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DER ROMAN

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Inhaltsverzeichnis

Alle epische Dichtung, das Versepos wie der Roman, setzt sich als höchstes Ziel, ihr ganzes Volk in ihrer Zeit darzustellen, in seinen religiösen, sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Grundformen. Aber die Urzeit der Völker, da diese Formen in ungeschiedener Einheit das ganze Volk umfassen, hat selten ein Volk zum Bewußtsein und zur epischen Gestaltung seiner selbst gelangen lassen. Erst nachdem sich aus der Einheit und Einfachheit des ganzen Volkes einzelne Stände herausgehoben und gesondert ihre Anlagen und Lebensformen entwickelt haben, sind die großen Epen entstanden. Die Ilias wie die Nibelungen stellen die Lebensformen einer ritterlichen Gesellschaft dar. Und wenn de ständischen Volksgruppen sich kulturell und dichterisch entwickelt haben, meist nacheinander, so bleiben sie in der epischen Dichtung ihres Landes nebeneinander bestehen: fast alle großen neueren Romane gestalten die Lebensformen eines bedeutenden Standes; so zerfällt der Volksroman in den Ritter- oder Adelsroman, den Bürgerroman, den Bauernroman, den Arbeiterroman. Die jeweilige schöpferische Bedeutung dieser Stände entscheidet zumeist auch über die Bedeutung ihrer Romane. Sind ihre Lebensformen, ihre religiösen, sittlichen, geistigen, wirtschaftlichen Grundkräfte gesund, klar, einig und schöpferisch, so drängen sie auch nach ihrem schöpferischen Ausdruck, so geben sie einem wesensverbundenen Epiker die innere Form zu einem epischen Gesellschafts- und Volksbild, das sich in breitem Nach- und Nebeneinander, in plastischer Gestaltenfülle, in farbiger Sinnlichkeit und Sichtbarkeit, in liebevoller Bejahung des Lebens entfaltet.

In Deutschland ist dies Wesen und Werden der epischen Dichtung von fremden Kräften durchkreuzt. Seine ritterliche Kultur hat zwar in Gottfried von Straßburgs "Tristan" und in Wolfram von Eschenbachs "Parzival" vollen epischen Ausdruck gefunden. Aber schon im "Parzival", dem eigentlich deutschen der beiden Gedichte, bricht jene deutsche Eigenheit durch, die dem epischen Lebensgefühl widerspricht: die deutsche Art schlägt das Auge eher nach innen denn nach außen auf, ist mehr metaphysisch als physisch, mehr musikalisch als plastisch, sie weiß mehr von der inneren Einsamkeit der Persönlichkeit als von der Gemeinsamkeit des Standes, Volkes und Staates, mehr von Kampf und Tragik als von Frieden und Daseinsfreude. Schon die Nibelungen sind im Grunde eine Tragödie, der grauenvolle Untergang eines ganzen Volkes. Ein unendliches Wehklagen ist ihr Schluß und die düstere Erkenntnis, "daß alle Freude immer zuletzt in Leid sich kehrt". Und der erste der großen deutschen Prosaromane, Grimmelshausens "Simplizissimus", schildert die irrende deutsche Seele, die aus Mord und Getümmel des Dreißigjährigen Krieges auf eine einsame Insel, an das Herz ihres Gottes flüchtet. Die Entwicklung und Vollendung der Seele wird zum Inhalt des deutschen Romans, nicht die Darstellung des äußeren Lebens, der Gesellschaft, des Volkes, der Kriege und Siege. Die großen deutschen Epen und Romane sind Entwicklungsromane: "Parzival", "Simplizissimus", "Wilhelm Meister", "Der grüne Heinrich".

Diese deutsche Wesensart ist durch die Geschichte Deutschlands bedeutsam verstärkt worden — wobei vielleicht auch hier "Schicksal und Gemüt Namen e i n e s Begriffes sind" (Novalis). Während die romanische und angelsächsische Welt mit der Renaissance sich der Bewunderung, Erforschung und Eroberung der Natur zuwandte, verlor sich Deutschland in die metaphysischen Tiefen und Konflikte der Reformation, bis daß es in einem dreißigjährigen Religionskriege fast zugrunde ging. Aber während es politisch und wirtschaftlich so auf lange daniederlag, hob es sich philosophisch und künstlerisch zu seiner größten Bedeutung. Zum epischen Ausdruck dieser inneren Welt und Wesenheit wird der Roman der deutschen Romantik (Hölderlin, Novalis, Jean Paul. Eichendorf, E. T. A. Hoffmann), der durchaus musikalisch-metaphysisch bestimmt ist, aus der Welt der Gestalten in die "unendliche Melodie" hinüberdrängt.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tritt Deutschland aus dem Reich der Dichtung, Philosophie und Religion in das Reich der Industrie, Technik und Politik hinaus. Aber die künstlerisch bedeutenden realistischen Romane, die um diese Zeit entstehen (Immermanns "Münchhausen", 1838, Ludwigs "Heiteretei", 1853, Freytags "Soll und Haben", 1855, Reuters "Ut mine Stromtid", 1862-64, Raabes "Der Hungerpastor", 1864), begleiten diese Entwicklung kaum. Ihre Welt ist die des alten Deutschlands, des Bauerntums, der Gutsbesitzer, des Kleinbürgertums geblieben. Die deutsche Kultur vermag die neuen, industriellen und politischen Kräfte nicht schöpferisch zu durchdringen und zu formen.

Es war das Verhängnis der deutschen Kultur, daß die neue Entwicklung die klassische Zeit des deutschen Idealismus nicht auf ihrer Höhe, sondern im Niedergang antraf, daß das philosophisch-dichterische und das naturwissenschaftlich-technische Zeitalter sich nicht durchdrangen, sondern einseitig ablösten. Als die idealistische deutsche Weltanschauung schon in sich zersetzt, Hegels Philosophie bei Feuerbach in ihr Gegenteil umgeschlagen war, da drangen Naturwissenschaften, Technik und Industrie ein. Eine abgestorbene innere Welt stand einer jungen äußeren gegenüber, die sich in unerhörter Jähe und Stärke entwickelte. Und die politischen Geschehnisse — die wieder nicht aus innerem Wachstum reiften, sondern von außen, durch Bismarcks Genius heraufgeführt wurden — steigerten diese Entwicklung ins Hemmungslose. So vermochten die alten bürgerlichen Lebensformen sich nicht mehr organisch fortzubilden; sie wurden gesprengt. Mit dem Aufstieg des deutschen Bürgertums zur äußeren Macht beginnt seine innere Zersetzung. Der Biedermeierstil ist der letzte Ausdruck einer bürgerlichen Lebensform in Deutschland.

Am Ende dieser bürgerlichen Kultur steht Thomas Mann (geb. 1875). Seine Vaterstadt Lübeck, die alte Hansastadt, vermochte ihre Lebensformen am längsten zu behaupten. Die "Buddenbrooks" (1901) sind der größte und letzte bürgerliche Roman in Deutschland.

