händler den Zettel richtig verstanden hatte.

Eine Weile später verließ er den Laden mit einer Fracht, die ihn zu Boden drücken wollte. Er musste tief gebückt gehen, sonst hätte ihn die schwer mit Glas beladenen Krächze hintenüber gerissen und zu Fall gebracht. Die Goldleisten waren so lang, dass er nicht wusste, wie er sie tragen sollte.

„Du bringst das Zeug ja gar nicht fort!“ rief ihm der Händler nach. „Ist denn dein Vater verrückt, dass er dich schickt?“

Das Bübchen wollte zeigen, dass es das Glas und die Leisten ganz gut fortbringe, doch im nächsten Augenblicke wurde es durch einen andern Mann grob angeschrien: „Macht deine Glotzen auf, Bengel!“

Die Leisten waren dem Manne ins Gesicht gefahren. Bald darauf kamen sie einem Fuhrwerk zu nahe, und der Kutscher schlug schimpfend mit der Peitsche nach dem armen Bürschchen. In solcher Not war es froh, als es die Vorstadt erreicht hatte. Dort gab es nicht so viele Menschen auf der Straße, und die Leisten konnten keinen Schaden anrichten. Ein Jammer aber war es für den Kleinen, dass er sich für den Sechser, den ihm die Mutter als Zehrgeld mitgegeben, keine Semmel kaufen konnte. Die Krächze war breiter als eine Ladentür, und auch wegen der Länge der Leisten erschien es ihm unmöglich, in einen Bäckerladen zu gelangen. Da kam es ihm wie eine himmlische Schickung vor, als er auf einem Brettchen an einem Fenster allerlei rote Pfefferkuchenherzen ausgestellt sah und dahinter einen Frauenkopf erblickte. Die Frau merkte ihm sein Begehren an und öffnete das Fenster. Für seinen Sechser bekam er ein schönes mit Zucker bemaltes Pfefferkuchenherz, das so groß wie zwei Handteller war, und sein Knabenherz jubelte dem Pfefferkuchenherzen so freudig zu, als sei das Christkind bereits gekommen. Er nahm sich vor, die süße Kost langsam zu verzehren, damit sie recht lange ausreiche, und trollte frohen Muts weiter.

Da – o Grauen über Grauen – erblickt er an der Stelle, die er angebissen hatte, ein ganzes Rudel kleiner Maden. Das schöne Herz fiel in den Schnee, und der arme Schlucker spuckte, pustete uns schüttelte sich und glaubte, sterben zu müssen vor Eckel. Auch reute ihn sein Sechser, und er verwünschte die Frau, die ihn betrogen hatte.

O, wie schwer das Glas war! Jetzt fühlte er es erst! Und wie ihn hungerte! Und die Leisten – die Leisten! Unter Arm konnte er sie nicht tragen, weil sie zu lang waren, und trug er sie quer, so musste er mitten auf der Straße gehen, wo der Weg am schlechtesten war. Zu diesem Unglück kam, dass er die Arme nicht frei bewegen konnte, weil er mit ihnen die Krächze gegen die Gefahr des Umkippens schützen musste, und weil ihm seine dünnen, durchlöcherten Handschuhe keinen Schutz gegen die böse Kälte gewährten. Die Lederriemen brannten ihn in die Schultern wie Feuer, und der Rücken tat ihm so weh, dass er weinen musste. Gern hätte er sich in den Schnee gesetzt und ein wenig ausgeruht, doch die Krächze machte ihm das Sitzen unmöglich. So tappte er weiter und weiter, und wen er glaubte, dass er jetzt hinfallen und sterben werde, nahm er sich fest vor, die Qual noch drei oder vier Straßenbäume weit zu ertragen. War dieses vorgesteckte Ziel erreicht, so stellte er die Leisten an den Baum, rieb sich die erstarrten Hände, rückte an der Krächze, als ob es ihm möglich gewesen wäre, die brennende Qual in den Schultern und auf dem Rücken zu mildern, machte Versuche, zu rasten, und sah sich dabei vergeblich nach Rettung um. Dann erinnerte er sich an die strengen Worte des Vaters: „Dass du mir ja beizeiten da bist! Renn, soviel du rennen kannst!“ – und er beugte sich vornüber, nahm seine Leisten und tappte weiter.

