Читать книгу Deutsches Leben der Gegenwart - Paul Bekker - Страница 7

Оглавление

Immer wieder bricht dieser tragische Aufschrei aus Hauptmanns Dramen. "Warum bluten die Herzen und schlagen zugleich?" — fragt Michael Kramer am Sarge seines Sohnes. "Das kommt, weil sie lieben müssen. Das drängt sich zur Einheit überall, und über uns liegt doch der Fluch der Zerstreuung.

Wir wollen uns nichts entgleiten lassen, und alles entgleitet doch, wie es kommt!" Aber aus dem tragischen Leid wächst die tragische Liebe. Über Gräbern und Leichen finden sich schmerzverkrampfte Hände. Der Tod nimmt die Binde von den Augen, von den Herzen, ein milder Erlöser, "der ewigen Liebe Meisterstück".

Im "Glashüttenmärchen", "Und Pippa tanzt" (1906) ist die Sehnsucht des Endlichen Melodie geworden: ein Schimmer aus der Heimat Tizians, ein Blütenkelch aus den Glasöfen Venedigs, eine wehende Flamme: Schönheit! Schönheit, nach der alle verlangend haschen, um die alle tanzen und werben, die dumpf gebundene Kreatur, der alte Huhn, wie der wissende, kühl- und hochentrückte, der greise Wann. Dem sie zu eigen wird, Michel Hellriegel ist der reisende Handwerksbursche des deutschen Märchens, der treuherzige, unbefangene, der Träumer und Dichter, eigen erst als Schatten und Traum, ganz eigen erst dem Erblindeten, der die Augen nach innen aufschlägt, unbeirrt vom Wirrsal der Welt.

Einmal nur, im "Armen Heinrich" (1902), scheint die Liebe nicht erst im Tode zu siegen. In Wahrheit ist auch hier mit dem Leben gezahlt: Ottegebe, sein klein Gemahl, hat es zum Opfer gegeben für den Herrn und Geliebten, ist zu Salern unter dem Messer des Arztes gelegen. Graf Heinrich hat sein Leben dagegen gegeben, als er ihr Opfer zurückwies, als er dem Messer des Arztes Einhalt bot. Da ist der reine, gerade, ungebrochene Strom der Gottheit durch ihn hindurchgegangen, erlösend und auflösend, hat im Wunder der Liebe den Aussatz des Lebens geheilt und ihn aufgenommen "in das urewige Liebeselement".

Vor der metaphysischen Leidens- und Liebestiefe solcher Werke müssen alle Versuche Hauptmanns, auch zur Gestaltung sinnlicher, heidnisch bejahender Lebenskräfte vorzudringen, unzulänglich bleiben, vom Rautendelein der "Versunkenen Glocke" zu Gerusind, "Kaiser Karls Geisel", bis zum "Ketzer von Soana". Ein Christusroman "Emanuel Quint. Der Narr in Christo" (1910) ist die natürliche Frucht dieses Weltgefühls. Ein Armer im Geiste, eines trunkenen Tischlers Stiefsohn, in dem Christus mächtig wird und wiederkehrt in die gegenwärtige Welt, um aufs neue verfolgt, verraten und gemartert zu werden. Alles leidvolle Wissen, alle heilige Liebeskraft Hauptmanns ist in dessen Christusroman eingegangen, aber in der Dumpfheit seiner Umwelt entringt er sich nicht dem Sektierer- und Quäkerhaften, zur Höhe von Dostojewskis "Idiot".

Wie aber Kleist von der tragischen Unbedingtheit seines Lebens und Schaffens ausruht in der sinnlichen Lebens- und Listenfülle des Dorfrichters Adam, in der humorvollen Gestaltung eines parodistischen Heldenkampfes, so ruht Hauptmann im freiem lächelnden Anteil an der amoralischen, ungebundenen, ungebrochenen Natur der Waschfrau Wolff. An Kraft und Geschlossenheit des Aufbaus steht die Diebskomödie "Der Biberpelz" (1893) hinter dem "Zerbrochenen Krug" erheblich zurück; an Kraft und Fülle ihrer Hauptgestalt ist sie ihm nahe verwandt.