Thomas Mann war — wie sein Bruder Heinrich Mann — der Sohn eines Lübecker Senators. Über ein Jahrhundert hinweg sah er sein Geschlecht in der sicheren Tradition, den festen bürgerlichen Lebensformen der Freien Hansastadt wurzeln und wirken. Und am Ende dieser Reihe standen er und sein Bruder, unwillig, unfähig, diese Tradition fortzuleiten. Der Dreiundzwanzigjährige suchte nach einer Erklärung, einer Rechtfertigung seines Andersseins. Und als Sohn eines naturalistischen Zeitalters, das eben Darwin aufgenommen hatte, das Entwicklung und Verfall der Arten, die geheimnisvolle Unübersehbarkeit der Erbgesetze zu durchschauen meinte, sah er — nicht ohne Einfluß Zolas und seiner Rougon-Macquart-Reihe — sich als den Ausgang eines alten, immer mehr verfeinerten Geschlechtes, das schließlich, durch Beimischung des mütterlichen, romanischen Blutes dem tätigen Leben entfremdet, im bloßen Zuschauer, Kritiker und Gestalter des Lebens, im Künstler, endete. Ein Entartungs-, ein Dekadenzproblem! Auf mehr denn tausend Seiten schrieb der Jüngling die Chronik des Niederganges: "Buddenbrooks. Verfall einer Familie." Aber er war viel zu seelenhaft, zu metaphysisch, zu musikalisch, als daß er im naturalistischen Roman steckengeblieben wäre. Stärker als Zola bestimmte ihn Richard Wagner, dessen überwiegend epische Elemente ihm deutlich und nah waren, stärker als die Rougon-Macquart-Reihe der "Ring der Nibelungen". So wurde ihm die Entartung zur Verinnerlichung: Vier Generationen schreiten den Weg aus klarer, derber Lebenstüchtigkeit in die allauflösende, geheimnisdunkle, "unendliche Melodie". Durch die naturalistische Darstellung bricht das Lebensgefühl der deutschen Romantik: "Sympathie mit dem Tode".

Die vier Generationen schreiten den Weg nicht nur kraft einer naturgesetzlich berechenbaren Zersetzung ihres Blutes und ihrer Nerven, nicht nur Kern einer metaphysisch unbedingten Wesensgegebenheit, sie schreiten ihn auch, weil die alten bürgerlichen Lebensformen ihrer Umwelt sie nicht mehr zu halten und binden vermögen. Auch hier sind, im weiten epischen Sinne, "Schicksal und Gemüt Namen Eines Begriffes" (Novalis). Im "Verfall einer Familie" schildert der Epiker den Verfall einer Welt, der Welt des alten deutschen Bürgertums. Subjektiv "flüchtig und ohne daß ich an diesem Gegentyp sonderlich teilgenommen hätte", objektiv aber notwendig und bedeutsam geht dem Abstieg der Buddenbrooks der Aufstieg der Hagenströms parallel, um in der Übernahme des Buddenbrookschen Hauses durch Hagenströms zu gipfeln: Der Bürger wird abgelöst durch den Bourgeois, patriarchalische, sittliche, geheiligte Lebensformen, die über den Personen und Generationen standen, weichen der egoistischen, skrupellosen Willkür des Individuums, das "frei von der hemmenden Fessel der Tradition und der Pietät auf seinen eigenen Füßen stand" dem "alles Altmodische fremd" war.

In vier Generationen umfaßt der Roman die Zeit von 1768, dem Gründungsjahr der Firma (unmittelbar von 1835, dem Jahr des Wohnungswechsels) bis nach 1880: die eigentliche Zeit des neuen deutschen Bürgertums, in Aufstieg, Glanz und Niedergang. Schon diese äußere Spannweite greift über jeden deutschen Roman hinaus, nicht minder die innere: der Beginn: rationalistische Behaglichkeit, sinnlich-geruhige Lebensfreude und Lebensbejahung, das runde, rosig überhauchte, wohlmeinende Gesicht, das schneeweiß gepuderte Haar, das leise angedeutete Zöpflein des alten Monsieur Johann Buddenbrook, ein Diner von traditioneller Feinheit und Fülle und epischer Dauer, Schinken von sagenhaftem Umfang, Puddings von mythischer Schichtung und Mischung, Weine von staubumsponnenem Alter, anakreontisch tändelnde Verse: "Venus Anadyoméne — Und Vulcani fleiß'ge Hand", heiter-graziöse Flötentöne und ein wenig schlüpfrige Verslein im Billardsaal. Und das Ende: der fünfzehnjährige, lebensunwillige, leidverlorene Hanno Buddenbrook mit den Augen des Wissenden, Einsamen, Heimatlosen, der so müde des Daseins ist, der schlafen möchte und nichts mehr wissen: "man sollte mich nur aufgeben; ich wäre so dankbar dafür", der aus der Sphäre epischer Bejahung und Gegenständlichkeit in verzweifeltem Aufbruch sich hinüberflüchtet in das weltflüchtige, weltverneinende, jenseitige Reich einer an Wagner geschulten Musik: Hanno Buddenbrook vor dem Flügel.

Zwischen diesen äußersten Spannungsweiten dehnt sich die Handlung. In einer epischen Gegenständlichkeit, die keine Reflexion, keinen blassen Bericht zuläßt, die ganz sichtbare, farbige Gegenwart ist, folgen sich die Gestalten und Generationen als feste Glieder in der Kette des Geschlechts, der Firma, der bürgerlichen Tradition. Dieser Zusammenhang umfaßt ihre Weltanschauung. Ihr Unsterblichkeitsglaube ist der epische des Geschlechts: "daß er (Thomas Buddenbrook) in seinen Vorfahren gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte nicht allein mit seinem Familiensinn, seinem Patrizierselbstbewußtsein, seiner geschichtlichem Pietät übereingestimmt; es hatte ihn auch in seiner Tätigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensführung unterstützt und bekräftigt." Die Bibel dieses Glaubens ist die Familienchronik: die feierliche Darstellung des Werdens, Ringens und Wachsens dieser Folge, der Menschen, der Generation und des Ideals, dem sie unterstellt sind: der Firma.

Wie es die Lebensaufgabe der Fürsten- und Königshäuser ist, ihren überkommenen Machtbezirk taten- und ehrenvoll zu behaupten und zu erweitern, so ist es die verantwortungsvolle Aufgabe des Bürgerhauses, die ererbte Firma zu immer weiterer Wirkung, immer reicherer Würde zu führen. Eine überpersönliche, sittliche Aufgabe! Ihr opfert man seine Ruhe, seine Liebe, sein Glück. "Wir sind nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und, ohne nach rechts oder links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen Überlieferung folgten."

