Читать книгу Das Lächeln der Freiheit - Paul Linden - Страница 9
Оглавление3Die Konzepte im Hintergrund
Zum besseren Verständnis dessen, was wir in diesem Buch gemeinsam tun wollen, werde ich Ihnen in diesem Kapitel einige Hintergrundinformationen über die Grundlagen meiner Arbeit geben. Je mehr Sie den von uns genutzten Lehr- und Lernprozess verstehen, desto schnellere und profundere Fortschritte werden Sie persönlich machen.
Being in Movement® Mindbody Training
Ich bin Körpererzieher und Kampfkunstlehrer. Seit fast 40 Jahren übe und unterrichte ich Körperwahrnehmung und Bewegung als Weg zum Verständnis des eigenen Selbst, zu Harmonie und Effizienz. Ich habe ein systematisches Körperbewusstseinstraining entwickelt, das ich Being in Movement (BIM) nenne – in Bewegung sein – und das die Basis meines Ansatzes in der Arbeit mit Missbrauchsverarbeitung bildet.
BIM ist ein Erziehungsprozess, in dem damit gearbeitet wird, wie Struktur und Funktion des Körpers das Selbstgefühl formen und wie sie ihrerseits durch dieses Selbstgefühl geformt werden. BIM untersucht das Selbst in der Welt, indem das Zusammenwirken von Muskelstrukturen und -funktionen, von Gedanken, Gefühlen und Glaubenssätzen, von Strategien der Problemlösung und von ethischem Verhalten individuell untersucht wird.
BIM betrachtet den Körper einerseits als ein mechanisches Objekt, das durch die Gesetze der Physik und Biologie bestimmt wird. Gleichzeitig ist die Physis als subjektiver Prozess anzusehen, anhand dessen Sie sich selbst so wahrzunehmen lernen, dass Sie dauerhaft ein ganzheitliches körper-seelisches Selbstgefühl entwickeln, aus dem heraus Sie effektiv handeln können. Strukturell betrachtet ist in diesem Zustand das Muskel- und Skelettsystem balanciert, schmerz- und stressfrei. Funktional gesehen erlaubt dies stabile, variantenreiche und ausgeglichene Bewegungen. Im Hinblick auf Handlungsabsicht und Energiehaushalt befähigt uns dieser Zustand strahlender Präsenz, symmetrischer, expansiver Willenskraft und selbstbewusster Achtsamkeit, fest verankert im eigenen Selbst hinaus in die Welt zu gehen. Psychologisch oder spirituell gesprochen ist das Ziel die Integration von Macht und Liebe.*
Was Sie bei der Ausführung der Übungen beachten sollten
Körperbewusstseinstraining kann, abgesehen von seiner stärkenden und aufmunternden Wirkung, harte Arbeit sein. Insofern ist es eventuell hilfreich, sich therapeutischer Unterstützung bei der Verarbeitung der starken Gefühle zu versichern, die durch die Körperübungen ausgelöst werden können.
Probieren Sie aus, welches Tempo bei der Durchführung der Übungen für Sie angenehm ist. Vielleicht sind es ein oder zwei Übungen am Tag, vielleicht ist es nur eine und Sie geben sich einige Tage Zeit, das Erlebte zu verdauen und in Ihren Alltag zu integrieren, bevor Sie zu einer neuen Übung übergehen. Oder Sie verspüren den Wunsch, möglichst schnell voranzukommen, und wollen gleich mehrere Übungen auf einmal machen. Wichtig ist: Gehen Sie auf jeden Fall so langsam vor, dass Sie durch das, was Sie erleben, nicht überschwemmt und überwältigt werden. Das ist eine echte Herausforderung. Sie müssen notwendigerweise mit Ihrem Schmerz in Berührung kommen, um ihn loszuwerden. Aber es wird Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich von diesem Schmerz überwältigen lassen. Also, wie viel ist zu viel? Letztlich werden nur Sie das entscheiden können, durch Versuch und Irrtum. Meine Philosophie lautet hier: Seien Sie behutsam, gehen Sie langsam voran.
Wenn wir persönlich miteinander arbeiten würden, könnte ich Ihren Prozess begleiten und an der richtigen Stelle die richtige Übung für Sie herausfinden. Wenn Sie allein durch diese Übungen gehen, ist es wichtig, dass Sie sich nicht unter Druck setzen. Sie haben genug Zeit. Es ist besser für Sie, übertrieben langsam vorzugehen, als dass Sie sich zu viel zumuten und sich erschöpfen.
Dieses Buch ist logisch fortschreitend aufgebaut. Die Übungen sind so konzipiert und angeordnet, dass Sie in einen allmählich sich steigernden Prozess der Selbststärkung geführt werden. Durch die einfacheren Übungen, mit denen Sie beginnen, werden Sie gestärkt und auf spätere schwierigere Aufgaben vorbereitet. Da die einzelnen Übungen und Kapitel aufeinander aufbauen, wird es für Sie am hilfreichsten sein, wenn Sie das in diesem Buch vorgestellte Material der Reihe nach abarbeiten. Sollte aber irgend etwas für Sie nicht passen, überspringen Sie den Abschnitt und holen Sie ihn zu einem späteren Zeitpunkt nach.