Mit "Pippa tanzt" (1906) beginnt die schöpferische Kraft Hauptmanns zu versiegen. Alle späteren Dramen muten — wie auch die Erzählung "Der Ketzer von Soana" — nicht mehr ursprünglich, sondern literarisch an. Es ist bedeutsam, daß "Pippa tanzt" zugleich das letzte Werk ist, das aus dem Boden der schlesischen Heimat wächst. Nie war ein Dramatiker so tief, so schicksaltief der seelischen und sinnlichen Atmosphäre seiner Heimat verbunden. Da er ihr entwächst in die Welt seiner literarischen Erfolge und Interessen, der allgemeinen deutschen und europäischen Geistigkeit, sterben seine tiefsten Wünsche ab. Schon auf der Höhe seiner Kraft war ein großgeplanter Versuch mißlungen, eine Tragödie statt aus der Natur, der seelisch-sinnlichen Natur seiner Heimat, aus der Geschichte aufzubauen: "Florian Geyer" (1896), die Tragödie des Bauernkrieges war trotz gewaltiger Einzelszenen in der Überfülle des Stoffs und der Studien steckengeblieben. Jetzt sucht Hauptmann in fränkischen, italienischen, griechischen, peruanischen Sphären seine verlorene Lebens- und Schaffenskraft wieder — vergebens: er empfängt nur Leben aus zweiter Hand.

Hauptmanns gerader weltanschaulicher Gegensatz ist Frank Wedekind (1864-1918). Ist Hauptmann der Anwalt der unterdrückten Seele, so ist Wedekind der Anwalt des unterdrückten Leibes und Fleisches. Er wendet sich gegen "die Geringschätzung und Entwürdigung" des Fleisches, gegen jene, denen "der Geist das höhere Element, der absolute Herrscher" ist, "der jede selbstherrliche, revolutionäre Äußerung des Fleisches aufs unerbittlichste rächt und straft" ("Über Erotik"). In der Kindertragödie: "Frühlings Erwachen" (1891) — neunzehn locker gereihten, kurzen Szenen im Stile Lenz' und Büchners — gestaltet er die dunklen Wirren und Leiden der Pubertät, der aufwachenden sinnlichen Triebe, die von allen Seiten, von Eltern und Lehren, verleugnet, verdächtigt und mißleitet werden, Gymnasiasten und vierzehnjährige Schulmädel, die auf der gefährlichen Grenzscheide zwischen Kindheit und Reife weglos allein gelassen, aller Unruhe und allem Dunkel der neuen Lebensmächte preisgegeben und in Verbitterung, Tod und Selbstmord hinausgedrängt werden, Kämpfer, die an der Eingangspforte des Lebens fallen. Im "Erdgeist" (1895) formt er dann die volle entfesselte Macht der Triebe. In Lulu zeichnet er die "Urgestalt des Weibes" die schon in der Bibel, im Leben der Kirchenväter und Heiligen immer wieder als das dämonische, verführerische sinnliche Element des Lebens zerstörend auftaucht, die Schlange, "das wahre Tier, das wilde, schöne Tier". "Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, — Zu locken, zu verführen, zu vergiften, — Zu morden, ohne daß es einer spürt". Lulu nennt sie der eine, Nellie, Eva, Mignon der andere; sie hat keinen Namen, wie sie keinen Vater hat: sie ist das Urelement der Schöpfung. Jeder sieht sie anders, legt seine Sehnsucht, seine Seele in sie hinein, behängt sie mit seinen Träumen und Phantasien. Sie aber bleibt "die seelenlose Kreatur". Gleichgültig schreitet sie über das Leben der Männer hinweg, die ihr zu Füßen stürzen, immer neue Opfer fordernd, in rastloser Gier — bis sie demselben Dämon verfällt, der sie getrieben, und (im 2. Teil der "Büchse der Pandora") unter dem Messer Jack des Aufschlitzers endet.