Die ersten beiden Generationen des Romans sind von diesem Lebensgefühl noch bluthaft durchdrungen; in den beiden letzten zersetzt es sich. Nur Toni Buddenbrook bleibt sein gläubiger Träger. Ihm opfert sie ihre Jugendliebe, um seinetwillen heiratet sie den erst widerwärtigen Grünlich, um seinetwillen trennt sie sich von ihm, um seinetwillen geht sie die neue We mit Permaneder ein. Und als alle männlichen Glieder der Familie gestorben, die Firma aufgelöst ist, da bleibt ihr Lebenstrost, einmal in der Woche die weiblichen Verwandten zu sich zu laden: "Und dann lesen wir in den Familienpapieren." Ihr Gegensatz ist ihr Bruder Christian. Ihn vermögen die alten Lebensformen nicht mehr zu halten, sie lassen ihn gehen, er läßt sich gehen: "Wie satt ich das alles habe, dies Taktgefühl und Feingefühl und Gleichgewicht, diese Haltung und Würde, wie sterbenssatt!" Die Firma, das überpersönliche Ideal der Familie bedingt ihn nicht. Er zergeht in "ängstlicher, eitler und neugieriger Beschäftigung mit sich selbst". Sein Interesse für Theater, Varieté und Zirkus ist das Interesse des formlos gewordenen Bürgers für "die Fahrenden" die dem mittelalterlichen Bürger als unehrlich galten.

Schließlich heiratet er seine Kurtisane; den alten, bürgerlichen Formen entglitten, unfähig, sich neue zu bilden, fällt er seelisch und körperlich auseinander. Zwischen Toni und Christian steht Thomas Buddenbrook. Die Gefahren Christians, der Hang zur Formlosigkeit und Subjektivität, ist ihm nicht fremd. Er bekämpft und überwindet sie. Er wird zum Helden des sinkenden bürgerlichen Ideals. Aber die alten Lebensformen halten weniger ihn, als daß er sie hält. Der Held wird zum Schauspieler des Ideals; er repräsentiert es, er verkörpert es nicht. "Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines Innern, verbunden mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und zähen Enschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die Dehors zu wahren, hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich, bewußt, gezwungen gemacht und bewirkt, daß jedes Wort, jede Bewegung, jede geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und aufreibenden Schauspielerei geworden war."

Diesem Schauspieler des Ideals wird als Sohn Hanno Buddenbrook, der viel zu müde ist, um zu schauspielern, viel zu vornehm, um gleich seinem Onkel Christian zum "Fahrenden" zu werden. Wenn er zur Kunst flüchtet, so sucht er nicht das Formlose im Leben, sondern das Formlose jenseits des Lebens: die Musik, die vor und über aller Erscheinung ist, das Meer der unendlichen Melodie, das sein Tropfendasein erlösend zurücknimmt. Von den alten bürgerlichen Lebensformen verlassen, nach neuen nicht begierig, ein Bürger des Metaphysischen, das sich seinem Vater nur in der Lesung Schopenhauers einmal blendend enthüllt hat, gibt er leidvoll und heimwehmüde vor der Zeit das Leben preis.

Wie diese — erst in Hanno ungehemmte — "Sympathie mit dem Tode" heimlich aus der bürgerlichen Diesseitigkeit der Generationen emporwächst, ist in weitgespannter, erschütternder Symbolik dargestellt. Die ersten, eigentlich epischen, lebensbejahenden Generationen verstehen den Tod nicht: "Kurios! Kurios!" murmelt der alte Monsieur Buddenbrook am Sterbebett seiner Frau mit leisem, erstauntem Kopfschütteln; mit einem letzten "Kurios" kehrt er selber sich sterbend zur Wand. "Mit Furcht und einem offenkundigen, naiven Haß" beobachtet die Konsulin Buddenbrook, "die ehemalige Weltdame, mit ihrer stillen, natürlichen und dauerhaften Liebe zum Wohlleben und zum Leben überhaupt" die Fortschritte ihrer Krankheit; sie kämpft mit dem Tod in langer, verzweifelter Kraft. Thomas Buddenbrook aber, der Held und Schauspieler des bürgerlichen Ideals, ist längst so vom Tode unterhöhlt, daß ein Zahngeschwür genügt, um seine krampfhafte Lebensbehauptung niederzureißen. Mitten auf der Straße wirft es ihn um; der so lang und gewissenhaft Würde, Haltung, Form verteidigt, liegt im Kot und Schneewasser des Fahrdamms. "Seine Hände, in den weißen Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer Pfütze." Hanno aber kämpft nicht mehr gegen den Tod; hemmungslos ersehnt und ruft er ihn als den Freund und Erlöser.

Mit ähnlicher, weitgespannter Symbolik, mit gleicher Fülle und Dauer der inneren Beziehungen baut sich alles auf in diesem Roman. Von den alten Epen ist das Leitmotiv übernommen und über Richard Wagner her musikalisch verinnerlicht, symbolisch vertieft. Gegenüber der lockeren Form des "Wilhelm Meister" und des "Grünen Heinrich" ist hier an Geschlossenheit des epischen Aufbaus in Deutschland ein Höchstes erreicht.

Die "Buddenbrooks" schreibt Thomas Mann, dreiundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahre alt, in Italien und München, so wie Gottfried Keller seinen "Grünen Heinrich" in Berlin niederschrieb. Nicht er allein schuf diesen Roman; durch ihn schuf und gestaltete sich sein Geschlecht, sein Heimatstaat Lübeck, wie der Berner Stadt-Staat durch Jeremias Gotthelf, Zürich durch Gottfried Keller, das alte Berlin durch Theodor Fontane sich Gestalt erdrang. Aber Gottfried Keller kehrte aus Berlin nach Zürich heim, wurde Staatsschreiber und Führer, nahm in Anteil und Liebe neue Lebensbilder und -schicksale seines Volkes auf, Grund und Gehalt zu neuen Schöpfungen. Was blieb Thomas Mann, dem Epiker, der seine eigene Welt zu Grabe getragen, der ihr das letzte Zeichen seiner Liebe im Riesendenkmal seiner Dichtung geschaffen hatte? Ein Lyriker hat die Natur, ein Dramatiker. die Idee, die seiner Kunst Boden und Wachstum geben. Ein Epiker ist undenkbar ohne Volks- und Heimatzusammenhang. Im Weh verfrühter Hellsicht stand der Einsame, Zurückgebliebene, ein König ohne Land, ein Bildner ohne Stoff. Sollte er zum bloßen Zuschauer, Beobachter, Kritiker, zum weiteren Zersetzer des Lebens werden? Sollte er das Leben verachten, das ihm nicht gemäß war, und hochmütig sich in das Reich einer rein formalen Kunst, einer l'art pour l'art, zurückziehen? Das Europäisch-Intellektuelle seine Wesens, das Romanische seines Blutes drängte zu diesem Entscheid. Der Zwiespalt wurde zur Dichtung: In den "Buddenbrooks" hatte Thomas Mann sich Rechenschaft über das Problem seines Lebens gegeben, im "Tonio Kröger" gab er sich Rechenschaft über seine Kunst.

Und er blieb dem Leben treu, obwohl es ihn allein gelassen hatte. Über die Qual der Einsamkeit, den Hochmut der Form und Erkenntnis hinweg bekannte, ja predigte er "die Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor kommt aus ihr, und fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst, von der geschrieben steht, daß einer mit Menschen- und Engelszungen reden könne und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle sei." Er verspottete und geißelte die Gefahren des Literaten- und Ästhetentums — seine Gefahren! — im Schriftsteller Spinell. In Leidverwandtschaft kehrte er sich den Enterbten des Lebens zu, sprach er sein Leid in ihrem Leid, im Weltleid aus. Wie in den "Lamentationen" Heines, den das Leben verwiesen und in die Matratzengruft geworfen hatte, so ziehen die Verfolgten und Verratenen des Lebens — Tobias Mindernickel, der kleine Herr Friedemann, der Bajazzo, Rechtsanwalt Jacoby, Friedrich Schiller, Baronin Anna, Lobgott Piepsam, Van der Qualen, Hieronymus — mit friedlosen, sehenden Augen an uns vorüber.