Eine Warnung noch: Wenn Sie das Buch durchblättern und hier und da etwas lesen oder ausprobieren, kann Sie das verwirren. Sie könnten sowohl meine Absicht als auch den tatsächlichen Gehalt einer Übung verfehlen, wenn Sie spätere Teile des Buches zu verstehen versuchen, ohne die Grundlagen zu kennen. Mehr noch: Sollten Sie versuchen, weiter hinten im Buch enthaltene Anweisungen auszuprobieren, ohne vorher über aus den grundlegenden Übungen resultierende Ressourcen zu verfügen, werden Sie vielleicht auf das, was Sie erleben, nicht ausreichend vorbereitet sein. Verschiedene Übungen in unterschiedlichen Sequenzen durchzugehen und wieder zu erleben, nachdem Sie das Buch einmal durchgearbeitet haben, kann hingegen sehr fruchtbar sein.
Viele Übungen erfordern einen Partner. Es kann sinnvoll sein, diese Übungen in einer kleinen, sich regelmäßig treffenden Gruppe zu erforschen. Sie könnten abwechselnd die Anweisungen vorlesen und die Übungen anleiten. Eine stabile Übungsgruppe bietet meist eine schützende Struktur und motiviert die Teilnehmer. Sehr unterstützend wirkt es oft auch, wenn Sie vertraute Personen haben, mit denen Sie sprechen können, wenn Sie an einen für Sie unangenehmen Punkt kommen. In einer solchen Übungsgruppe werden Sie sehen, dass andere Menschen ähnliche Schwierigkeiten haben wie Sie. Dies verhindert, dass Sie sich wegen Ihrer Schwierigkeiten bei bestimmten Übungen schlecht fühlen oder schämen. Es hilft im Übrigen auch, unterschiedliche Reaktionen verschiedener Menschen auf bestimmte Reize zu erleben. Jeder Einzelne beginnt seinen Weg genau dort, wo er augenblicklich steht, nirgendwo sonst. Es ist wichtig, dass Sie Ihre Grenzen und Bedürfnisse respektieren. Vergleichen Sie sich nicht mit anderen. Sie sind, wo Sie sind, und genau da lernen Sie, was zu lernen ist.
Am eindrücklichsten werden Sie die Wirksamkeit dieses Übungsprogramms erleben, wenn Sie es in Ihrem Alltagsleben erproben. Nichts macht so erfolgreich wie ein Erfolg. Je öfter Sie Ihre neu gewonnene Selbstbewusstheit und neuentdeckte Kraft erfolgreich im Alltag anwenden, desto gewohnheitsmäßiger werden Sie sich an diese Fähigkeiten erinnern und sie einsetzen.
Die Lehre
Einige Elemente meines Unterrichts könnten ungewöhnlich auf Sie wirken, wenn Sie Ihnen das erste Mal begegnen. Es wird Ihnen helfen, wenn Sie darauf vorbereitet sind und wissen, dass ich meine Lehre auf der Grundlage meines Kampfkunsttrainings entwickelt habe.
Das Modell von Herausforderung und Antwort
Das erste hierbei zu berücksichtigende Element ist das von Angriff und Verteidigung. Meine Heimat sind die Kampfkünste. Ich bin Träger des schwarzen Gürtels im Aikido (6. Dan) und im Karate (1. Dan). Seit 39 Jahren ist das Aikido, eine gewaltfreie japanische Kampfkunst, mein Studien- und EntwicklungsLabor. Diese Kampfkunst ist Selbstverteidigung, sie ist aber auch ein Weg, auf dem Sie trainieren, ruhig, kraft- und liebevoll auf eine Bedrohung zu reagieren.
In den Kampfkünsten lernt man, indem man sich mit einem Problem konfrontiert und es löst. Ohne einen Angriff – das Problem – gibt es nichts zu tun. Dadurch, dass Sie der Herausforderung begegnen, können Sie sich selbst prüfen, feststellen, was Sie verbessern müssen, und an ihrer Veränderung und Ihrem Wachstum arbeiten. Weil meine Wurzeln die Kampfkünste sind, besteht mein Körperbewusstseinstraining aus praktischen Bewegungsexperimenten und nutzt das Modell von Herausforderung und Antwort für das Erforschen von Entwicklungsaufgaben.
In all den Jahren meines Unterrichts ist nie jemand an mich herangetreten, der gesagt hätte: „Mein Leben ist perfekt. Ich liebe alles, was mir begegnet, und ich bewältige es mit Anmut und Leichtigkeit. Könnten Sie mir bitte zeigen, wie ich das ändern kann?“ Menschen kommen und sagen, dies oder das sei nicht leicht, nicht befriedigend, nicht bequem, und das wollen sie ändern. Sie möchten Antworten auf die Herausforderungen ihres Lebens finden. Diese Herausforderungen sind Angriffe, denen wir uns stellen müssen, deshalb ist es hier sinnvoll, anhand des Modells von Angriff und Verteidigung zu lehren und zu lernen – und das tue ich.
