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2Kraft

Der weiche Kern

Es erscheint logisch, bei der Untersuchung eines Traumas mit dem Verlauf und den Auswirkungen der Traumatisierung zu beginnen. Die Überwindung der Traumatisierung wäre dann der nächste Schritt. Ein solches Vorgehen ist möglicherweise logisch, sicher ist es nicht.

Um die eigene Machtlosigkeit sicher und produktiv untersuchen zu können, müssen Sie zuerst wenigstens ansatzweise Ihre eigene, wahre Stärke erlebt haben. Und um Einengung und Einschränkung als Ergebnis Ihres eigenen Verhaltens und Handelns zu verstehen, brauchen Sie die Erfahrung eigener Ausdehnung und Offenheit, um über ein Vergleichsgefühl zu verfügen.

Bevor ich damit beginne, mit meinen Klienten ihre gewohnheitsmäßigen Reaktionsmuster zu bearbeiten, verwenden wir erst einmal viel Zeit auf die Entwicklung und Pflege neuer Fähigkeiten, von Kraft und Liebe. Kraft und Liebe sind expansiv und symmetrisch, sie sind das Gegenteil und das Antidot von Kleinheit und Verbiegung. Wir werden deshalb die somatische Arbeit in diesem Buch mit einigen Übungen beginnen, die Ihnen eine Erfahrung Ihrer eigenen Kraft verschaffen.

Die Natur von Macht und Ohnmacht

Der Weg, auf dem die Gewohnheit der Selbsteinengung durchbrochen werden kann, besteht darin, Stärke* zu erlernen. Stärke und ein offenes Herz ändern alles. Einer Bedrohung dadurch zu begegnen, dass Sie in einer bestimmten Situation die Wahrheit über diese Situation aussprechen, Ihre Gefühle und Bedürfnisse artikulieren und NEIN sagen – das ist Stärke. Den Arm eines Angreifers zu brechen, wenn er Sie weiter bedrängt – das ist Sicherheit.

Machtlosigkeit bedeutet Einschränken der Atmung, Anspannen der Muskeln, Schrumpfen der Haltung. Machtlosigkeit beinhaltet Muster der Körperempfindung, Haltung und Bewegung, die verkleinernd und unregelmäßig sind. Diese Muster sind beengt oder kollabiert, schief oder verdreht. Der Zustand der Stärke hingegen ist ein Zustand der Ausdehnung und der Symmetrie.

Der souveräne, zentrierte Zustand ist offen, strahlend, kraftvoll, weich, stabil, fließend, massiv, leicht, balanciert und gleichmäßig. Dieser Zustand ist gleichermaßen physisch, emotional und spirituell. Körperliche Lernprozesse führen zur Erfassung der emotionalen und spirituellen Aspekte der Souveränität.

Macht ist die Fähigkeit, die eigene Umgebung so zu kontrollieren, dass die eigene Sicherheit gewährleistet ist und eigene Wünsche und Bedürfnisse gesichert sind. Macht beinhaltet die Elemente Zwang und Kontrolle. Souveränität hat mit körperlichen Qualitäten wie Solidität, Gewicht, Erdung, Entschlossenheit und Spannkraft zu tun. Diejenige Organisiertheit des Körpers, die physische Stärke hervorbringt, ist ebenso die Quelle emotionaler und personaler Stärke und damit des Vermögens, im Leben kraftvoll zu handeln.

Viele Menschen glauben, Macht sei etwas wesentlich Schlechtes. Wir alle haben schon einmal den Satz gehört: „Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut“. In Wahrheit sind der Missbrauch und die Rücksichtslosigkeit, die oft als Merkmale von Machtausübung gelten, lediglich ein Ausdruck von Angst und Schwäche. Echte Macht, echte Stärke ist nicht schlecht, sie ist liebevoll und nährend.

Es ist wichtig, dass die Stärke, die Sie aufbauen, eine Verbindung mit Ihrer Fähigkeit, zu lieben, eingeht. Macht ohne Liebe kann sich nur brutal äußern, Stärke, die in Liebe wurzelt, heilt. Wenn Sie brutal werden, verletzen Sie sich selbst. Missbrauchsüberlebende werden oft jede Form der Machtausübung ablehnen, weil sie Macht und Stärke nur in Verbindung mit Brutalität kennen gelernt haben und sich den Tätern nicht gleichmachen wollen. Es gibt aber eine warmherzige, liebevolle Stärke, die Grundlage jeder Humanität ist. Sie können – wenn Sie sich beispielsweise verteidigen müssen – jemandem respektvoll und mit offenem Herzen, sagen wir, den Arm brechen. Es wird in diesem Buch oft darum gehen, wie Sie Stärke und Liebe integrieren können.