Es war nicht leicht für Wedekind, diesem weiblichen Urbild sinnlicher Schönheit und Wildheit ein männliches zur Seite zu geben. Mit der kulturellen Entwicklung ist die geistige Kraft zum eigentlichen Wesen des Mannes geworden. Aber Wedekind ging in die Welt der Zirkusmenschen und Hochstapler, der elastischen Abenteurer, die in zäher Lebensgier durch Strom und Strudel jagen, untertauchen, nie untersinken, immer wieder in die Höhe kommen. "Der Marquis von Keith" (1900) ist Wedekinds dramatisch stärkste Gestaltung dieses Typus.

In all diesen Dramen kann der Trieb, das Fleisch, nie gegen den Geist kämpfen, da er ihn nicht begreifen, nicht übersehen kann. Vertreter des Geistes, die gegen das Fleisch auftreten — wie Lehrer und Pfarrer in "Frühlings Erwachen" —, sind bloße Karikaturen. Immer kämpfen Triebe gegen Triebe. So kommt es nie zur Klärung und Lösung, sondern nur zur Katastrophe. Der Aufstieg und Absturz des Ideendramas zerfällt hier nach der Zahl der Akte in ebenso viele parallele Krisen und Katastrophen. Auch die Szenen, die Dialoge entwickeln sich eher in linearem Nebeneinander als in einem steigenden In- und Miteinander. Denn diese triebhaften, "unbeseelten Kreaturen" sind ganz in sich gebunden, in die Einsamkeit alles Sinnlichen. Sie reden nicht zueinander, sie sprechen aneinander vorbei. Und so dunkelt über dieser lebensverlangenden, lebensbejahenden Triebwelt die heimliche Melancholie der unerlösten Kreatur, eine Tragik, die tiefer gründet als die äußeren Kämpfe ihrer Instinkte.

Die Bejahung und Verherrlichung des Fleisches, die dem jungen Wedekind quellende Natur ist, wird dem alternden zur Lehre, die er predig und verteidigt. All seinen späten Gestalten gibt er sie in den Mund. Das widerspricht aber dem Wesen dieser triebhaften Gestalten, die nicht über sich theoretisieren können. So zerfällt die durchaus unnaturalistische, großumrissene, sinnenbunte Bildwelt Wedekinds in graue fanatische Deklamationen.

Zwischen den polar bestimmten Werten und Welten Hauptmanns und Wedekinds schwankt die ungewisse Welt Arthur Schnitzlers (geb. 1862). Die Wiener Kultur, schon in Grillparzer voll unsicherer Selbstreflexion, ist ganz Ausgangskultur geworden: ihre Ideenwelt hat den zwingenden Gehalt verloren, nur ihre Formen sind geblieben. Mit ihnen drapiert und maskiert man sich, man spielt mit ihnen. Das Leben selber wird zum Spiel. In lächelnder Skepsis ist man sich dieses Spiels bewußt, sucht man es zu vervollkommnen und auszukosten. Aber die Schwermut lauert über jenen Augenblicken, wo man des Spielens müde ist, wo man auf festem Ideen- und Lebensgrund ruhen möchte und nur erkennt:

Es fließen ineinander Traum und Wachen,

Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.

Wir wissen nichts von andern, nichts von uns.

Wie spielen immer; wer es weiß, ist klug.

In den sieben graziösen Dialogen des "Anatol" (1894) ist diese Skepsis und Müdigkeit, diese Selbstreflexion und weiche Selbstverhätschelung zum erstenmal Wort und Gestalt geworden. Anatol, der junge, verwöhnte Dichter, der "leichtsinnige Melancholiker" der in tändelnden Abenteuern, in "zärtlicher Liebe ohne das Bedürfnis der Treue" sein Leben verträumt, der nur in Stimmungen lebt und so viel Mitleid mit sich selbst hat — keine moralische Forderung, kein Schicksal dürfte an diese Welt klopfen: sie würde in Staub verwehen. Aber da sie ganz in sich verbleibt, nehmen wir lächelnd Anteil an ihrem weichen, morbiden Stimmungszauber, ihrer Liebenswürdigkeit und Gebrechlichkeit.