Trotzdem, es gibt Leute, die es seltsam finden, dies zur Untersuchung von Entwicklungsmöglichkeiten heranzuziehen. Sie halten meine Vorgehensweise für grenzüberschreitend oder aggressiv. Tatsächlich ist im Aikido der Angriff ein Geschenk. Ein fürsorglicher, kooperativer Partner, der Angreifer, stellt sich als Objekt für die Übungspraxis des Verteidigers zur Verfügung. Ohne den Angriff hätte der Verteidiger keine Gelegenheit, lebensrettende Selbstverteidigungstechniken zu üben und zu lernen. Eine Angreiferin erlaubt sich, als Spiegel zu agieren, so dass der Angegriffene sich selbst sehen kann. Dann wechseln Angreiferin und Verteidiger die Rollen, so dass die zweite Person die Techniken ebenfalls praktizieren kann. Genauso ist in einer Arbeit, die darauf zielt, Missbrauchsüberlebende in ihre wahre Kraft zu bringen, die Herausforderung eine Gabe aus Fürsorglichkeit.
Die Tatsache, dass Sie sich möglicherweise unwohl fühlen, wenn Sie sich einer Herausforderung gegenüber sehen, ist nicht etwa hinderlich, sondern hilfreich: Gerade im Unwohlsein zeigen sich die Themen, die Sie bearbeiten müssen, um zu wachsen. Es ist offensichtlich, dass, wie in einer Therapie, eine unterstützende, nährende Beziehung zu der Person vorhanden sein muss, die Ihnen Hilfestellung leistet. Ich sorge für die Klienten, mit denen ich arbeite, und ich bemühe mich, solch eine unterstützende und nährende Atmosphäre herzustellen, trotzdem und gerade weil der Gegenstand meiner Arbeit Angriff und Verteidigung sind.
Missbrauchsüberlebende und Therapeuten reagieren vielleicht gleichermaßen verunsichert auf einen Angriff, aber für die Überlebenden ist der Angriff das ganze Problem. Wie auch immer Missbrauch sich zeigen kann, in jedem Fall ist Missbrauch Kampf. Indem sie lernen, einem Angriff zu begegnen und ihn abzuwehren, sprengen Überlebende die Ketten des Missbrauchs.
Wenn Sie eine Übungsbeschreibung lesen, die Ihnen hart vorkommt und die Sie verstört, beobachten Sie Ihre Reaktion. Atmen Sie. Bleiben Sie in Ihrem Körper. So wird das Lesen dieses Buches selbst schon zu einer Selbststärkungsübung. Ganz gleich, ob Sie Gewichte heben oder Multiplikationstabellen auswendig lernen, Sie müssen an Ihre Grenzen gelangen, um besser zu werden. Sorgen Sie dafür, dass Ihre natürlichen Gefühle wie Angst und Ekel Sie nicht daran hindern, Ihrer Bestimmung zu folgen, sich Ihrem Angreifer entgegenzustellen und vorwärts zu gehen.
Es stimmt, Sie brauchen einen starken Geist, wenn Sie sich Angriffen stellen wollen, um zu lernen und zu wachsen. Einige Missbrauchsüberlebende sind so tief von ihrer Machtlosigkeit überzeugt, dass sie den Schmerz der Selbsterforschung, des Wachsens und der Veränderung nicht ertragen: Der Schmerz, den das Starkwerden erzeugt, droht größer zu werden als der Schmerz, den es bedeutet, machtlos zu bleiben. Also lehnen sie die Gelegenheit, angegriffen zu werden, ab. Ich bedauere das immer. Gleichzeitig weiß ich, dass es Menschen gibt, die sich nicht in einem Zustand der Heilung befinden, in dem sie von meiner Art des Kriegertrainings profitieren könnten. Diese Menschen brauchen den weniger physischen, verbaleren Zugang einer Psychotherapie, um sich auf meine Art der Arbeit vorzubereiten. Einige von ihnen werden wachsen und sind irgendwann bereit, andere werden sich nie aus ihrer Machtlosigkeit befreien.
Den richtigen Blickwinkel beibehalten
Es gibt eine besondere Herangehensweise an Gefühle, die ebenfalls Teil der Kampfkünste ist. Gelegentlich beginnen Aikidoschüler in meinem Unterricht zu weinen, wenn irgendein Übungselement alte Gefühle in Erinnerung ruft. Ich sage ihnen dann, dass sie weinen können, wenn sie wollen, dass sie aber nicht damit aufhören dürfen, sich zu verteidigen. Im Kampfkunsttraining geht es darum, die Ruhe und Selbstdistanz zu finden, die es Ihnen erlauben, Ihre Schmerzen und Ihre Angst aus einem neutralen Blickwinkel wahrzunehmen. Wenn diese Angst, dieser Schmerz Sie überwältigen, werden Sie weder atmen noch sich effizient verhalten oder denken können. Ohne ein Mindestmaß an psychischer Selbstdistanz werden Sie nicht in der Lage sein, sich effektiv zu verteidigen, und das, was Sie am meisten fürchten, wird sich gerade wegen dieser Angst ereignen.
Den gleichen Ansatz gebrauche ich in meinem Training mit Missbrauchsüberlebenden. Wenn Sie sich Ihrem Schmerz, Ihrer Angst, Ihrer Empfindungslosigkeit oder Wut hingeben, ist es schwierig, innezuhalten, um das, was Sie bewegt, leidenschaftslos zu analysieren. Aber wenn Sie das, was schmerzhaft ist, nicht untersuchen können – es kartografieren, die Regelmäßigkeiten registrieren, beobachten, wie es funktioniert und woraus es resultiert –, wie können Sie es jemals so weit verstehen, dass Sie es verändern können?