Solange Sie schwach und machtlos bleiben, kann der Schmerz nicht verheilen. Was für Gefühle, welches Verhalten auch immer Ergebnis des Ihnen zugefügten Missbrauchs sind: Die Verhaltensweisen, die Sie entwickelt haben, waren für Sie der vermeintlich beste oder einzige Weg, um die Schmerzen zu ertragen und zu überleben. In der Empowerment-Arbeit lernen Sie, in sich einen zentrierten Zustand der Selbstmächtigkeit zu schaffen, aus dem heraus Sie anders handeln können, als es Ihre alten Gewohnheiten, Ihre Angst und Ihre Schwäche erlaubten.

Viele Überlebensstrategien sind in Wirklichkeit Ausdruck von Machtlosigkeit. Dissoziieren oder tagträumen, die eigenen Körperempfindungen nicht wahrnehmen, zu viel essen, rauchen, Alkohol trinken, zu viel üben oder trainieren, alle diese Verhaltensweisen können als Betäubungsmittel fungieren und dabei helfen, zu überleben. Diese Strategien sind ihrerseits schmerzhaft und zerstörerisch, obwohl die Missbrauchsfolgen damit effektiv unter Kontrolle gehalten werden können. Überlebende zahlen einen hohen Preis für ihre Wahl. Strategien, die funktionieren, aber wehtun, können Sie nicht aufgeben, solange Sie sich weiter machtlos machen. Sie werden dysfunktionale Bewältigungsmuster nur überwinden, wenn Sie durch neue Handlungsmöglichkeiten, die als Werkzeuge des Überlebens deutlich wirksamer und bequemer sind, ersetzt werden.

Es ist notwendig, die Bewältigung realer Missbrauchssituationen zu üben. Wenn Sie angebrüllt werden, müssen Sie lernen, weiterzuatmen. Sie müssen eine zentrierte Haltung bewahren und die Person, die Sie anbrüllt, auffordern, damit aufzuhören. Wenn Sie geschlagen werden, müssen Sie entspannt und wachsam bleiben, den Schlag abwehren und die Erfahrung machen, dass Sie einen Angreifer physisch kontrollieren können. Wenn Sie verlassen werden, müssen Sie Ihre persönliche Wahrheit formulieren und aussprechen. Sie müssen die für das Überwinden der Verlassenheit notwendigen praktischen Schritte unternehmen, neue Bindungen herstellen und etwas finden, das Sie nährt.

Lernen Sie, vollkommen bewusst, entspannt, wachsam und voller Liebe zu bleiben, und üben Sie, aus dieser inneren Verfassung heraus die Herausforderungen der Welt zu meistern. Diese Verbindung innerer Ganzheit und äußerer Meisterschaft wird auch alte, tiefe Wunden schließen und dauerhaft heilen.

Der Bauch

Beginnen Sie Ihren Weg, indem Sie Ihr Bewusstsein für das Zentrum Ihres Körpers entwickeln.

Entspannen Sie Ihren Bauch Experiment / Praxis

Stehen Sie für einen Moment auf und gehen Sie herum. Wie fühlt sich Ihr Bauch an? Ziehen Sie den Bauch ein? Viele Menschen spannen den Bauch an und ziehen ihn ein. Falls auch Sie das tun: Wie beeinflusst es Ihre Atmung? Wie geht es Ihnen mit Ihrem Bauch? Manche Menschen schämen sich für ihn und versuchen, ihn zu verstecken oder kleiner zu machen.

Um Ihre Achtsamkeit dafür zu schärfen, welche Haltung Sie im Zentrum Ihres Körpers einnehmen, spannen Sie gleichzeitig den Bauch, den Schließmuskel und die Genitalien an und gehen Sie wieder ein paar Schritte. Spannen Sie diese Muskeln wirklich fest an. Wie beeinflusst das Ihre Bewegungen? Nehmen Sie wahr, wie steif sich Beine, Hüften und unterer Rücken, wie anstrengend sich alle Bewegungen anfühlen. Nehmen Sie wahr, wie sehr Ihre Atmung eingeschränkt wird.

Nebenbei: Achten Sie, während Sie diese Übung machen, darauf, dass Ihre Kleidung bequem und locker sitzt. Andernfalls wird ein dauernder Druck auf Ihren Körper ausgeübt, auf den Ihre Muskeln unwillkürlich mit Anspannung und Widerstand reagieren. Egal, ob Sie diese Spannung wahrnehmen oder nicht: Es wird schwierig für Sie werden, Ihren Bauch zu entspannen. Nehmen Sie es als eine Grundregel, dass lockere, bequeme Kleidung sowohl zum Entspannen als auch bei den anderen in diesem Buch behandelten Themen hilfreich ist.