Die Melancholie, die aus dieser Welt steigt, kann sich nie zur wahren Tragik härten. Auch aus den fröstelnden Schauern des "Einsamen Wegs": "Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet — den Weg hinab gehen wir alle allein", weht weniger Lebenstragik als Lebemannstragik. Aber wenn in diese Welt ein Vorstadtmädel gerät mit der ganzen frischen Innigkeit und Unbedingtheit seines Herzens, die Liebe gibt und sucht in dieser Welt der "Liebelei", dann greift einfache Tragik ans Herz. Christin', die blasse Violinspielerstochter, die ihre Seele hingibt an den leichtsinnig-schwermütigen Menschen, der ihr auch in der tiefsten Stunde wehrt: "Sprich nicht von Ewigkeit. Es gibt vielleicht Augenblicke, die einen Duft von Ewigkeit um sich sprühen... Das ist die einzige, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört", wird zu einem holden Urbild, zu einem unvergeßlichen Klang, daraus die Innigkeit und Traurigkeit eines Volksliedes weht.

Die größeren Kompositionen Schnitzlers lehnen sich an fremde Stile, an Ibsen oder Shakespeare, lösen sich in epische Episoden oder zergehen in dialektische Konversationszenen, deren geistreich-schwermutvolle Feinheit die Menschen mehr verschleiert und verwischt als gestaltet. Nur im "Grünen Kakadu" wird Schnitzler die Ausgangswelt, ja der Ausgangstag des ancien régime (der Tag des Bastillensturms) zum großen historischen Spiegel des Wiener Ausgangs. Ein Irrspiel zwischen Sein und Schein, das den Verfall aller Werte, die Zersetzung aller Seele in grellen Blitzen gespenstig umleuchtet. In einer Pariser Vorstadtspelunke improvisieren Schauspieler zur Aufpeitschung der hochadligen Gäste Verbrecherszenen, die gruselig Spiel und Wahrheit mischen. Wie verfolgt stürzt einer herein und berichtet von seinem frische Taschendiebstahl, von einer Brandstiftung ein zweiter, einem Morde ein dritter, bis Henri, der Genialste Truppe, vorstürmt und aufschreit, er habe eben in der Garderobe den Herzog von Cadignan, den Liebhaber seiner ihm gestern angetrauten Frau, niedergestochen. Die Mitspieler halten es für Wahrheit, die Zuschauer für Komödie, einen Augenblick glauben beide an Wahrheit — während es jäh darauf erst Wahrheit werden soll: der Herzog tritt ein und Henri tötet ihn wirklich. Und indes der Wirt wie allabendlich eben noch in aufreizendem Spiel seine hochadligen Gäste als Schurken und Schweine begrüßt hat, die das Volk hoffentlich nächstens umbringen werde, dringen plötzlich die Bastillenstürmer ein und lassen an der Leiche des Herzogs die Freiheit leben. Hier ist das Lebensgefühl des Ausgangs: "Wir spielen immer; wer es weiß, ist klug", schicksalhaft vertieft, das Schauspielertum des Lebens und der Bühne gespenstig gemischt. Mit höchster künstlerischer Bewußtheit sind die Schauer und Wechsel dieses Irrspiels in die straffe Handlung eines Einakters gebannt.

Wenn für Schnitzler die Bedeutungslosigkeit der überkommenen Formen noch Lebensschicksal ist, für Hugo von Hoffmannsthal (geb. 1874) ist sie nur mehr literarisches Schicksal. Allein in den ersten Dramen "Der Tor und der Tod", "Der Abenteurer und die Sängerin" schwingt noch ihr Erlebnis: Schwermut und Sehnsucht. Das erste eine Dichtung des Neunzehnjährigen: ein junger Mensch, der das Leben zum erstenmal ahnt, da er es lassen muß:

Was weiß ich denn vom Menschenleben?