Den Blickwinkel beizubehalten bedeutet, dass Sie genug körperlichen und mentalen Abstand zu Ihren Empfindungen und Affekten halten, um sich der Erforschung Ihres Schmerzes interessiert zuwenden zu können, ohne davon überwältigt zu werden. Dieser Prozess, bei dem Sie gleichzeitig den Angriff, dem Sie ausgesetzt sind, und Ihre Reaktion darauf studieren, ist die Grundlage eines jeden Kampfkunsttrainings. Das Kampfkunsttraining ist so angelegt, dass Sie einem realen Angriff, also einer echten Herausforderung, ausgesetzt sind. Dieser Angriff wird aber in seiner Intensität reduziert, so dass Sie die Möglichkeit zur Übung und Weiterentwicklung Ihrer Kampftechnik haben.
Einen wichtigen Anteil am Entwickeln eines neutralen Blickwinkels haben Atem- und Körpertechniken, die Ihnen helfen, einen körper-seelischen Ruhezustand herzustellen und aufrechtzuerhalten. Es ist diese Ruhe, die es Ihnen ermöglicht, ein andernfalls überwältigendes Ereignis objektiv zu betrachten.
Höflichkeit
Meiner Herkunft aus der Kampfkunst verdankt sich auch meine Entscheidung, die Körperarbeit so zu beschreiben, wie sie tatsächlich abläuft. Möglicherweise fühlten sich der eine oder der andere durch die Beschreibungen oder die für die Fallbeispiele und Übungen verwandte Sprache unangenehm berührt. Vielleicht finden Sie sogar, dass eine explizite Sprache und deutliche Beschreibungen erschreckender und ekelerregender Ereignisse keinen Platz in einem gepflegten Buch haben sollten. Ich habe mich entschieden, hier die Wirklichkeit meiner Arbeit mit Missbrauchsüberlebenden darzustellen. Sprache und Ereignisse entstammen dem Kontext ihres tatsächlichen Auftretens in realen Arbeitssituationen. Ich habe die Fallbeispiele nicht geschönt, um die Wirklichkeit dieser Arbeit nicht zu verzerren. Erschreckende und ekelhafte Dinge sind zu vielen Menschen angetan worden, es muss von ihnen gesprochen werden.
Missbrauch ist keine höfliche Angelegenheit. Missbrauchsüberlebende haben die unfaire Aufgabe, sich von der Krankheit eines Täters heilen zu müssen. In diesem Buch werden Sie lernen, grundlegendes Wohlbefinden und Handlungskompetenz zu erwerben und zu erhalten, die sie befähigen, ihre Missbrauchserfahrungen aufzusuchen und zu überwinden. Auch die Art und Weise, in der ich über die Dinge rede und schreibe, befördert diesen Prozess. Dadurch, dass Sie sich bei der Lektüre dieses Buches der Sprache und den beschriebenen Ereignissen aussetzen, statt sich in höflicher Distanz dazu zu bewegen, arbeiten Sie daran, Ihre Kraft angesichts des Missbrauchs zu erhalten. Indem Sie während des Lesens der Fallgeschichten entspannte Präsenz und warmherzige Stärke bewahren, tun Sie die Arbeit, die das Buch beschreibt.
Direktiver Stil
Der sehr direktive Stil meiner Arbeit verdankt sich ebenfalls meiner Kampfkunsterfahrung. Kampfkünste werden in der Regel überaus direktiv unterrichtet. Ziel der Schulung ist das schnelle und effiziente Beherrschen der Verteidigungstechniken, so, wie der Instrukteur sie bestimmt und lehrt. Der Schüler hat das zu lernen, was der Instrukteur für relevant hält und unterrichtet. Being In Movement® – Traumaverarbeitung ist ein Erziehungsprozess, in dem Überlebende Bewusstheit und Souveränität erlernen. Mein direktiver Unterrichtsstil kann auf psychotherapiegewohnte Beobachter wenig einfühlsam, hart oder einschüchternd wirken, tatsächlich ist aber gerade dieser Stil eine Form der Fürsorge und der Unterstützung.
Gefühle entwirren
Vielleicht wird es auch Sie zunächst irritieren, dass ich die Angewohnheit habe, Gefühle eher zu studieren als ihnen mit den üblichen sozialen und therapeutischen Klischees zu begegnen. Beim Unterrichten schiebe ich den ganzen Wust von Gedanken, Gefühlen und Ideen beiseite und konzentriere mich auf die objektiven Details: Muskeltonus, Atmung, Haltung. Das klärt meinen Blick und ich verfange mich nicht in Theorien oder Vorurteilen. Ich konzentriere mich auf das, was ich vor mir sehe, möglichst frei von allen Vorannahmen, die meine Wahrnehmung der Situation verfälschen könnten. Wenn ich mich an die Details halte, wird das Gesamtbild schnell deutlich. Oft geschieht dies in einer Weise, die mit einem vorgefassten Urteil über das fragliche Ereignis nicht möglich gewesen wäre.