Langsam erst ringt sich aus dieser Heimatlosigkeit und Sehnsucht ein Hoffen, ein Ahnen, ein Wissen von neuer Verbundenheit: in Frau und Kindern beginnt ihm das Leben neu, ein erstes Menschenpaar, eine junge Welt. Durch sie fühlt er sich den Menschen wieder verbunden, nicht in Sehnsucht mehr, in lebendigem Anteil. "Königliche Hoheit" zeichnet die Erlösung durch die Liebe von einem formalen, repräsentativen Dasein zur Tat und Gemeinschaft, zum "strengen Glück". Ein Kunst- und Märchenspiel von romanischer Klarheit, Bewußtheit, Überlegenheit der Form, von deutscher Innerlichkeit, Einsamkeit, Pflicht und Liebestiefe des Gehalts. Der "Gesang vom Kindchen" gibt Geburt und Taufe eines Töchterchens, Menschlich-Schlichtestes als Menschlich-Tiefstes, fast ohne ästhetische Form, nur als Ausdruck der formgewordenes, harmonischen Persönlichkeit. Und das Prosaidyll "Herr und Hund" zieht in Bauschan, dem Hühnerhund, auch das Tier in die Gemeinschaft des Lebens und der Liebe ein.

Aus dieser wurzeltiefen Lebensgemeinschaft, dieser sittlichen Zugehörigkeit und Entschlossenheit, dieser Wärme, Liebe und Güte formt er die letzte, klassische Auseinandersetzung, die Absage an die zersetzenden Kräfte in sich und der Umwelt: an die auflösende Erkenntnis, die Relativierung der Werte und — tiefer und tragischer im Konflikt seines Helden — an die leere Schönheit, die bloße Form: "Der tiefe Entschluß des Meister gewordenen Manns, das Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenes Hauptes darüber hinwegzugehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist, liegt hinter dem Dichter Aschenbach, dem Helden der Meisternovelle 'Der Tod in Venedig'." Im Kampfe zwischen Geist und Kunst hat er leidenschaftlich für die Kunst gefochten. Um der Kunst willen hat er dem Leben entsagt, an der Einsamkeit seines Schreibtisches hat er gegen seinen schwächlichen Körper in zähem, unermüdlichem Ringen die reine Form seiner Werke erkämpft, die ihm ebenso ethische wie ästhetische Aufgabe war. Aber hinter dieser Form, die den Spannungen seines Willens und Bewußtseins abgerungen, die nicht organischen Lebens- und Liebestiefen entwachsen ist, droht ständig die Gefahr der Abspannung und Entfesselung, der Zügellosigkeit und Vernichtung. Auf der Höhe seines Ruhmes verführt und überwältigt sie ihn. Sie lockt ihn nach den Gestaden Venedigs, wo das das Leben Schein und die Kunst Wirklichkeit ist. Sie entzündet in ihm die Liebe zu Tadzio, dem schönen Polenknaben, eine zuchtlose Ausschweifung seiner künstlerischen und sinnlichen Phantasie, sie sich nicht an der Wirklichkeit beruhigen, berichtigen, gestalten kann noch will, eine weglose Liebe zur reinen Form, die zur Unfruchtbarkeit verdammt ist, die nicht zeugen kann im Geliebten, die widernatürlich und tödlich ist. In tragischer Steigerung, in unentwirrbarer Mischung des Heiligen und Verworfenen, jagt sie "den Meister, den würdig gewordenen Künstler", durch alle Leiden und Leidenschaften, alle Verzückung und Erniedrigung zur "Unzucht und Raserei des Untergangs". Nie sind die eingeborenen Gefahren der Kunst würdiger und erschütternder gestaltet, die Gefahren der Schönheit, die dem Geist wie den Sinnen verknüpft ist, die in jedem von ihnen zur Ausschweifung neigt, sofern nicht beide in der höheren Einheit der Seele sich organisch finden und binden.

Dann kam der Krieg. Und über alle militärischen und politischen Kämpfe erlebte ihn Thomas Mann als die unerbittliche Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, jener Gegensätze, die er in sich selber erlitten und entschieden hatte: das Germanische und das Romanische, das Deutsch-Dichterische und das Europäisch-Intellektuelle, Kunst und Erkenntnis, Gehalt und Form, Kultur und Zivilisation. In seinem eigenen Bruder war der Teil seines Wesens, den er abgelehnt und ausgemerzt hatte, Wille und Angriff geworden. Gegen seinen Bruder mußte er diesen Kampf noch einmal aufnehmen und für die deutsche Seele entscheiden. Alle großen Epiker waren Gestalter ihres Volkes, nicht nur im ästhetischen, auch im ethischen Sinne: Deuter, Mahner, Erzieher: Wolfram von Eschenbach im "Parzival", Grimmelshausen im "Simplizissimus", Goethe im "Wilhelm Meister" Gottfried Keller im "Grünen Heinrich" und "Martin Salander"; Jeremias Gotthilf in jedem seiner schollentreuen Romane. Es brauchte des französischen Vorbildes, Emil Zolas, nicht, das Heinrich Mann seinem Bruder entgegenstellte. Das Bild, das sie formen wollten und mußten aus dem Rohstoff ihres Volker: das entschied ihre Bedeutung. Für Heinrich Mann war der Mensch ein soziales Lebewesen; er predigte den sozialen, französischen, rationalistischen, optimistischen Menschen des 18. Jahrhunderts. Thomas Mann sah im Menschen das metaphysische Lebewesen; er gestaltete und verkündete den metaphysischen, deutschen und russischen, religiösen, ja mystischen, pessimistischen Menschen des 19. Jahrhunderts. Dem Standbild Zolas hatte er sein Standbild Friedrichs des Großen entgegengestellt, den geschwätzigen, optimistischen, rationalistischen "Vier Evangelien" des Romanciers die Dämonie und herrische Pflichttreue des gottgeschlagenen und gotterwählten Königs, der sich verzehrte in Arbeit, Einsamkeit und endlosen Kriegen, daß von ihm nichts übrigblieb wie ein abgemergelter, verschrumpfter Kinderleib, den ein Diener mit einem seiner Hemden bekleiden mußte, da "man kein heiles, sauberes Hemd in seinen Schubladen fand".

Aus den metaphysischen Tiefen solcher Bereitschaft und Berufung ersehnt und erweckt Thomas Mann seinem Volk jene Kräfte, die imstande sind, "die fortschreitende Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit und seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und Barbarisierung der Menschenwelt durch den revolutionären Intellekt" zu überwinden, "dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem Wiederaufbau seelischer Form zu dienen" und so dem heimatlosen Epiker, seinem Leben wie seiner Kunst, eine neue Welt zu schaffen.