Bin freiliche scheinbar drin gestanden,

Aber ich habe es höchstens verstanden,

Konnte mich nie darein verweben...

Stets schleppt ich den rätselhaften Fluch,

Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt,

Mit kleinem Leid und schaler Lust

Mein Leben zu erleben wie ein Buch.

Aber, da er dem Tode, der ihn zu rufen kommt, entgegenhält: "Ich habe nicht gelebt!" zeigt der ihm, was an Leben und Liebe sein gewesen: unter den Geigenklängen des Todes schweben die Schatten der Mutter, des jungen Mädchens, des Freundes vorüber, die einst in Sorge und Liebe sich um ihn mühten, ohne daß er ihrer geachtet. Er war der "Ewigspielende", "der keinem etwas war und keiner ihm". Erst der Tod lehrt ihn das Leben sehen — die süße Schwermut eines Frühlingsabends webt um diese jungen, goethisierenden Verse; aus weich-verhangener Ferne träumt Musik. Im "Abenteurer und die Sängerin" schimmern die Farben und Wunder Venedigs auf. Auch hier eine ausgelebte Welt. Auch hier ein Ewigspielender: Casanova. Fünfzehn Jahre nach einem seiner vielen Liebesabenteuer kreuzt dieser flüchtige Faltermensch die Lagunenstadt und sieht die einst Geliebte, die er zum Leben erweckt, die ihm glücklichste Stunden geschenkt, als Gattin eines anderen wieder und neben ihr seinen Sohn. Wenige festliche Stunden, wenige in Traum, Süße, Wehmut und Erinnerung aufschimmernde Worte. Und darüber die Schatten des Alters und der Vergänglichkeit.

Je mehr in den späteren Dramen Hoffmannsthals der Lebensgehalt versickert, desto üppiger wuchert ihre Form. Die leere Lebensform des ausgehenden Wien wird zur leeren literarischen Form, einer üppigen barocken Form, die Leben aus zweiter Hand, aus Sophokles, Otway, Molière überrankt. Der sittliche Gehalt der Sophokleischen Elektra, das tragische Rächeramt der Kinder an der eigenen Mutter, des Vaters Mörderin, wird — jenseits aller Weltanschauung — zu einer dekorativen, schwelgerischen, brandroten Orgie in Haß, Blut und Rache. Bedeutsam bleiben — wie bei d'Annunzio, dem er nahekommt — die artistischen Werte Hofmannsthals: sein Anteil an der Entwicklung deutscher Sprachkunst.

Klingt bei Hofmannsthal Wortmusik, bei Richard Beer-Hofmann (geb. 1866), dem dritten und tiefsten der Wiener, klingt Seelenmusik. In hinreißendem Adagio entquillt sie seinem ersten Drama, dem "Grafen von Charolais" (1904), obgleich es einer alten englischen Vorlage Massingers und Fields unglücklich verbunden ist, obgleich es daher in zwei Teile zerbricht, obgleich die Requisiten des alten Stücks, Leichen, Pfändung, Ehebruch, Mord, Selbstmord, sich peinlich häufen. Da ist nicht mehr die Melancholie des Ästheten, da ist eine wehe Weisheit, eine milde Güte, eine dunkel-goldene Traurigkeit, aus Tiefen, die seit Gerhart Hauptmann keiner mehr durchmessen hat. Nur das Vorspiel zu einem Dramenzyklus, zur "Historie von König David", ist seitdem erschienen: "Jaákobs Traum" (1918), eine symphonische Dichtung von einer seelischen und religiösen Gewalt, die sie hoch über die Zeit emporträgt. Die Würde und Tragik der Berufung ist ihr Thema, Jaákobs Ringen mit Gott auf dem Berge Beth-El ihr biblischer Stoff. Wenn der musikalischen und metaphysischen Gewalt dieses Vorspiels die Kraft der Menschengestaltung in der Trilogie entspricht, so wird Beer-Hofmann in schöpferischer Erneuerung alttestamentlicher Symbole der deutschen Dichtung das religiöse Drama erobern helfen.