Selbstverständlich bin ich empathisch und unterstützend, wenn Klienten durch schmerzhafte Prozesse gehen. Wenn ich aber auf die Gefühlsinhalte eingehen würde, könnte ich sie nicht dabei unterstützen, die verschiedenen Verhaltensanteile zu sortieren. Ich unterlaufe die Gefühlsebene und richte die Aufmerksamkeit auf den physischen Unterbau der Emotionen. So lässt sich ein Ausweg aus den Fesseln eingeschliffener Gefühsreaktionen finden und ich kann meine Klienten im Erlernen neuer, wirkungsvollerer Antworten auf schwierige Situationen unterstützen.
Es ist mir wichtig, klarzustellen, dass die Aufforderung, angemessene von unangemessenen Emotionen zu unterscheiden nicht bedeutet, dass ein Gefühl oder eine Person schlecht sind. Ich empfehle auch nicht, alle Emotionen zu unterdrücken, im Gegenteil, ich halte Gefühle für die Essenz des Lebens. Und dennoch sollten Sie manche Gefühle sinnvollerweise kontrollieren. Es gibt Zeiten, in denen es effektiv und lebensrettend ist, sich nicht von seinen Gefühlen wegspülen zu lassen, und es gibt Gefühle, die so grenzenlos werden, dass sie ungesund sind. Der Kunstgriff besteht darin, eine unangemessene Reaktion so zu zerlegen, dass sie regulierbar wird, nur sind viele Missbrauchsüberlebende – verständlicherweise! – so sehr ihren Gefühlen ausgesetzt, dass sie sich deren Intensität nicht entziehen, also nicht gleichzeitig fühlen und evaluieren können.
Während eines Missbrauchs werden die Gefühle eines Menschen entwertet und missachtet. Das führt einige Missbrauchsüberlebende zu der Interpretation, jede Bewertung eines Gefühls als unangemessen sei ebenfalls Missbrauch. Wenn Sie glauben, dass Sie nur in Ihren Emotionen Sie selbst sind, wird jede Vermutung, ein bestimmtes Gefühl könnte unangemessen sein, von Ihnen als Entwertung und Angriff ausgelegt werden. Wenn Ihre Gefühle das sind, was Sie sind, werden Sie deren Abschwächung und Relativierung wie die Abtrennung von Teilen Ihres Selbst erleben. Ruhiger zu werden kann sich dann anfühlen, als ob Sie nach und nach absterben.
Denken Sie bitte kurz an die Sanierung eines Elendsviertels. Wenn Sie einen Slum als wesentlichen Teil der historisch gewachsenen Identität einer Stadt auffassen, wird sich Widerstand gegen den Abriss alter Baracken regen, auch wenn sie durch etwas Besseres ersetzt werden sollen. Der Abriss unangemessener Gefühle kann als Versuch erlebt werden, das Selbst zu zerstören, statt es zu stärken und zu heilen. Die Fähigkeit, sich selbst gegenüber verschiedene Blickwinkel einzunehmen und aufrechtzuerhalten, ist so wichtig, weil Sie dadurch die Möglichkeit haben, den nötigen Abstand zu ihren Gefühlen zu gewinnen. Dadurch werden Sie bereit und fähig sein, Ihre Affekte auf deren Nutzen hin zu untersuchen und bewusst zu regulieren. Darum geht es: Sprengen Sie die Fesseln alter, destruktiver Gefühlsgewohnheiten und leben Sie angemessen in der Gegenwart.
Nun weigern sich Menschen oft, Verbesserungsvorschläge anzunehmen, und fühlen sich bedrängt, wenn man ihnen ein neues Verhalten nahe bringen möchte. Statt in einem korrigierenden Hinweis ein respektvoll angebotenes Geschenk zu sehen, das ihnen aus Hilfsbereitschaft gemacht wird, empfinden sie dies als demütigend. Sie glauben, eines Fehlers bezichtigt zu werden, und sie identifizieren (technisches) Fehler-Machen mit (moralischem) Schlecht-Sein. Das ist verständlich – in vielen Fällen mag die eine, mag der andere für vermeintliche oder echte Fehler beschämt oder gedemütigt worden sein. Eine Reaktion auf dem Hintergrund eindrücklicher Erfahrungen erklärt sich selbst, verfehlt aber ihren Zweck, den Selbstschutz, wenn angemessene, freundlich und unterstützend vorgebrachte Korrekturhinweise zurückgewiesen werden, die zu dauerhaften Verbesserungen führen würden.
Es ist wichtig, dass Sie sich in Ordnung fühlen, wenn Ihnen Ihre Fehler gezeigt werden. Es ist normal, Fehler zu machen. Sie müssen sich nicht dafür bestrafen, und Sie brauchen Ihr Selbstwertgefühl auch nicht dadurch zu schützen, dass Sie sich vor neuem, hilfreichem Wissen verschließen. Der effektivste Weg, sinnvolle Korrekturvorschläge anzunehmen, besteht darin, sie als Geschenk anzusehen und dann die notwendigen Schritte zu tun, um etwas Fehlerhaftes durch etwas Besseres zu ersetzen.
