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Neue Bekanntschaft

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Kalle streift die Ärmel seiner Jacke hoch. Gerade ist die Nachmittagssonne hinter den Wolken hervorgekommen und heizt die Sandgrube auf. Kalle räumt heute einen Abschnitt des Areals auf, in der der Plunder schon seit ewigen Zeiten zu liegen scheint. Halb schauen alte Eisenteile heraus, halb hat sie die Grube schon in ihrem sandigen Magen verschlungen. Kalle entreißt ihr diese Happen wieder. Keuchend zieht er die Sachen aus dem Sand. Bei manchen muss er sogar mit einer Schaufel nachhelfen. Anschließend wirft er alles im hohen Bogen in den Container.

Gerade hat er eine etwa Schuhkarton-große Holzschachtel ausgebuddelt und will sie zum übrigen Krimskrams werfen. Doch ein gläsernes Klappern im Inneren der Schachtel lässt ihn innehalten. Glas soll er trennen, denn das geht besser in die Altglassammlung, sagt der Kontrolleur immer, der Kalles geleistete Stunden bestätigt.

Das Holz der Schachtel ist morsch. Schnell ist sie mit einer Zange aufgebrochen. Kalle hat immer etwas Werkzeug dabei, falls sich etwas störrisch anstellt, bevor es in den Container wandert. Zweimal die Zange angesetzt und schon offenbart sich der Inhalt: es ist eine Sanduhr. Ihr Glas funkelt im Sonnenlicht in tausend Farben. Kalle ist sonst nicht so schnell zu beeindrucken, aber dieser Fund hier fasziniert ihn. Er schaut sich den vorzeitlichen Zeitmesser von allen Seiten an. Seltsam, für eine Sanduhr ist wenig Sand darin. Es ist nur ein kümmerlicher Rest. Wahrscheinlich ist sie undicht, also unbrauchbar. Kalle holt aus, um sie in die Glaskiste zu werfen. Doch sie erreicht ihr Ziel nicht. Von hinten greift ihn jemand mit Krallen-dünnen Fingern am Arm. Kalle erschrickt, reißt sich instinktiv los und macht einen Satz zur Seite – alles in einer einzigen schnellen Bewegung. Die Sanduhr hält er dabei in fester Umklammerung.

Kalle mustert die Gestalt, die ihn eben noch am Arm gegriffen hat. Sie ist von großer Statur. Ihr bleiches Gesicht versteckt sie halb unter einer Kapuze, die zu einem weiten dunklen Gewand gehört. Erlaubt sich hier jemand einen Scherz? In einer Mönchskutte bei dem Wetter? Ist der Kontrolleur heute zu früh dran und kommt auf dem Weg zum Fasching bei ihm vorbei? Doch dafür ist nicht die rechte Jahreszeit und überhaupt erstirbt dieser Gedanke vollends, als der Typ anfängt zu reden. „Hab keine Angst“, beschwichtigt er den verunsicherten Kalle. Seine Stimme ist dabei so tief, als käme sie geradewegs aus einer schaurigen frostigen Gruft.

Der Mann fixiert Kalle mit seinem Blick, den er aus Echsen-gleichen Pupillen abschießt. Doch im nächsten Moment wendet er sich ab, halb entschuldigend für den scharfen Blick. Er genießt die Landschaft, so wie ein Bergwanderer, der den Gipfel nach kräftezehrendem Aufstieg erreicht hat und die Aussicht als Belohnung in Empfang nimmt. Es scheint, als ob dieser Wanderer eine Weile auf Reisen gewesen ist und jetzt zurückkehrt.

Die Gestalt geht ein paar Schritte und setzt sich dann auf einen Stapel noch verwendbarer Ziegelsteine, den Kalle beim Aufräumen angehäuft hat. Mit einer Handbewegung lädt sie Kalle ein, sich danebenzusetzen und Bekanntschaft zu schließen. Kalle zögert. Wieder richtet die Gestalt ihren durchdringenden Blick auf ihn. Der wirkt: Kalle setzt sich wie ferngesteuert in Bewegung. „Ich habe etwas für dich, Karlheinz“, flüstert der Kuttenträger. „Woher kennen Sie meinen Namen?“, fasst Kalle etwas Mut, schließlich scheint ihn sein Gesprächspartner zu kennen.

„Ich weiß so einiges“, antwortet Kalles Überraschungsgast vielsagend und winkt ab. „Ich bin schon lange hier in der Gegend und kenne viele Leute. Einige von ihnen sind harmlos, andere sind mir in die Quere gekommen.“ Jetzt steht er auf und geht rastlos auf und ab. „Es gibt welche, die habe ich bestraft und es gibt andere, die haben es mir heimgezahlt. Ich musste eine Weile weggehen, aber jetzt komme ich nach Hause.“

Damit setzt er sich wieder neben Kalle. Die nächsten Worte flüstert er fast: „Und ich bin schon in den Köpfen von denjenigen, die mir in die Quere gekommen sind, und in den Köpfen ihrer Freunde. Du kennst sie.“

Kalle wähnt sich im falschen Film: ein Wildfremder erzählt ihm seine Geschichte und labert von einem Angebot, von Verbannung, Rückkehr und Köpfen und überhaupt macht er keinen sonderlich vertrauenswürdigen Eindruck. Aber irgendetwas scheint Kalle an seinem unbequemen Sitz auf dem Steinstapel festzuhalten; er kann es nicht genau sagen. Der Sanduhr und auch diesem Kuttenwesen haften eine seltsame Anziehungskraft an.