Heinrich Mann aber, Thomas Manns Gefahr und Gegensatz, ist nicht nur in und durch Thomas Mann überwunden, ist politisch an der Entwicklung der Zeit, künstlerisch an seiner zersetzenden Subjektivität und Lieblosigkeit zergangen. Thomas Mann hatte sein Geschlecht und Volk noch im Verfall umfaßt, hatte am Ende der Reihe, ein Zugehöriger und doch Außenstehender, in Liebe und Ironie zugleich ihm Gestalt gegeben. In Sehnsucht hatte jedes seiner Werke vom Wiederaufbau, der neuen Lebensform und Lebensgemeinschaft gehandelt. Im tiefsten Sinn war ihm, dem wahren Epiker, Richard Dehmels Spruch Lebensgefühl gewesen: "Alles Leid ist Einsamkeit — alles Glück Gemeinsamkeit." Heinrich Mann hatte sich stets wichtiger genommen als sein Geschlecht und sein Volk. Früh und fremd hatte er Vaterstadt und Vaterland den Rücken gekehrt. Der romanische Tropfen in seinem Blute trieb ihn nach Italien, das Thomas erst sein tiefes Deutschtum deutlich machte. Eine Zeitlang glaubte Heinrich Mann, dort "zu Hause zu sein. Aber ich war es auch dort nicht; und seit ich dies spürte, begann ich etwas zu können. Das Alleinstehen zwischen zwei Rassen stärkt den Schwachen; es macht ihn rücksichtslos, schwer beeinflußbar, versessen darauf, sich selbst eine kleine Welt und auch die Heimat hinzubauen, die er sonst nicht fände. Da nirgends Volksverwandte sind, entzieht man sich achselzuckend der üblichen Kontrolle. Da man nirgends eine Öffentlichkeit weiß mit völlig gleichen Instinkten, gelangt man dahin, sein Wirkungsbedürfnis einzuengen, es an einem einzigen auszulassen, wodurch es gewinnt an Heftigkeit. Man geht grelle Wege, legt das Viehische neben das Verträumte, Enthusiasmen neben Satiren, koppelt Zärtlichkeit an Menschenfeindschaft. Nicht der Kitzel der andern ist das Ziel: wo wären denn andere! Sondern man schafft Sensationen für einen einzigen. Man ist darauf aus, das eigene Erleben reicher zu fühlen, die eigene Einsamkeit gewürzter zu schmecken." Welch treffendes Selbstbildnis! Welch Zerrbild eines Epikers! Ohne Wurzelboden, ohne Zusammenhang, ohne Liebe, im Selbstgenuß hochmütiger, überreizter Sensationen, zersetzender Erkenntnisse, ehrgeiziger Spannungen. Ihm wird die Kunst zur "widernatürlichen Ausschweifung". "Pippo Spano", das Gegenbild zum "Tonio Kröger", bekennt in leidender zuchtloser Lässigkeit: "Sie (die Kunst) höhlt ihr Opfer so aus, daß es unfähig bleibt auf immer zu einem echten Gefühl, zu einer redlichen Hingabe. Bedenke, daß mir die Welt nur Stoff ist, um Sätze daraus zu formen. Alles, was du siehst und genießt: mir wäre nicht an ihrem Genuß gelegen, nur an der Phrase, die ihn spiegelt. Jeder goldene Abend, jeder weinende Freund, alle meine Gefühle und noch der Schmerz darüber, daß sie so verderbt sind — es ist Stoff zu Worten." Das ganze Leben und Schaffen Heinrich Manns ist ästhetischer Selbstgenuß statt ethischer Selbstvollendung oder -überwindung.

Welche epischen Werke können aus solcher Willkür wachsen? Das Hauptwerk "Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy" (1902-03) weiß der Wurzel- und Heimatlosigkeit seines Dichters keine andere Heldin als die Balkanprinzessin der Operetten. Macht, Kunst und Liebe werden — in reinlichem Nacheinander! — ihr Lebensinhalt. Der Balkan, Venedig, Neapel sind die billigen Kulissen dieser Stationen. Da Heinrich Mann nicht seine Literatur aus dem Leben, sondern sein Leben aus der Literatur empfängt, sind alle Figuren und Leidenschaften aus zweiter Hand, ästhetische, durchsichtige, monumentalisierte Schemen, nicht unergründliche, blut- und seelenvolle Gestalten, nur der papiernen Phantasie von Literaten und Großstädtern überzeugend. Was ihnen an organischem Leben fehlt, ersetzen sie durch die Überreiztheit ihrer Gefühle und Gebärden, durch Rausch und Hysterie — eine krampfige Nachfolge d'Annunzios.

Neben solchen Orgien einer überreizten Literatenphantasie stehen die satirischen Romane: "Im Schlaraffenland", "Professor Unrat", "Der Untertan" usw. Sie sind Emil Zola näher, zumal ihr bester, "Im Schlaraffenland" — eine Schilderung des zersetzten Berlin W — aber ohne Zolas soziales Pathos. Auch die Satire bedarf der Liebe, um zeugen und gebären zu können, der Liebe zur armen, irregehenden Menschheit oder zum neuen, reineren Ideal. "Ich glaube nicht" — sagt Thomas Mann in den "Betrachtungen" — "daß ohne Sympathie überhaupt Gestalt werden könne; die bloße Negation gibt flächige Karikatur." Auch hier scheint die Literatur, nicht das Leben — die Witzblätter scheinen Heinrich Mann die Gestalten und Vorgänge zum "Professor Unrat" und "Untertan" gegeben zu haben: so flächig und billig sind sie gezeichnet. Jede lebendige Gestalt muß Monate unter dem Herzen getragen, muß mit Blut genährt sein.

Nur e i n Roman ist Heinrich Mann gelungen, dem Wurzelboden und Atmosphäre eigen: "Die kleine Stadt". Es ist bedeutsam, daß er in Italien spielt: "Eine Zeitlang glaubte ich (dort) zu Hause zu sein." Einmal hat Heinrich Mann einen erlebten Gehalt und mit ihm eigene Form gefunden: dem immer bewegten Völkchen des Südens, den flackernden Leidenschaften entspricht ein bewegter, farbiger, flirrender Impressionismus des Stils. Diese italienischen Kleinbürger, die sich heißblütig und beweglich an ihren Worten und Gebärden berauschen, alle ein wenig Künstler, ein wenig Schauspieler, ein wenig d'Annunzio, sind in ihrer Menschlichkeit und Kindlichkeit so liebenswürdig erlebt und gestaltet, daß sie und ihr Schicksal zu menschlich-symbolischer Bedeutung wachsen. Ihre Instinkte glimmen unter der Asche der täglichen Eintönigkeit. Da zieht eine Schauspielertruppe in die Stadt und weht sie nach allen Seiten zu Flammen auf. Sinnlichkeit und Liebe, Eifersucht und Ehrgeiz, vergessene und noch schlummernde Leidenschaften wirbeln knisternd hoch. Der Kampf zwischen Priester und Advokat, Reaktion und Fortschritt teilt und erregt die Massen. Die Glocken der Kirche und die Melodien der Oper streiten miteinander. Doch aus dem Feuer der Leiden und Leidenschaften glüht die Blume der Versöhnung, der Verbrüderung, der Liebe zu Volk und Menschheit auf: "Was sind wir!" — fragt der Advokat beim Abzug der Schauspieler. — "Eine kleine Stadt. Was haben uns jene gebracht? Ein wenig Musik. Und dennoch — wir haben uns begeistert, wir haben gekämpft, und wir sind ein Stück vorwärtsgekommen in der Schule der Menschlichkeit." Für kurze Stunden, für eilende Seiten durchzuckt Heinrich Mann, den heimatlosen Literaten, das Wesen und Glück des epischen Dichters: "Was macht diese Dinge groß?" "Daß ein Volk sie mitfühlt, ein Volk! das wir lieben!" "Ich habe ein Volk gesehen! Ich wußte es, wir seien nicht allein; ein Volk höre uns! Wir wecken seine Seele, wir... Und es gibt sie uns!"