Sicherheit
Lassen Sie mich die Leser ansprechen, die Missbrauchsüberlebende auf dem Weg der Heilung begleiten werden. Wenn Sie mit Überlebenden arbeiten, ist es wichtig, deren Sicherheit im Blick zu behalten.
Bereit sein
Sicherheit beginnt damit, zu entscheiden, ob jemand auf diesen Weg der Missbrauchsverarbeitung vorbereitet ist. Ich sehe sehr genau hin, wer in meine Stunden kommt. Wenn Überlebende durch ihre Therapeuten an mich verwiesen werden, kann ich einigermaßen sicher sein, dass sie von dieser Arbeit profitieren werden. Klienten, die eine umfangreiche Psychotherapie hinter sich haben und jetzt gezielt Erfahrungen mit dem Körper, mit Berührung und Selbstverteidigung suchen, sind in der Regel bereit für die Herausforderungen, denen sie in dieser Arbeit ausgesetzt sind.
Zweifelsohne gibt es auch Missbrauchsüberlebende, die zu zerbrechlich sind, um unter dem Druck tiefer Körperselbsterfahrung heilende Prozesse zu durchlaufen. Ich arbeite nicht mit selbstmordgefährdeten oder sich selbst verletzenden Menschen und auch nicht mit Überlebenden, die aus anderen Gründen für das Erlernen der von mir unterrichteten Techniken des Zentrierens zu instabil und zu wenig im Gleichgewicht sind. Da Missbrauchsüberlebende normalerweise ihre Selbsterfahrungsarbeit nicht bei mir beginnen, gibt es in der Praxis damit keine Schwierigkeiten, zumal ich so langsam arbeite, dass die Klienten, sobald sie das Gefühl einer Überforderung bekommen, jederzeit die Möglichkeit eines Abbruchs haben, ohne dann alleine mit angefangenen Themen in Kopf und Körper dazusitzen.
Die BIM-Methode der Traumaverarbeitung eignet sich besonders für verhältnismäßig gefestigte Missbrauchsüberlebende. Sind die Menschen, mit denen Sie arbeiten werden, am Anfang ihrer Missbrauchsaufarbeitung oder besonders instabil? Sind sie bereit, die Übungen, die Sie vorschlagen, und die damit einhergehenden Gefühle zu erforschen? Verfügen die Übungsteilnehmer über genügend Ich-Stärke, um den intensiven Kontakt mit dem eigenen Körper zu ertragen? Reichen Ihre eigenen Erfahrungen als Begleiter solcher Prozesse aus, um diese Fragen beantworten zu können? Wenn Sie unsicher sind, ob jemand genügend Stabilität für die somatische Traumaverarbeitung mitbringt, holen Sie die Meinung eines kompetenten Therapeuten ein. Falls es bereits einen behandelnden Therapeuten gibt, tauschen Sie sich aus.
Sollten Sie sich fragen, ob eine einzelne Übung eine Überforderung darstellt, bleiben Sie auf der sicheren Seite, verzichten Sie darauf. Meine Devise ist: Langsam voran. Auch für Menschen, die alle Voraussetzungen für die somatische Traumaverarbeitung mitbringen, ist es wichtig, sich Zeit für die Erarbeitung grundlegender Ressourcen der Selbststärkung zu nehmen, bevor sie sich ihren persönlichen Themen zuwenden.
Interpretieren
Seien Sie sich der Gefahr bewusst, dass das Interpretieren der Erfahrungen ihrer Klienten deren Sicherheitsgefühl beeinträchtigen kann. Die Suche nach Sinn und der Versuch, Erklärungen für schwer Erträgliches, schwer Verständliches anzubieten, ist menschlich, kann aber gerade in der Arbeit mit Traumaüberlebenden destruktiv sein.
Sehr oft sagen Interpretationen lediglich etwas über den Interpreten, nicht über das zugrunde liegende Ereignis, nämlich die Erfahrungen der Überlebenden, aus. Wenn Sie die Lücken in der Geschichte oder dem Denkprozess eines Missbrauchsüberlebenden durch ihre Interpretation zudecken, kann es passieren, dass Sie das tatsächlich Geschehene völlig missdeuten.
Selbst wenn Ihre Interpretation zutrifft, kann sie zerstörerisch wirken. Erstens: Sie kappen den Lernprozess. Statt die eigene Urteilsfähigkeit zu entwickeln und eigene Wege zu tragfähigen Erklärungen zu finden, werden die Klienten davon abhängig, dass Sie ihnen die richtige Interpretation liefern. Zweitens: Angenommen, ein Überlebender lehnt Ihre – richtige – Interpretation ab, weil er sich diese Sichtweise nicht selbst erschlossen hat, es wird für ihn unmöglich werden, irgendwann einmal selbst zu dieser Erkenntnis zu kommen.