Die Gestalt fährt fort: „Du kennst Gerd Hauptmann.“ Kalle nickt. „Du kennst auch Heidi und Peter.“ Kalle nickt wieder. „Sie haben dir das Buch und dein Leben im Sonnenschein deiner Clique geraubt.“ Kalle schlägt den Blick nieder. „Siehst du, und ich biete dir die Rückfahrkarte in dein früheres Leben.“ Ein Windhauch zerrt an der Kapuze, die Gestalt zieht sie zurecht, so als fürchte sie einen zu genauen Blick. Kalle zieht die Augenbrauen hoch, als wollte er ein Fragezeichen auf seine Stirn malen: „Wie soll das gehen?“ – „Erinnerst du dich an das Buch von Hauptmann?“

Und ob sich Kalle daran erinnert! Das enthielt viele coole Zaubersprüche und schoss Kalles Fähigkeiten in neue Sphären empor. Es ließ ihn sein Moped beherrschen. Mit ihm war Kalle der King. „Das beschaffe ich dir“, sagt das Wesen. Kalle zweifelt: „Aber es ist sicher gut versteckt!“ Sein Gegenüber winkt ab: „Ich habe viele Möglichkeiten.“ Und schon fährt er seine dürre Hand aus und richtet sie auf die einige Meter entfernte Holzkiste, die bei Kalles Sanduhren-Befreiungsversuch kaputtgegangen ist. Wie von Geisterhand fügen sich die zerschlissenen Teile zu einem heilen Ganzen zusammen. Zum krönenden Abschluss fliegt die Kiste wie von einem unsichtbaren Bogen geschnellt in die Hand der Gestalt. Sie gibt sie weiter an Kalle, für die Sanduhr.

Kalle wagt es nicht zu fragen, wer oder was sein Gegenüber ist. Es könnte ein Geist, ein Gespenst, ein Kobold, vielleicht gar ein Vampir sein … „Und was wollen Sie von mir dafür?“, ahnt Kalle den Haken. Der Kuttenmann zeigt wortlos auf die Sanduhr. „Aber warum nehmen Sie sie sich nicht einfach?“ – „Ich bin ein Geist. Ich kann vieles tun, aber nicht alles.“ Jetzt klingt er wie jemand, der zu Hause den Müll rausbringen soll, aber keine Lust hat. Doch Kalle dreht diesem respektlosen Gedanken sofort den Strom ab. Schließlich steht ein Geist vor ihm! Und der tritt mit düsterer Würde auf.

Jetzt steht er auf und blickt wieder in die Landschaft. Doch schon im nächsten Moment dreht er sich wieder um und redet auf Kalle ein: was er da gefunden habe, sei ein in früheren Zeiten verlorener Schatz, ein überaus mächtiges Werkzeug, ebenso mächtig wie Hauptmanns Buch. Es sei eine Sanduhr, mit deren Hilfe man sich in der Zeit bewegen kann. Man müsse nur ein Datum auf das Uhrenglas malen, die Uhr umdrehen und sobald der Sand durch die Öffnung rinnt, würde man auf dem Zeitstrahl an den gewünschten Tag geschossen.

Kalle bekommt leuchtende Augen: „Kann ich es ausprobieren?“ Der Geist schüttelt den Kopf: „Die Uhr ist leer. Wir brauchen besonderen Sand, Zaubersand, sonst gibt es keine Reise.“ Die Gestalt macht eine Pause, während der Kalle angestrengt das kostbare Stück in seiner Hand betrachtet. „Hilf mir, den Zaubersand zu bekommen und lass uns durch die Zeit reisen!“ Jetzt breitet die Gestalt ihre Arme aus, lässt ihr Gewand wie zur Bekräftigung im Wind fliegen. Sie beschwört Kalle: „Alle ist möglich! Wir können Hauptmann alles heimzahlen, wir können ihm im richtigen Moment sein Buch abluchsen und uns an seinen Verbündeten Peter und Heidi rächen. Wenn ich meinen Fehler von damals korrigiere und Heidi nicht zum Geist mache, dann bleibt sie ewig im Mittelalter stehen und kommt gar nicht erst in die heutige Zeit.“ Kalle spürt, wie die Verlockung die Oberhand über seine Zweifel bekommt. Sein Widerstand löst sich. Er hört sich sagen: „Okay, wenn ich Laura wiederbekomme.“

Wie bucht man eine Zeitreise?

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