Thomas Mann, dem Verfallsepiker des Bürgertums — eines patriarchalisch-aristokratischen Bürgertums — in der Grundstimmung verwandt ist der Verfallsepiker des Adels: Eduard Graf von Keyserling (1855-1918.). Wie Lübeck die bürgerlichen Lebensformen, so hat Kurland, Keyserlings Heimat, die Lebensformen des Adels am längsten und reinsten behauptet. Mehr als Keyserling vor dem grausigen Kriegsschicksal der baltischen Provinzen ahnen konnte, steht auch er am Ende einer Entwicklung, ein Zugehöriger und Außenseiter. In München erlebt der Alternde, kränklich, gelähmt, gekrümmt, zuletzt erblindet, vom Krankenstuhl und -bett aus die Welt seiner Väter und seiner Jugend wieder. Die tiefe Heimatliebe des Epikers und die melancholische, gütige Erkenntnis des Ausgehenden zeichnen die Menschen, die Schicksale, die Umwelt dieses östlichen Gutsadels in schmalen, erwählten, sicheren Linien, Er gibt keine breiten epischen Fresken, keine weiten Geschlechterfolgen wie die Buddenbrooks, er gibt in seinen Romanen "Beate und Mareile" "Dumala", "Wellen", "Abendliche Häuser", "Fürstinnen" fast novellistische Einzelbilder; sie schließen sich zu einem Gesamtbild von epischer Bedeutung. Die Darstellung ist von klarer Sichtbarkeit und Farbigkeit, aber durchzittert von der müden, melancholischen Seelenmusik Hermann Bangs, dem sie Tiefstes verdankt.

Die Adelsgeschlechter Keyserlings haben längst nicht mehr die naiv-sicheren Lebensformen ihrer Väter, der "starken Leute, die das Leben und die Arbeit liebten, roh mit den Weibern und andächtig mit den Frauen umgingen und einen angeerbten Glauben und angeerbte Grundsätze hatten", die um ihre einmal gewählte Fahne die Hände schlossen: "Nun vorwärts in Gottes oder des Teufels Namen!" Ihr Leben ist in Wissen und Handeln zerfallen; sie haben die Relativität ihrer Lebensformen und -gesetze durchschaut. Die alten Ideale sind zersetzt, neue noch nicht geschaffen: "An meiner ganzen Generation ist etwas versäumt worden ", sagt von Egloff in den "Abendlichen Häusern", "unsere Väter waren kolossal gut, sie nahmen alles sehr ernst und andächtig. Es war wohl dein Vater, der gern von dem heiligen Beruf sprach, die Güter seiner Väter zu verwalten und zu erhalten. Na, wir konnten mit dieser Andacht nicht recht mit, nach einer neuen Andacht für uns sah man sich nicht um. Und so kam es denn, daß wir nichts so recht ernst nahmen, ja selbst die Väter nicht." Aber die adelige Gebundenheit ihres Blutes schreckt zurück vor dieser Willkür, die ihnen zuchtlos scheint, vor dieser Freiheit, die den Müden nicht zur schöpferischen Erneuerung dienen kann. Gegen ihre Hellsicht flüchten sie in die Tradition ihrer Väter zurück: "...Unsere Gesetze hier —" "Glauben Sie an diese Gesetze?" "Ich glaube nicht an sie, aber ich gehorche ihnen." Wie Thomas Buddenbrook werden sie zu den Helden und Schauspielern der alten Ideale.

Je weniger sie ihnen innerlich eins sind, desto sorgsamer unterstellen sie sich ihnen. Haltung! Tenue! In allem inneren und äußeren Leben die Tradition wahren! Wohlgeordnet, festgefügt, bis in jede Tagesstunde bestimmt! "Du und ich sind zu gut erzogen, um in ein Drama zu passen."

Aber an diese starre, unterhöhlte Konvention klopft das Leben. Die Natur, die aus der frühlingswilden, sommerschwülen Landschaft, den Wäldern und dem Meere, aus dem animalisch-vegetativen Leben der Gutsdörfer steigt, treibt in den jungen Komtessen, die, "kleine berauschte Gespenster, vor Verlangen zittern, draußen umzugehen, und wenn sie hinauskommen, nicht atmen können," treibt in den jungen Baronen, die das Erotische aus den schützenden Konventionen in die Kämpfe und Gefahren sinnlich-seelischer Abenteuer drängt. Keiner dringt durch zur Freiheit, sie fallen oder flüchten zurück. Das Leben wird zum Schatten und Traum: "Man lebt hier, als ob man gleich erwachen müßte, um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen." "Eine dunkle Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft, weiterzuleben; wir sitzen still und warten, bis eins nach dem anderen abbröckelt."

Neben der adeligen und bürgerlichen wird die Zersetzung der bäuerlichen Formenwelt nur von der materiellen Seite episch bedeutsam gestaltet durch Wilhelm von Polenz' "Büttnerbauern" (1895) und Peter Roseggers "Jakob der Letzte". Diese äußere Not der bäuerlichen Welt ist durch die wirtschaftliche Entwicklung behoben, ihrer inneren Zersetzung, die da und dort merkbar wird (vgl. Josef Ruederers Komödie "Die Fahnenweihe", 1895), begegnet der lebendig nahe Zusammenhang mit der Natur, der Landschaft, den Jahreszeiten. Aus ihnen quellen jene Formenkräfte, die das bäuerliche Leben immer wieder von Grund aus aufbauen und erneuern, wie sie Knut Hamsun im größten modernen Bauernroman, einem wahrhaft altepischen Werke, dargestellt hat, im "Segen der Erde". Unseren Bauerndichtern ist die Strenge und Größe dieses Zusammenhanges kaum deutlich geworden. Ganghofer ist oberflächlich und sentimental, auch Rosegger ist in aller Volkstümlichkeit und Liebenswürdigkeit zu unproblematisch im tieferen Sinne — nur die "Schriften des Waldschulmeisters" und "Des Gottsucher" ragen hervor —, Gustav Frenssens einst so berühmte Romane ("Jörn Uhl", 1901) sind zwar voll landschaftlicher Stimmungskunst, aber in der Weltanschauung des liberalen protestantischen Pfarrers zwiespältig und verschwommen, in der Charakterisierung der Hauptpersonen romanhaft, in der Gesamtdarstellung lehr- und predigerhaft, ohne Kraft des Aufbaus, ohne Einheit der inneren Form. Erdkräftiger wurzeln Ludwig Thomas Bauernromane "Andreas Vöst" und "Der Wittiber", sie bleiben aber naturalistisch gebunden. Hermann Stehrs "Heiligenhof" fehlt zur grübelnden Mystik seiner Bauern die natürliche Fülle und plastische Kraft; er ist — wie alle Romane dieses Ringenden — mehr reflektiert als gewachsen.