Retraumatisierung
Kann es bei der körperlichen Berührung Überlebender überhaupt so etwas wie Sicherheit geben? Oder beim Selbstverteidigungstraining? Einige Psychotherapeuten halten Berührung und Körperarbeit für unethisch, und möglicherweise haben auch Sie sich diesen Gedanken im Laufe einer Psychotherapie angeeignet. Ist es vielleicht prinzipiell falsch, Klienten anzufassen? Ein Argument in diesem Zusammenhang lautet: Da Missbrauchsüberlebende durch körperliche Berührung verletzt wurden, wird jede weitere Berührung zu weiterem Schaden führen. Jim Struve hat darauf hingewiesen, dass mit gleicher Berechtigung das Sprechen mit Missbrauchsüberlebenden unterbunden werden kann, da Überlebende in der Regel auch durch Worte verletzt worden sind.* Worte und Berührungen sind natürliche Elemente menschlicher Kommunikation. Entscheidend ist, ob sie unterstützend und heilend verwendet werden oder nicht.
Wenn über Berührung gestritten wird, geht es vor allem um die Frage der Retraumatisierung. Überlebende und Therapeuten eint die Befürchtung, dass Menschen, die ein physisches Trauma erlitten haben, durch die Arbeit mit körperlichen Herausforderungen und Angriffen erneut traumatisiert werden könnten. Kurzum: Sie werden durch einen Angriff nicht traumatisiert. Unterliegen traumatisiert – Siegen ist heilend!
Souveränität markiert die Grenzlinie zwischen neuer Verletzung und Heilung. Wenn sich Klienten durch Berührung und Selbstverteidigungstraining innerlich sammeln, erfahren sie das eher als Triumph denn als Trauma. Das Gefühl, erfolgreich zu sein, dieses Mal siegen zu können, schafft Erleichterung, Freiheit und Heilung. Es ist weniger ein einzelnes Ereignis, das traumatisiert, sondern die Machtlosigkeit, die Hilflosigkeit und der Schmerz, die ein Opfer erlebt. Stellen Sie sich vor, Sie fallen ins Wasser. Ist das traumatisierend? Ja – wenn Sie nämlich nicht schwimmen können. Schwimmen Sie hingegen gut, dann macht Ihnen das, was für einen anderen Menschen traumatisierend ist, vielleicht sogar Spaß. Das Problem besteht nicht darin, angegriffen, sondern darin, überwältigt zu werden. Sobald Sie feststellen, dass Sie erfolgreich mit Berührungen, körperlichen Herausforderungen und Angriffen umgehen können, beginnen sich die Verfestigungen alter Traumatisierungen aufzulösen.
Die Heilung begleiten
Falls Sie professionell oder im Rahmen einer Selbsthilfegruppe als Gruppenleiter agieren, sollten Sie sich ihrer Fähigkeiten wie auch der Grenzen Ihrer Kompetenz und Wahrnehmungsfähigkeit bewusst sein. Leiten Sie nur Übungssequenzen an, bei denen Sie die Sicherheit der Teilnehmer gewährleisten können. Die Übungen und Trainingsziele, die ich Ihnen in diesem Buch vorlege, stehen für sich selbst und können ohne weitere Vorbereitung oder Ausbildung angeleitet und erreicht werden. Und wieder gilt: Sollten Sie sich unsicher fühlen, ob Sie bestimmte Sequenzen anleiten können, sollten Sie zweifeln, ob die Gruppe genug Ressourcen zur Bewältigung einer Übung hat, oder selbst bei einer bestimmten Thematik nervös werden, dann verzichten Sie darauf, ziehen Sie sich von dem Thema zurück. Wenn ein bestimmtes somatisches Übungselement schwierig für Sie ist, kann es sinnvoll sein, eine Zeit lang Unterricht in einer Methode zu nehmen, in der Körperselbstwahrnehmung ein zentrales Thema ist. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, an einem BIM-Training oder dem Training einer anderen somatischen Disziplin teilzunehmen. Hinweise auf die BIM-Ausbildung finden Sie am Anfang dieses Buches.
Holen Sie sich das Einverständnis der Menschen ein, mit denen Sie arbeiten, bevor Sie irgend etwas tun. „Darf ich Ihren Bauch berühren?“ „Ist es in Ordnung, wenn wir daran arbeiten, Ärger durch Ruhe zu ersetzen?“ Missbrauchsüberlebende haben massive, gewalttätige Grenzüberschreitungen erlebt, und es ist äußerst wichtig, sie jedes Mal über das aufzuklären, was Sie vorschlagen. Nur wenn Sie die ausdrückliche Erlaubnis Ihrer Klienten erhalten, sie zu berühren oder anders mit ihnen zu arbeiten, dürfen Sie anfangen.
Behalten Sie auch vor Augen, dass, nur weil eine Person Ihnen eindeutig und ausdrücklich etwas Bestimmtes erlaubt hat, es sich keineswegs um eine wirkliche Erlaubnis handeln muss. Missbrauchsüberlebende sind gut darin geübt, zuzustimmen und zu verstummen. Sie sind darauf trainiert, Menschen mit Macht zu erlauben, sie zu benutzen. Manchmal wird Ihnen jemand die Zustimmung zu Berührungen oder Übungssequenzen geben, weil er oder sie denkt, zum Mitmachen verpflichtet zu sein. Manchmal wird ein Missbrauchsüberlebender erst in der Lage sein, Nein zu sagen, wenn er den Schritt, zu dem er seine Zustimmung innerlich vorher nicht gegeben hatte, tatsächlich bewusst und gewollt gegangen ist. Manchmal wird jemand alle Stufen des Prozesses durchlaufen und gleichzeitig innerlich so perfekt von dem, was passiert, abgetrennt sein, dass Sie die Person mit Ihren Interventionen innerlich gar nicht erreichen, ohne es selbst wahrzunehmen. Ich bin mit diesem Problem nur selten konfrontiert, aber es ist wichtig, dass Sie sich dieser Möglichkeit bewusst sind. Gehen Sie langsam und sorgfältig vor, das ist letztlich alles, was Sie tun können.