Immer schneidender blies der Wind, immer dichter wirbelten die Flocken, immer mehr gelangte der kleine Sendbote zu der Überzeugung, dass er den weiten Weg nicht ermachen, dass er unterwegs umkommen werde. Manchmal kamen Leute des Weges, doch sie erbarmten sich seiner nicht. Sie gingen vorüber, ohne sich um ihn und seinen Jammer zu kümmern. Keiner nahm ihm die Goldleisten ab, keiner hob die Krächze einen Augenblick lang empor, auf dass er die Riemen an andere Stellen der Schultern hätte rücken können, und keiner bedauerte ihn.

Eine Frau war so hartherzig, ihm zuzurufen: „Junge, die Scheiben sind ja alle entzwei!“

Er wusste nicht, ob das Ernst oder Scherz war. Schließlich aber sagte er sich, dass so grausam kein Mensch scherzen könne, und er glaubte, dass die Scheiben bei seinen Versuchen, sich an die Straßenbäume anzulehnen, zersprungen seien. Das verursachte ihm eine solche Furcht vor dem Zorne des Vaters, dass er sich nach dem Tode sehnte und die Frage erwog, wie er es anfangen müsse, wenn er sich das Leben nehmen wolle. Aber er schauderte vor diesem Gedanken zurück, da er an die ewige Strafe Gottes, an die Qualen der Hölle dachte und so gab er sich der Hoffnung hin, dass er unterwegs erfrieren werde.

So kam er von Baum zu Baum weiter, so erreichte er Dorf auf Dorf. Er wäre gewiss erfroren, wenn er nur hätte sitzen oder sich in den Schnee hinstrecken können! Der Glashändler hatte ihn an das Ungetüm festgeschnallt, und es gab für den unglücklichen kleinen Schlucker kein Entrinnen. Er konnte nur stehen und gehen. So ging er denn, trotz seiner furchbaren, seiner unerträglichen Schmerzen.

Der düstere Tag neigte sich dem Ende zu, als das Bübchen die Fluren der Heimat erreichte. Gedankenlos, mit dumpfen, abgestumpften Sinnen kroch es weiter, ohne Angst, ohne Tränen, ohne Klage . . . So hielt es am Heiligen Abend seinen Einzug in das Haus des Vaters.

„Wo hast du denn so lange gesteckt?“

Das Bübchen antwortete nicht.

„Was bringst du da für Leisten? Barmherziger Himmel, bringt der Kerl Leisten, die ich nicht gebrauchen kann! Hab ich dir nicht gesagt, wie die Leisten sein sollen? O, zum Verzweifeln, zum Verzweifeln!“

Das Bübchen hörte den wilden Ausbruch des Zornes, doch es fürchtete sich nicht und grämte sich nicht. Es sank, als ihm die Mutter die Krächze abgeschnallt hatte, nieder auf den Fußboden und verlor das Bewusstsein.

Der vordringliche Weihnachtsabend wird nicht müde, sein Geschichte zu erzählen.

„Weißt du noch, als du im Bette lagst, und als die Mutter dich streichelte und süße Worte zu dir redete? Und weißt du es, dass auch der Vater kam und dir sagte, dass dir das Christkind einen Tuschkasten gebracht habe? . . . O, du musst es wissen. Denn von jenem Tage her kam es, dass deine Schulterknochen herauswuchsen, dass dein Rücken krumm geworden ist. Weißt du noch, wie lieb der Vater am heiligen Feste war? Wie er an deinem Bette saß und dir Bilder zeigte? Und wie er sagte, dass er nicht dafür könne, weil die Mutter keine Zeit gehabt hätte, in die Stadt zu gehen?

Weißt du noch? . . .

Paul Barsch erzählt

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