Hauptmann und in minderem Grade auch Wedekind, Schnitzler, Beer-Hofmann erleben die Welt unmittelbar in weltanschaulichen Gegensätzen und in Gestalten, die sie verkörpern und ausfechten. Fast allen jüngeren Dramatikern ist dieses überpersönliche, weltgroße Erlebnis fremd; sie erleben einseitig, subjektiv, nur vom Gefühl oder vom Intellekt aus, und so kommt es nur zu lyrisch-balladesken oder dialektischen Spannungen.

Herbert Eulenberg (geb. 1876) bleibt ganz in dumpfen Gefühl befangen. Seine Helden sind immer die gleichen Typen und leben nur im Schwellen und Ausschwingen ihrer Gefühlsdurchbrüche. Er erlebt nur in einer Richtung und nur in einem Menschen; die anderen Menschen sind ohne eigene Lebens- und Gegenkraft für Eulenberg wie für seine Helden. Einsam steht der Eulenbergsche Mensch im All; fremde Mächte werden in ihm wach und jagen ihn in die dunkle Hölle seines Blutes und seiner Träume; sie verfolgen und erfüllen ihn, wachsen, rasen und toben in ihm, bis sie seine Form zersprengen oder in vernichtenden Taten den Ausweg suchen. Von außen her dringt nichts in diesen Vorgang ein. "Ich höre nichts außer mir", sagt einer der Helden; "ich brenne in mir ab", ein anderer. Die Gegenspieler sind keine ursprünglichen Gestalten, sind nur Blutbilder des eigenen Innern. So wird kein Drama, so kommt es nur zu monologischen, lyrisch-balladesken Wirkungen, zu Farben und Stimmungen.

Der Gegenpol Eulenbergs ist Karl Sternheim (geb. 1881). Er geht ganz vom Intellekt aus. Er erlebt nicht, er erkennt nur. Sein literarischer Ehrgeiz will stilisieren, zu Typen vordringen. Aber einen Typus gewinnt er nicht durch Fülle und Verdichtung des Persönlichen, sondern durch Konstruktion und Illustration eines Begriffs. Kurze Zeit weiß seine Beobachtung, seine literarische Erinnerung die Stilisierung durchzuführen, dann entgleiten und brechen die Linien, die Personen werden zu Karikaturen. Eine Komödie wie "Der Snob" ist in ihrer inneren Unwahrheit, ihrer Literaten- und Theaterkunst, gar nicht so weit von Blumenthal und Kadelburg; sie ist nur geistreicher und boshafter. Seiner Menschen-wie seiner Weltanschauung fehlt der organische Anteil, das Ethos, die Liebe. Es genügt nicht, die Welt lächerlich zu machen. Humor, nicht Witz ist das Zeichen des Schöpfers. Jede Anschauung will im Zusammenhang einer Weltanschauung, jede Eigenschaft im Zusammenhang einer Seele, jede Verzerrung im Zusammenhang eines Ideals gedeutet und gestaltet werden. Auch der Satiriker lacht und spottet nicht aus dem Gefühl billiger Überlegenheit, sondern aus dem Gefühl der Verantwortung und der Liebe.