Erinnern Sie sich bitte: Sie müssen kein Experte sein, wenn Sie die BIM-Übungen anleiten wollen. Vieles aus meiner Praxis lässt sich nicht einfach aufschreiben, aber das, was in diesem Buch zu lesen ist, können, dürfen und sollen Sie verwenden. Sie müssen nicht das gesamte Material beherrschen, bevor Sie einen Teil davon nutzen. Wenden Sie das an, was Ihnen zugänglich ist, alles Weitere wird sich Ihnen im Laufe der Arbeit erschließen.
Außer sich Fallbeispiel
Martha war außer sich, als Sie in die Praxis kam. Ein Paar Tage nach unserer letzten Sitzung war ihr klar geworden, dass sie meine Interventionen als Übergriff erlebt hatte, und war nun wütend auf mich. (In der vorhergehenden Stunde hatten wir Möglichkeiten erkundet, wie sie sich sammeln und zentrieren konnte und so die Kontrolle über ihre Grenzen aufrechterhielt. Martha war als kleines Kind sexuell missbraucht worden. Nachdem ich ihre Erlaubnis zu einem verbalen Experiment eingeholt hatte, sagte ich, ich würde ihr einen Finger in die Muschi stecken. Sie hatte die Aufgabe, gleichmäßig zu atmen, ruhig zu bleiben und laut und deutlich „Nein“ zu sagen.)
Ich fragte Sie, was genau sie als Übergriff erlebt habe. Nach längerem Zögern fiel ihr die Antwort immer noch schwer, es war der Moment gewesen, in dem ich das Wort „Muschi“ benutzt hatte. Ich bat sie, das Wort „Übergriff“ zu erklären, und gemeinsam fanden wir eine Definition: Es handelt sich um einen Übergriff, wenn man wider den eigenen Willen einem verletzenden Zwang oder Druck oder einem Einfluss irgendeiner Art zum Nutzen der Person, die diesen Zwang anwendet, ausgesetzt ist.
Als Martha danach mein Verhalten logisch und leidenschaftslos betrachtete, war ihr schnell klar, dass ich sie weder körperlich verletzt hatte noch irgendeinen persönlichen Nutzen aus der fraglichen Situation gezogen hatte. Ich hatte lediglich die Rolle des Angreifers in einer Selbstverteidigungsübung übernommen. Ich schlug ihr vor, das Gefühl, angegriffen zu werden, von einem tatsächlichen Übergriff zu unterscheiden. Dadurch, dass ihr bewusst wurde, ein Gefühl von etwas zu haben bedeute nicht notwendigerweise, dass dem ein wirkliches Ereignis entspricht, konnte sie sich von den intensiven Gefühlen, die sie überschwemmten, distanzieren. Das half ihr, wieder eine selbstbestimmte Haltung gegenüber ihren Gefühlen und ihrer Umgebung einzunehmen.
Intellektuell war sich Martha darüber im Klaren, dass ich sie nicht angegriffen hatte. Aber während wir über die Situation sprachen, geriet sie mehr und mehr außer sich und begann zu weinen. Ich ließ sie die Hände auf ihren Bauch legen und den Bauch beim Atmen nach außen pressen. Sie beruhigte sich sehr schnell und meinte erstaunt, normalerweise schmerze ihr Hals wenn sie sich zwinge, nicht zu weinen, jetzt aber sei sie einfach nur innerlich ruhig. Das machte ihr den Unterschied deutlich zwischen dem „negativen“ Versuch, etwas nicht zu tun, mit dem Weinen aufhören, und der „positiven“ Handlung, sich zu sammeln und zu zentrieren.
Dann gingen wir wieder zur Arbeit auf der Matte über. Wieder sagte ich zu Martha, ich würde ihr meine Finger in die Muschi stecken. Ich bewegte meine Hand so langsam auf ihren Schritt zu, dass sie viel Zeit hatte, ihren Bauch zu entspannen und zu atmen. Dann ließ ich sie meinen Arm wegstoßen, meine Haare fassen, meinen Kopf nach hinten ziehen, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, und ließ sie mich zu Boden werfen. Sie war sehr überrascht, dass ihr das gelang, und wollte diese Sequenz sofort begeistert mehrmals wiederholen. Nachdem sie mich ein paar Mal auf die Matte geworfen hatte, verkündete sie, sie fühle sich großartig und ihr Körper würde prickeln, als ob er gerade aufwache.
* Falls es Sie interessiert, wie dieser Trainingsprozess in anderen Lebensbereichen außerhalb der Trauma- und Missbrauchsverarbeitung angewandt werden kann, informieren Sie sich bitte auf meiner Website www.being-in-movement.com.
* The Ethical Use of Touch in Psychotherapy. Mic Hunter & Jim Struve. Sage Publications, Thousand Oaks CA, 1997.