Bleiben Sie jetzt stehen. Spannen Sie Ihren Bauch an, entspannen Sie ihn wieder und wiederholen Sie dies einige Male. Beim Entspannen des Bauches lassen Sie ihn nach vorne fallen.

Versuchen Sie als Nächstes, Ihren Bauch loszulassen, ohne ihn vorher anzuspannen. Gan gleich, wie Sie Ihren Bauch normalerweise halten, lassen Sie ihn einfach weit werden und nach vorne plumpsen. Erlauben Sie Ihren Genitalien und Ihrem Schließmuskel bewusst, sich zu entspannen, während Ihr Bauch weich wird. Löst sich die Spannung, obwohl Sie den Bauch vorher nicht gezielt angespannt haben? Wie fühlt es sich an, wenn Sie den Bauch vollkommen loslassen?

Die meisten Menschen empfinden eine deutliche Entspannung, selbst wenn sie ihre Muskeln vorher nicht bewusst anspannen. Sie schließen daraus, dass sie sich unbewusst anspannen und das wahrscheinlich immer.

Versuchen Sie noch einmal, mit einem weichen Bauch herumzugehen. Was empfinden Sie? Die meisten Menschen spüren eine größere Leichtigkeit, flüssigere Bewegungen und deutlicheren Bodenkontakt beim Gehen. Und so sollte Gehen sein – nicht angespannt und beengt. (Gelegentlich fühlen sich besonders steife Menschen unwohl, wenn sie ihre Bauchmuskeln entspannen. Das liegt daran, dass ihre gesamte Haltung und der Rest des Körpers nicht ebenfalls entspannt sind, nachdem sie den Bauch losgelassen haben. Falls Sie ein derartiges Unwohlsein verspüren, geben Sie sich etwas Zeit. Wenn Sie die Übungen dieses Buches machen, werden Sie sich nach und nach deutlich besser fühlen.)

Hat man Ihnen irgendwann einmal gesagt, Sie sollten Ihren Bauch einziehen? Anatomisch ist das Unsinn. Allerdings scheint es sich bei diesem Unsinn um einen kulturellen Imperativ zu handeln. Wenn man den Bauch einzieht, ruft das körperliche und emotionale Anspannung und Beklemmung hervor, selbst wenn es einem ganz normal vorkommt und man so daran gewöhnt ist, dass man es nicht mehr wahrnimmt. Warum ermutigt man uns, etwas zu tun, das steif und schwach macht? Uns allen ist beigebracht worden, es sähe besser, hübscher, gefälliger aus, wenn wir den Bauch einziehen.

Denken Sie einmal kurz darüber nach. Wann ziehen wir natürlicherweise den Bauch ein? Wenn uns etwas erschreckt. Den Bauch anzuspannen und einzuziehen ist Teil einer Angstreaktion, des Schreckreflexes. Kommt es Ihnen nicht auch seltsam vor, dass wir alle fortwährend aufgefordert werden, in einer Haltung der Angst, des Erschreckens zu leben?

Wenn Sie Ihren Körper in einem Bereich anspannen, wird sich das immer auf die gesamte Physis unangenehm auswirken, aber die Bauchmuskeln und die Muskulatur des Beckenbodens mit Genitalien und Anus sind besonders wichtig. Sie sind der Kern des Körpers, das Zentrum von Bewegung und Balance. Sind diese Körperregionen chronisch angespannt, wird es unmöglich, sich zu entspannen und sich frei, stark und bequem zu bewegen.

Möglicherweise wird Ihnen gerade jetzt etwas seltsam zu Mute. Empfehle ich Ihnen tatsächlich, den Bauch entspannt zu lassen? Ja, in der Tat. Ich weiß, dass es vielen Menschen unangenehm ist, über ihren Körper oder ihre Gefühle zu reden. In unserer Kultur wird der (naturgegebene) Körper oft als „schlecht“ angesehen. Bauch zu haben ist schlecht. Jeder will flach sein, um ihn loszuwerden. Noch schlimmer wird es, wenn über das Becken, die Genitalien und die Schließmuskeln geredet wird, unsere „Scham“, es ist unhöflich, sie zu erwähnen.

Es ist in unserer Kultur nicht erwünscht, über den Kern des Körpers zu sprechen. Es ist nicht in Ordnung, einen natürlichen, runden, entspannten Bauch zu haben. Einziehen! Hochziehen!! Aber betrachten Sie einmal kleine Kinder. Deren Bäuche sind weich und frei, und das ist die anatomisch natürliche Seinsweise.