Über die zersetzten bürgerlichen und adeligen Formenwelten ist die Entwicklung der deutschen Kultur und Epik noch nicht zu neuen Lebensformen vorgedrungen. Die Großstädte sind ebenso formlos geblieben wie die Großstadtromane. Max Kretzers Berliner, Michael Georg Conrads Münchener Romane sind nichts als Stoff und Tendenz. Arthur Schnitzlers Versuch zu einem Wiener Roman großen Stiles, "Der Weg ins Freie", ist in der episch bedeutungslosen Umwelt des Literaten- und Judentums zergangen. Ein Arbeiterroman gleich der Bedeutung von Zolas "Germinal" ist uns nicht geworden. Die Welt der Arbeiter wird sich über Angriff und Verneinung, über die zerbröckelte, materialistische Weltanschauung des Marxismus erst zur eigenen Form durchringen müssen.

Aus der modernen Frauenbewegung hat sich ein besonderer Frauenroman entwickelt. Als Mutter und Gattin ist das Weib der Urgrund der epischen Welt, aber die neue Zeit reißt zahllose Frauen aus dem Frieden der Familie und stößt sie in den Kampf des persönlichen Schicksals. Auch hier sind zersetzte Lebensformen zu überwinden und zu erneuern. Gabriele Reuters (geb. 1859) Romane, "Aus guter Familie" (1895), "Ellen von der Weiden", "Das Tränenhaus" zeugen davon, ohne die Überzeugung stets in Darstellung, die Tendenz in reine Menschlichkeit wandeln zu können. Auch Helene Böhlaus (geb. 1859) polemische Frauenromane, wie "Das Recht der Mutter" und "Halbtier", vermögen das nicht. Wo aber die reine Weiblichkeit ihrer lebensvollen Natur durchbricht, da wachsen aus der lichten Kindlichkeit ihrer Jugenderinnerungen die Weimarer "Ratsmädelgeschichten", aus der leidgeläuterten, warmen Mütterlichkeit ihrer Reife "Der Rangierbahnhof" (1895), der voll tiefster Güte, voll tragischer Schönheit ist.

Klara Viebig (geb. 1860) steht den Problemen des eigentlichen Frauenromans fern; sie ist Naturalistin, die Schülerin Zolas. Elementare Triebe und Gestalten, Massenleidenschaften und Massenszenen sind ihr Feld. Die Eiffellandschaft mit ihren wortkargen, düsteren Menschen, die — einmal geweckt in ihren Leidenschaften — furchtbar ausbrechen, gibt ihr die besten ihrer Romane: "Das Weiberdorf", "Vom Müllerhannes", "Das Kreuz im Venn". Mit scharfer Beobachtung und sicherer Technik packt sie ihre Gestalten und Probleme von außen, mehr eine geschickte Schriftstellerin als formende Künstlerin.

Weit über die Welt der Frauenromane, über die Welt selber hinaus führen die Romane Ricarda Huchs (geb. 1864). Ein durchaus romantisches Lebensgefühl, die Sehnsucht nach Unerreichbarem durchschimmert und durchglüht sie. Aber das Unerreichbare ist hier nicht das Unendliche, sondern das Leben, das in all seiner Schönheit, Kraft und Vollkommenheit doch ein unaufhaltsames, stetiges Vergehen ist. Obwohl alle wissen, wie traurig und flüchtig das Dasein ist, wie "es keinen Sinn hat, die Dinge so fest ans Herz zu schließen, die wir nach einem bangen Augenblick wieder wegwerfen müssen und nie mehr sehen", bleibt es doch aller "Bestimmung und Seligkeit, die himmelhohe Flamme des Lebens mit dem Strahl ihres Wesens zu nähren". "O Leben, o Schönheit!" singt es durch alle Dichtungen Ricarda Huchs. Die "schauerliche Wollust, in der träumerisch spülenden Lebensumflut mitzuströmen", ist die Inbrunst all ihrer Gestalten. "Nimm uns Tote wieder, o Leben," singen die Toten. Der Tod selber singt dem Leben ein Liebeslied.

Eine romantische Natur — so steht Ricarda Huch in Reflexion und Bewußtheit außerhalb der Wirklichkeit. Im Zeitalter der Romantik hätte sie sich sehnend dem Unendlichen zugewandt; im Zeitalter Nietzsches, Bergsons, Simmels lodert ihr Wollen und Sehnen in metaphysischer Glut zum Endlichen, zur Wirklichkeit, zum Leben zurück. Das Leben wird ihr zum höchsten, zum einzigen Wert. Ihre Gestalten sind Kinder der Reflexion und der Sehnsucht wie sie, oder ihr Wunsch und Gegenbild: Kinder des Lebens.

Metaphysisch klingt — nach den noch knospenhaften "Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren" — die Musik von der Schönheit und Furchtbarkeit des Lebens in den Skizzen "Aus der Triumphgasse", kosmisch klingt sie in "Von den Königen und der Krone". Über diese metaphysische und kosmische Gelöstheit drängen die historischen Romane zur Wirklichkeit, zum plastisch Greifbaren, Festbeharrenden. "Die Geschichten von Garibaldi" gestalten den Befreier Italiens zur herrlichsten Verkörperung, zum mystisch-gewaltigen Symbol des Lebens, das alle Lebenssehnsucht der Dichterin strahlend aufnimmt. Wie "ein tragisches Vorspiel" zur siegreichen Erhebung der Garibaldi-Romane klingt "Das Leben des Grafen Frederigo Confalonieri", des dem Tode verfallenen im Kerker begrabenen Helden und Märtyrers. In jenen hatte noch episch-plastischer und lyrisch-musikalischer Stil gewechselt, hier durchdringen sich beide, rein, ruhig, ausgeglichen.

Bald aber drängt die Sehnsucht zur Wirklichkeit Ricarda Huch auch aus dieser Gelöstheit zum einseitigen, seelisch-herbsten Bericht der drei Bände: "Der Große Krieg in Deutschland", die sie nicht mehr Roman, sondern "Darstellung" nennt. Harte Gegenständlichkeit, strengste Unpersönlichkeit geben die unerschöpfliche Fülle des Dreißigjährigen Krieges, der Geschehnisse, der Völker, der Generationen. Historisches, Kulturgeschichtliches, Religionsgeschichtliches, Diplomatisches, Strategisches, Biographisches treibt in endloser Bilderfolge, in gleichgültigem epischem Strom vorüber. Gestalten und Schicksale tauchen auf und sinken unter, ruhelos, übergraut von einem lastenden Himmel, der sich immer tiefer herabsenkt. Der Strom der Individuation selber scheint an uns vorüberzuziehen und uns in erdrückender Traurigkeit die lähmende Frage Friedrich Spees zuzurauschen: "Das eine hatte er erfahren: unermeßlich weit war die Erde von Gott; und wenn sie nun, so fragte er sich zuweilen schaudernd, unerreichbar weit von ihm wäre?"