Über Wedekind und Sternheim führt der Weg Georg Kaisers, (geb. 1878). Auch er ist ein Intellektueller, ein ehrgeiziger Literat, ein Formenkünstler. Ohne ein ursprüngliches Wesenszentrum überläßt er sich den wechselnden Strömungen der Zeit. Von der Verherrlichung des Fleisches à la Wedekind ("Rektor Kleist", 1905) gelangt er zum ideal platonisierten Denkdrama "Die Rettung des Alkibiades" (1919). "König Hahnrei" und die "Jüdische Witwe" stellen die tragischen Konflikte Tristans oder Judiths in frecher Jongleurkunst auf den Kopf. "Die Bürger von Calais" wissen klug errechnete tragische Situationen rhetorisch auszukosten. "Die Koralle" und "Gas" diskutieren die sozialen Probleme der Gegenwart. An artistischem Können ist Kaiser Sternheim bald voraus; er ist reicher, beweglicher, energischer. Aber es ist die Hast der Nerven, die Psychologie des Intellekts, die Technik des Films. In den sozialen Dramen — der Sphäre der Massen und Maschinen — werden der Bau mathematisch, die Menschen mechanisch, die Sprache zum Telegramm. Ein Druck auf die Feder — und das Werk läuft ab: Rede und Gegenrede, Bewegung und Gegenbewegung. Mit virtuoser Technik wird die ganze soziale Stoffmasse in diesem Rädertreiben zermahlen. — Und schließlich fallen in der "Rettung des Alkibiades" auch die Schemen dieser Gestalten; in Anlehnung an den platonischen Dialog wird das Menschenspiel zum Denkspiel, die Dramatik zur Dialektik.

Über diese Artisten ragt Paul Ernst (geb. 1866) an Ethos der Kunst- und Weltanschauung, aber ihre intellektuelle Gebundenheit weiß er nur ins Geistige, nicht ins Künstlerische zu lösen. Er kommt vom naiven Naturalismus seines Freundes Holz und will mit Wilhelm von Scholz (geb. 1874), der von der Neuromantik und Mystik herkommt, einen "neuklassischen" Stil im Drama begründen. Über Shakespeares individuelle Gestalten und Probleme will er zur reinen Typik der Griechen zurück. Aber er ist ein Kunstdenker, kein Kunstschöpfer; er gibt geistige Grundrisse statt organischer Gestalten. Tiefer im Lebensgrunde wurzelt Scholz, zumal in der zweiten Fassung seiner Tragödie "Der Jude von Konstanz" (1913), die der Hauch Hebbelscher Tragik durchweht.

Ein großes Drama wächst nur aus einer großen, ursprünglichen Weltanschauung. Wie die Lebensformen der Mutterboden der epischen, so sind die Weltanschauungsformen der Wurzelgrund der dramatischen Kunst. Mit dem Weltkrieg brachen die Lebens- und Anschauungsformen des materialistischen und rationalistischen Zeitalters zusammen. Aus seinem Chaos schrie die gemarterte Seele nach ihrem Recht. Jünglinge ballten ihren Aufschrei zum "expressionistischen" Drama, Walter Hasenclever im "Sohn", Richard Goering in der "Seeschlacht", am stärksten Fritz von Unruh in "Ein Geschlecht". Lyrische Entladungen, Konfessionen, Predigten und Prophetien gaben sich dramatisch. Des späten Strindbergs unnachahmliches Traum- und Seelendrama ("Traumspiel", "Nach Damaskus") wurde unbedenklich zum Vorbild genommen. Über den zerfallenen Formen recke sich der befreite, von Urgefühlen trunkene Mensch empor, der Mensch schlechthin, der sich eins weiß mit seinen Brüdern, nach Seele, nach Gott, nach einer neuen wahren Gemeinschaft des Geistes. Aber ekstatische Schreie, rauschvolle Aufrufe, die Auflösung aller Lebensmächte in e i n trunkenes Urgefühl führen höchstens zur lyrischen Grundform. Dies neue Menschheitsgefühl will erst in der Wirklichkeit erhärtet, vertieft und geklärt, in Zwieklang seiner Gegenmächte begrenzt und behauptet und in ursprünglichen Gestalten objektiviert sein, ehe es zu einem neuen Drama fruchtet.

Deutsches Leben der Gegenwart

Подняться наверх