Für Missbrauchsüberlebende ist es ungleich schwieriger, über ihr Körperzentrum zu sprechen. Viele Überlebende eines sexuellen Missbrauchs haben die Erfahrung gemacht, dass in ihren Unterleib eingedrungen wurde, und sie erleben Sexualität und sexuelle Erregung als grenzverletzend und demütigend. Auch Überlebende eines nicht-sexuellen Missbrauchs verschließen oft den Kern ihres Körpers, um Angst und Wut zu unterdrücken. Sie vermeiden es, ihre Achtsamkeit auf einen Ort zu richten, an dem sich viele und starke Emotionen befinden könnten.

Mehr noch als darüber zu reden, vermeiden Missbrauchsüberlebende, ihr Becken zu fühlen. Zu viel Schmerz verbindet sich damit, der einfach nur verschwinden soll. Genitalien und Anus zu entspannen, das Becken zu öffnen und weit zu werden verbindet sich für sie mit dem Gefühl, unerträglich verletzlich und penetrierbar zu sein.

Und trotzdem, Bauch und Becken richtig zu nutzen ist für das Finden Ihrer Ganzheit und Stärke entscheidend. Sie können nicht ganz werden, solange Sie große Bereiche Ihres Körpers ausblenden. Wenn Ihnen das Sprechen über diese Körperregionen unangenehm ist, wird sich dieses gefühlsmäßige Unwohlsein direkt in körperliche Anspannung der Bauch- und Beckenmuskulatur übersetzen, was wiederum sofort Ihre Empfindungsfähigkeit, Bewegungsvermögen und somit Ihre Fähigkeit, einfühlend und kraftvoll zu handeln, beeinträchtigen wird. Das sind lediglich Grundlagen der Anatomie und Pflege des menschlichen Körpers. Wenn die Maschine gut laufen soll, müssen Sie dafür sorgen, dass alle Einstellungen stimmen.

Falls Ihnen die Übung Entspannen Sie Ihren Bauch unangenehm ist (oder diese Übung bei Ihnen zu Angst oder Tränen führt), geben Sie sich Zeit. Wir werden uns zunächst weiter mit der allgemeinen kulturellen Haltung zum Bauch beschäftigen und danach einige Übungen machen, die Ihnen neue Werkzeuge gegen Ihr Unwohlsein an die Hand geben werden.

Viele Menschen finden den Gedanken, ihren Bauch zu entspannen, völlig inakzeptabel. In unserer Kultur herrschen sehr genaue Vorstellungen davon, wie ein Körper zu gebrauchen ist und was jemanden gut aussehen lässt. Den Bauch zu entspannen gehört eindeutig zu den Dingen, die man nicht tut. Aber lassen Sie uns einen Blick auf einige Zeichnungen werfen. Es sind Darstellungen von Menschen aus verschiedenen Werbeanzeigen, die an unterschiedlichen Orten erschienen sind. Durch das Betrachten von Anzeigen lassen sich vorherrschende kulturelle Werte gut untersuchen. Die Darstellung des Körpers in der Werbung ist beispielhaft für unsere kulturellen Idealvorstellungen von Schönheit und Stärke. Ich vermute, dass Werbung langfristig sehr großen Einfluss auf die Entwicklung unserer Ideale hat. Werbung wirkt, wenn sie sich an unsere Werte und Vorstellungen ankoppeln kann, und sie stellt gleichzeitig die Rollenvorbilder zur Verfügung, die diese Vorstellungswelt formen.

Die erste Zeichnung stammt von einer Kekspackung, sie ist ein gutes Beispiel für unsere Auffassung vom Körper. Die meisten Teilnehmer meiner Workshops sind sich darin einig, dass die linke, „richtige“ Figur tatsächlich wesentlich besser aussieht als die „schlechte“ Figur rechts. Wenn ich dann aber nachfrage, welcher Mann besser einem Auto ausweichen könnte, das direkt auf ihn zufährt, wählen fast alle die „schlechte“ Figur. Man kann leicht erkennen, dass die rechte, so genannte schlechte Figur entspannter und balancierter ist und sich deshalb jederzeit frei bewegen kann. Wir haben aber gelernt, dass die angespannte, zusammengezogene, kopflastige, unbewegliche Figur gut ist.

Die Gleichsetzung von Anspannung mit Schönheit und Stärke ist auch in der zweiten Zeichnung zu sehen. Das Gesicht, die Hüfthaltung, der breitbeinige Stand sind deutlich angespannt. Der Anzeigentext lautet: „Nur für die coolsten Typen, tough new urban hardwear: alles, was du für eine selbstbewusste Haltung brauchst“. Die Sprache verstärkt die Gleichsetzung von Kraft und Spannung, indem „cool“ und „selbstbewusst“ als hart und in Härte gründend definiert werden. Ein Anflug von herausfordernder, wütender Sexualität spricht aus der Anzeige. Die Ironie daran ist, dass der angespannte und unbewegliche Stand des Mannes ihn gerade daran hindern würde, sich leicht und kraftvoll zu bewegen, falls er einen Angreifer abwehren oder fliehen müsste. Und gerade das Becken ist so angespannt, dass freie und angenehme Bewegungen kaum möglich sind.