Aus der Wirklichkeit, die sie hier endlich gefunden, klagt der Dichterin das alte Lied ihrer Seele dunkel und erstarrt entgegen. —

In der Geschichte den tieferen Sinn des Lebens zu suchen, den die zersetzte Gegenwart ihnen vorenthält, ist die Ausflucht mehrerer Epiker geworden, am bedeutsamsten für Wilhelm Schäfer (geb. 1868) im "Lebenstag eines Menschenfreundes". Wie in diesem Pestalozzi-Roman die Wanderung des unermüdlichen Volks- und Menschenfreundes durch Suchen, Irren, Leiden, Verspottung und Verrat zur neuen Menschlichkeit aufwärts dringt, als Landwirt, "Armennarr" und Schriftsteller, als Waisenvater und als Winkelschulmeister, bis endlich der Greis seinen Menschheitsweg erkannt und erkämpft und der europäischen Erziehung erschlossen hat, das ist in ergreifender, reiner Menschlichkeit, in epischer Schlichtheit und Klarheit dargestellt. Die Tapferkeit und Siegkraft dieses einzelnen und Vergangenes wird Vorbild und Aufgabe allen Künftigen.

— — — Gegenüber dem industrialisierten, von Großstädten zersetzten Norden Deutschlands ist der Süden reicher an Unmittelbarkeit, Menschlichkeit, Wurzelkraft geblieben. Emil Strauß und Hermann Hesse wachsen aus diesem Zusammenhang. Emil Strauß (geb. 1866) hat sich Heimat und Fremde, Baden und Brasilien, als Dichter, Bauer und Farmer vertraut und eigen gemacht. Voll männlicher Klarheit und Tatkraft hat er mit dem Leben gerungen, ohne durch Enttäuschung, Leid und Krankheit niedergeworfen oder ungerecht zu werden. In Freiheit, Liebe und Güte blieb er der Sieger. Er sieht und zeichnet die Wirklichkeit in festen, sicheren Linien und überglänzt sie doch mit dem überirdischen Schimmer seines Humors. Im "Engelwirt" schildert er einen Schwaben, der das Schicksal überlisten will, der — da ihm die eigene Frau keinen Erben schenkt — sich in schlauer Ausflucht an die Magd heranmacht. Statt des Buben kommt aber ein Mädel, und Spott und Lächerlichkeit umschwirren ihn. Gekränkt in seiner Schwabenschlauheit und -eitelkeit, geht er mit der Magd und dem Kind heimlich davon nach Brasilien, um dort noch übler genarrt, geprellt, geduckt zu werden. Als die Magd stirbt, kehrt er kleinlaut und zerknirscht heim zur verlassenen Frau, die ihn ohne Staunen, ohne Vorwurf, mit einem schlichten, lächelnden Gruß empfängt, ihm das Kind abnimmt und in selbstverständlicher Fürsorge sich ihm widmet: eine reife, rüstige, Gottfried Kellersche Frauengestalt, voll Freiheit und Wärme. In "Kreuzungen" zeichnet Strauß die Entwicklung dreier junger Charaktere, de aus dem Zufall erster Anlagen und Verhältnisse sich in tapferen Zwisten lösen, ihre Lebens- und Wesensform selber schaffen und sich im Wirkungskreis der Menschheit einen Platz erobern. Im "Nackten Mann" geht er in die Vergangenheit seiner Heimat zurück, ohne die Bedenken gegen den historischen Roman zu überwinden. In "Freund Hein" und im "Spiegel" aber kommt hinter der herben Gegenständlichkeit seiner Welt die tiefe Musik seiner Seele zum klingenden Ausdruck. In "Freund Hein" zerbricht ein Gymnasiast, der in der Welt seiner musikalischen Berufung lebt, an den unnachsichtigen Forderungen einer wesensfremden Wirklichkeit. Im "Spiegel" tönen wie eine zarte Kammermusik Erinnerungen aus dem Leben der Vorfahren auf, eine Lebensmusik von ebensoviel Seelentiefe als Seelenklarheit.

Je näher Hermann Hesse (geb. 1877) der Natur verbunden ist, desto weniger findet er sich in der zersetzten Formenwelt der Zivilisation zurecht Er fühlt sich heimisch in der Naivität des italienischen Landvolkes, der Sorgen- und Selbstlosigkeit des Landstreichers Knulp, der wie die Blumen. auf dem Felde Gott unmittelbar nahe ist. Aus der Heimatlosigkeit der Welt flieht "Peter Camenaind" zu Boppi, dem armen Krüppel, der in seinem Fahrstuhl diesseits allen Lebenszwiespalts geblieben, der in Krankheit, Einsamkeit Armut und Mißhandlung nichts als Liebt und Güte gelernt und "sich ohne Scham schwach zu fühlen und in Gottes Hand zu geben". Und da Boppi stirbt, kehrt er von seinen "paar Zickzackflügen im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung" in sein Heimatdorf, "den alten Winkel zwischen See und Bergen", zurück. In seiner Lade liegen die Anfänge einer Dichtung: "Ich hatte den Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige stumme Lebe der Natur nahezubringen und lieb zu machen. Ich wollte sie lehren, auf den Herzschlag der Erde zu hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind."

So spielen die ersten Bücher Hesses weniger zwischen Mensch und Mensch als zwischen Mensch und Natur. Stimmung, Sehnsucht, Traum und Allgefühl, Wehmut und Einsamkeit sind ihr Gehalt. Die weichen Umrißlinien der Gestalten verschwimmen. Aber über "Gertrud" und "Roßhalde" wächst Hesse zum "Demian", der "die Geschichte seiner Jugend" zum Symbol des gegenwärtigen, suchenden und ringenden Menschenlebens gestaltet. "Die Wertlosigkeit der heutigen Ideale" die Unwahrheit der heutigen Gemeinschaften, der Menschen, die alle "fühlen, daß ihre Lebensgesetze nicht mehr stimmen, daß sie nach alten Tafeln leben", wird nicht in breitem, epischem Fresko, aber in der sehnsüchtigen Entwicklung eines Einzelnen dargestellt. "Diese Welt, wie sie jetzt ist, will sterben, sie will zugrunde gehen und sie wird es." Aber aus ihrem Untergang, aus dem Getümmel und Grausen des Weltkrieges keimt eine neue Gemeinsamkeit. "In der Tiefe war etwas im Werden. Etwas wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen, und mancher von ihnen starb an meiner Seite — denen war gefühlhaft die Einsicht geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele waren ganz zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht dem Feinde, ihr blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich zerspaltenen Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben wollte, um neu geboren werden zu können."

Deutsches Leben der Gegenwart

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