Frauen haben ebenfalls stilisierte Formen, Anspannung herzustellen. Sehen Sie sich die nächste Zeichnung an. Der Werbetexter fragt: „Was macht einen Badeanzug sexy?“, und die in der Anzeige gegebene Antwort lautet: „Viele schöne Formen“. Was geht hier als schöne Form durch? Auf hohen Absätzen stehend, haben die Füße der Frau keinen Bodenkontakt. Ihre Knie, Hüften und der untere Rücken sind durchgedrückt und steif. Der linke Arm wird in einer unbeholfenen Haltung angespannt nach hinten gestreckt (versuchen Sie einmal, so zu stehen, und beobachten Sie, wie sich das anfühlt). Nacken und Gesicht stehen unter Spannung. Die Frau wirkt fest und rigide, es fehlt als Basis für Anmut und Kraft die Weichheit, die es ihr erlauben würde, sich elastisch und balanciert zu bewegen. Trotzdem halten viele Leute, denen ich dieses Bild zeige, diese Frau für schön. Vielleicht bin ich nicht normal, aber ich genieße den Anblick von Menschen, die sich frei, entspannt, kraftvoll und anmutig bewegen. Anspannung, Schwäche, Unbeholfenheit empfinde ich nicht im Geringsten als schön.

Viele Werbeanzeigen, auf denen Frauen zu sehen sind, setzen Schönheit und Kraft, ebenso wie bei Männern, mit Anspannung gleich. Es gibt aber noch eine zweite stereotype Pose, in der Frauen gezeigt werden. In Ermangelung einer besseren Formulierung nenne ich sie das Sexspielzeug. Frauen nehmen hier schwache, verdrehte Körperhaltungen ein und strahlen gleichzeitig Hilflosigkeit und Verführung aus. Und wirklich halten die meisten Menschen, denen ich dieses Bild zeige, die abgebildete Frau für attraktiv und verführerisch. Mein erster Gedanke beim Anblick dieser Anzeige war, dass diese Frau Rückenschmerzen haben muss. Beachten Sie, wie Kopf, Nacken, Rücken, Hüften und Beine Kurven beschreiben, die jede Unterstützung durch die natürliche Struktur des Körpers unterminieren. Kein Teil sitzt richtig auf dem anderen. Nichts gibt eine Grundlage für Stabilität oder Stärke.


Betrachten Sie als Vergleich dieses Bild meines Sohnes, er war ungefähr vier Jahre alt, als ich ihn fotografierte. Sie sehen ihn in einer für Kinder typischen Haltung. Das Foto entstand spontan, ohne Pose. Es zeigt das anatomisch normale Sitzen, das die meisten Erwachsenen verlernt haben. Beachten Sie, wie mühelos mein Sohn seinen Körper gerade hält. Statt sich beim Lesen über das Buch zu beugen, bewegt er den Kopf am Ende der Wirbelsäule und behält so eine effiziente Gewichtsunterstützung, während seine Augen nach unten gehen. Beachten Sie, dass seine Schultern entspannt und rund sind, seine Brust weich und sein Bauch gelöst ist – so ziemlich alles, was auf der Kekspackung als „schlecht proportioniert“ tituliert wurde, dabei ist es biegsam, anmutig, stark und balanciert.


Unsere Kultur führt uns Geformtheit als Ideal der Schönheit vor Augen, aber wenn Sie diesem Ideal unter die Haut sehen, stellen Sie fest, dass Geformtheit lediglich ein weiterer Name für Anspannung ist. Wenn Sie trainieren und sich körperlich in Form bringen, so ist das sicherlich gut für Sie und trägt dazu bei, dass Sie gut aussehen. Ihr Bauch und auch der Rest Ihres Körpers werden einen gesunden Muskeltonus entwickeln. Nur ist dieser gesunde Tonus etwas grundlegend anderes als eine künstlich angespannte Körperhaltung mit eingezogenem Bauch, die eben nicht gut ist für Sie.

Wenn Sie Ihren Bauch einziehen, bewirkt das im gesamten Körper Spannung und Schwäche. Bringen Sie diese Fixierung auf Angespanntheit mit, wenn es darum geht, Ihre Stärke und Ganzheit wiederherzustellen, werden Sie dauernd einen Schritt vor und zwei zurückgehen. Um ganz heil zu werden, müssen Sie zu fühlen bereit sein, wie Ihr Körper arbeitet, und das tun, was Sie tatsächlich entspannt und Ihnen angenehm ist.

Fast immer, wenn ich unterrichte, wie man den Bauch entspannen und loslassen kann, habe ich mit dem Vorurteil zu kämpfen, dass ein eingezogener Bauch besser aussieht. Menschen, die ihren Bauch hängen lassen, merken schnell selbst, dass sie besser atmen und sich bewegen können, aber selbst dann fühlen sie sich leicht zu fett, aufgeblasen und schlaff. Sie schämen sich, entspannt und balanciert in die Öffentlichkeit zu treten.

Die andere Frage, die mir immer im Zusammenhang mit Entspannung gestellt wird, ist die nach dem Verhältnis von Entspannung und Schlaffheit. Entspannung ist nicht einfach Schlaffheit, selbst wenn diese Meinung weit verbreitet ist. Für mich besteht Entspannung darin, nur die Anstrengung aufzuwenden, die zum Lösen einer Aufgabe tatsächlich notwendig ist.

Wenn Sie zum Anheben eines 25 kg schweren Gewichts so viel Kraft aufwenden, dass Sie damit ein doppelt so schweres Gewicht heben könnten, dann ist das angespannt und nicht entspannt. Entwickeln Sie nur einen Kraftaufwand für 25 kg, um ein 25 kg schweres Gewicht anzuheben, dann sind Sie so entspannt, wie Sie es unter den gegebenen Umständen bei der Lösung dieser Aufgabe nur sein können. Wenn Sie mit geschlossenen Augen in der Sonne liegen, den Vögeln lauschen, sich ausruhen und vor sich hinträumen – und ihre Muskeln so viel Spannung haben, als würden sie gerade zentnerschwer tragen –, dann ist das nicht entspannt: Es ist mehr Arbeit, als die Situation verlangt.

Viele Menschen achten nicht auf innere Prozesse, wenn sie anstreben, sich effizient, kraftvoll und graziös zu bewegen und zu handeln. Souveränität, nicht Schlaffheit, ist das Ziel des Entspannungstrainings, mit dem dieses Buch Sie vertraut macht.

Atmung

Ein entscheidender Bestandteil der Fähigkeit zu achtsamer Entspannung ist unsere Atmung. Atmen ist eine seltsame Tätigkeit. Normalerweise atmen wir unwillkürlich und automatisch, gleichwohl können wir unser Atmen verhältnismäßig leicht bewusst kontrollieren. Atmen ist, sowohl in Ruhephasen unseres Körpers als auch bei Kampf-oder-Flucht-Handlungen, existenziell. Wenn Sie während einer Kampf-oder-Flucht-Handlung so atmen, wie Sie es in einer Ruhephase ihres Organismus tun, können Sie in sich ein Gleichgewicht zwischen der Stabilität des Ruhezustands einerseits und der einer Notfallsituation angemessenen aufmerksamen Reaktionsbereitschaft andererseits herstellen. Ihr Geist und Ihr Körper können gleichzeitig entspannt und handlungsbereit sein, während Sie sich den Problemen stellen, mit denen Sie konfrontiert sind.

Sollten die bisherigen Erörterungen und die Übungen für Ihren Bauch und Ihr Becken Sie unruhig gemacht haben – entspannen Sie den Atem, das wird Ihnen helfen, die Unruhe gehen zu lassen. Nebenbei: Sie haben Ihren Bauch vor allem losgelassen, damit Sie Ihren Atem wirklich entspannen können.

Bewusst atmen Experiment

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie atmen, während Sie das hier lesen. Aber nehmen Sie auch wahr, wie Sie atmen?

Welche Körperteile bewegen sich, während Sie einatmen? Spüren Sie eine Bewegung, wie groß oder klein auch immer, in Ihrem Brustkorb, Ihrem Bauch, Ihrem Nacken, Ihren Armen oder Beinen? Oder anderswo? Was ist mit ihrem Gesicht? Wo nehmen Sie die größte, wo die geringste Bewegung wahr?

Welche Körperteile bewegen sich, wenn Sie ausatmen?

Wie sind die Bewegungen des Ein- und des Ausatmens beschaffen – sind sie gleichmäßig, kontinuierlich, fließend?

Gibt es irgendwo eine Verlangsamung, ein Anhalten, einen Beginn oder Wiederbeginn in Ihrer Atmung? Gibt es einen Körperbereich oder einen Atemabschnitt, der sich entspannter oder angespannter anfühlt als andere?

Bevor Sie die folgenden Atem- und Entspannungsübungen erlernen, müssen Sie sich mit einigen Fakten darüber vertraut machen, wie Atmen tatsächlich funktioniert. Die erste dieser Tatsachen ist, dass nicht die Lungen die Atembewegung ausführen. Ihre Lungen sind zwei passive Beutel, die den Kontakt zwischen Blut und Luft erlauben, so dass Sie Sauerstoff aufnehmen und Kohlendioxyd abgeben können.


Wenn es also nicht die Lungen sind, die die Atembewegung ausführen, wer dann? Stellen Sie sich vor, Sie trennen den Boden einer Plastikflasche ab und ersetzen ihn durch einen Luftballon, den Sie durch ein Klebeband an der Flasche befestigen. Wenn Sie jetzt den Luftballon nach unten ziehen, wird Luft durch den Flaschenhals in das Innere der Flasche gesogen. Lassen Sie den Luftballon nun wieder los. Der Ballon zieht sich zusammen und die eingesogene Luft schießt wieder aus der Flasche heraus.

So funktioniert die Atmung: Es gibt an der unteren Grenze des Brustkorbs einen gewölbten Muskel, das Zwerchfell, der sich weitgehend so verhält, wie der auf die Flasche gespannte Ballon. Ein entspanntes Zwerchfell ist nach oben gewölbt. Wenn es sich anspannt, wird es fest, flach und drückt nach unten, ähnlich dem nach unten gezogenen Ballon. Es ist diese Bewegung des Zwerchfells, durch die Luft in unsere Lungen gesogen wird.

Entscheidend ist jetzt, dass sich unterhalb des Zwerchfells alle möglichen Weichteile – Magen, Därme und dergleichen – befinden, die irgendwo hin müssen, wenn das Zwerchfell nach unten drückt. Menschliches Gewebe ist nicht besonders komprimierbar, es lässt sich nicht beliebig zusammendrücken. Weder nach oben noch unten ist Platz zum Ausweichen: oben das Zwerchfell, unten das Becken und das Geflecht von Muskeln, die den Beckenboden bilden.

Haben Sie jemals gesehen, wie ein Baby atmet? Was passiert mit dem Bauch eines Babys, wenn es einatmet? Er dehnt sich aus. Wenn das Zwerchfell nach unten drückt, wird alles, was sich unterhalb befindet, nach außen verlagert, vorwiegend nach vorne, wo die Bauchmuskeln diese Bewegungsrichtung erlauben, aber auch zu den Seiten hin und nach hinten, wo der Brustkorb diese Ausdehnung ebenfalls in kleinerem Ausmaß zulässt. So atmen Säuglinge. Es entspricht auch unserer natürlichen Anatomie, so zu atmen, nur: Die meisten Erwachsenen atmen anders.

Steh gerade! Schultern zurück! Zieh den Bauch ein! Man bringt uns bei, falsch zu atmen! Wann zieht ein Mensch natürlicherweise die Schultern nach hinten und den Bauch ein, während er gleichzeitig den Brustkorb anhebt und einatmet? Wenn er erschrocken und verängstigt ist. Die westliche Welt hat die Angst-Schreck-Reaktion zum Haltungsideal erhoben und konserviert sie als kollektive Idee des richtigen Atmens.

Ich frage mich, ob das mit der Häufigkeit des Kindesmissbrauchs in unserer Gesellschaft zusammenhängt. Sehr zurückhaltende Schätzungen gehen davon aus, dass 25% unserer Kinder Opfer emotionalen oder körperlichen (sexuellen) Missbrauchs werden bzw. unter Vernachlässigung leiden oder in Armut leben. Es gibt andere Schätzungen, denen zufolge 50% der Mädchen und 30% der Jungen sexuell missbraucht werden, nicht gerechnet die geschlagenen und vernachlässigten Kinder, aber seien wir konservativ, gehen wir von insgesamt einem Viertel Geschädigter aus. Eine Menge! Und es gibt viele Erwachsene, die in sich – wissentlich oder nicht – den Schmerz und die Angst fühlen, Täter zu sein.

Die Angst-Schreck-Reaktion ist die Antwort des Körpers auf Angst und Schmerz. Menschen, die missbraucht werden, und Menschen, die andere missbrauchen, bleiben im Moment des Missbrauchs stecken. Mit anderen Worten: Ihre Körper konservieren den Zustand der Angst-Schreck-Reaktion, bis sie Heilung erfahren.

Vielleicht halten wir die Angst-Schreck-Reaktion schon für normal oder sogar erstrebenswert, weil um uns herum jeder diesen Ausdruck und diese Haltung einzunehmen scheint. Es sieht eben richtig aus…

Jetzt wissen Sie, warum wir damit begonnen haben, Ihre Aufmerksamkeit auf die Entspannung Ihres Bauches zu richten: Dieser Anfang ist wichtig, um die Spannung im gesamten Körper zu verringern und den Boden für die nachfolgende Übung zu bereiten.

Weich atmen Praxis

Stehen Sie auf. Legen Sie sich die Hände auf den Bauch und nehmen Sie wahr, ob Sie Ihren Bauch beim Einatmen einziehen oder ausdehnen. Legen Sie dann ihre Hände auf Ihren unteren Rücken und auf den Brustkorb. Dehnen sich diese Bereiche aus, wenn Sie einatmen?

Entspannen Sie Ihren Bauch. Lassen Sie ihn entspannt, während Sie einatmen. Erlauben Sie der Luft, während des Einatmens sanft nach unten in den Bauch zu fallen und lassen Sie ihrem Bauch sich ausdehnen. (Selbstverständlich bleibt die Luft in den Lungen, aber dieses Bild wird Sie beim Spühren der Bewegung bis hinunter in den Bauch unterstützen.) Beim Atmen sollte der Fokus Ihrer Achtsamkeit auf den Bauch gerichtet sein, aber Sie sollten beim Einatmen auch Brustkorb und Rücken sich sanft ausdehnen lassen.

Wenn Sie während des Einatmens den Bauch einziehen, verhärten Sie Brustkorb, Bauch und Rücken und erzeugen so eine erhöhte Anspannung des gesamten Körpers. Sollten Sie daran gewöhnt sein, beim Einatmen den Bauch einzuziehen, wird sich ein entspannteres Atmen für Sie zunächst etwas seltsam anfühlen. Vielleicht machen Sie sogar die merkwürdige Erfahrung, dass sich das entspanntere Atmen mit dem Bauch zwar physiologisch richtig anfühlt, es Ihnen aber der ungewohnten Empfindung wegen geradezu unangenehm ist, bequemer und weniger angespannt zu atmen.

Falls Sie Schwierigkeiten haben, beim Einatmen mit dem Bauch nachzugeben, können Sie anfangs Ihren Bauch bei jedem Einatmen bewusst nach außen drücken. Auf diese Weise gewöhnen Sie sich an den veränderten Bewegungsrhythmus. Nach einer Weile werden Sie diese zusätzliche Anstrengung nicht mehr brauchen.

Manchen Menschen bereitet beides Schwierigkeiten: herauszufinden, wie sie ihren Bauch ausdehnen und wie sie ihn nach außen drücken können. Um das zu ändern, legen Sie sich auf den Boden, ein Kissen unter dem Kopf, ein weiteres unter ihren Knien. Legen Sie sich jetzt einen faustgroßen Stein (oder einen ähnlichen Gegenstand) unterhalb des Nabels auf den Bauch und konzentrieren Sie sich darauf, den Stein durch Ihr Einatmen anzuheben. Manchmal ist es hilfreich, den Stein erst mit dem Bauch hoch zu drücken und den Bauch dann herausgedrückt zu lassen, während Sie einatmen. Das kann zunächst anstrengen, aber nach und nach werden Sie eine Möglichkeit finden, Ihren Bauch mit Leichtigkeit auszudehnen.

Gehen Sie jetzt ein paar Schritte und atmen Sie dabei aus dem Bauch heraus. Wie fühlt sich diese Bewegung an?


Bauchatmung


Brustatmung

Atmen und sich ausdehnen ist – richtig praktiziert – sehr entspannend. Das Atmen kann wie eine sanfte, innere Massage wirken und, wenn Sie es zulassen, sehr angenehm sein. Die meisten Menschen, die anfangen, mit entspanntem Becken und weichem Atem zu gehen und sich zu bewegen, empfinden ihre Bewegungen als leichter, balancierter, graziöser, koordinierter und erdverbundener als zuvor.

Ziel dieses Kapitels war es, Ihnen erste Erfahrungen zu ermöglichen, wie Sie Ihre eigenen Körperprozesse dazu nutzen können, sich selbst zu verändern. Sie haben mit einem Zustand von Souveränität und Ganzheit Bekanntschaft geschlossen, der Ihnen ermöglichen wird, auf dem Weg der Heilung Ihres Missbrauchs voranzuschreiten. Im Laufe des Buches wird es darum gehen, Sie mit weiteren Elementen von Bewusstheit, Souveränität, Liebe und Sicherheit vertraut zu machen und in deren Anwendung zu ermutigen.

Sie können es schaffen. Sie können bisher für unmöglich gehaltene Veränderungen bewirken. Die einfachen Übungen, die Sie bis jetzt gemacht haben, sind der Anfang der Meisterschaft.

* Anm. d. Übersetzers: Paul Linden verwendet das amerikanische Wort „power“, das ich kontextabhängig von Fall zu Fall als Macht, Stärke oder Kraft übersetzt habe. Das amerikanische Wort „Empowerment“ wurde hier zuweilen auch als „Souveränität“ übersetzt, im Sinne von Eigenständigkeit, Selbstständigkeit und eigener Handlungsmacht.

Das Lächeln der Freiheit

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