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Hort des Lebens

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Ama klappte das abgegriffene Buch vorsichtig zu und legte es beim Schein des großen Feuers bedächtig zur Seite. Sie blickte den Zuhörern aus der großen Runde in ihre Gesichter, in welchen sich das Flackern der Flammen und ihr Widerschein vom Baumwaldrand fingen. Achtunddreißig Frauen, Männer und auch Kinder hatten sich mittlerweile hier oben im Norden des Mittellandes im „Hort des Lebens“ eingefunden, wie dieser bewaldete Hügel schon bei ihrer Ankunft vor zwei Zyklen von seinen Bewohnern genannt worden war. Manche sahen still auf den Boden, andere starrten mit offenem Mund oder auch nur mit großen Augen nach vorn. Die alten Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

Naria näherte sich Amas Stuhl von der Seite her. „Verehrte Schwester und Erste, habe Dank dafür, dass du mich und meine Sippe auf diese Weise ehrest, dass du bereits am ersten Abend unserer Ankunft aus diesem von uns bewahrten Werk in der Versammlung vorzutragen gedachtest!“

Ama lächelte sanft, wenn auch etwas müde. „Andersherum ist es, verehrte Schwester. Es ist mehr als eine Ehre, dass nach all der Zeit Menschen zu uns gefunden haben, die nicht nur wie auch wir der alten Geheimnisse der Kräuter kundig sind, sondern die auch noch eines der wichtigsten Werke aus der Zeit nach dem Ende der Alten Sprache mit in die heutige Zeit hinübergetragen haben. Euer Erscheinen ist wie das Aufgehen eines Sternes am Ende einer dunklen Nacht. Die Prophezeiung des Kol Noramak war zu lange verschollen, als dass dies ein Zufall sein könnte. Im Gegenteil, ich halte es für ein Zeichen. Noch heute Nacht werde ich mit Kela darüber meditieren. – Ich danke allen für die Teilnahme an unserer Versammlung!“

Naria nahm das Buch an sich, verneigte sich vor Ama und wandte sich zum Gehen, als deren leise Stimme sie noch einmal zurückrief. „Liebe Naria, du bist eine Bruka wie ich. Es ist wahrlich respektvoll, dass du dich vor deiner Ersten verneigen möchtest. Bitte lasse mich dir dennoch mitteilen, dass wir in dieser Gemeinschaft nicht auf diese Weise verfahren. Wir ehren uns durch den Austausch des Lichtes in uns und durch sein äußeres Anzeichen, das Lächeln, nicht jedoch durch Verbeugungen. – Könntest du dies auch bitte zu denjenigen tragen, welche mit dir hier heute eingetroffen sind?“

„Selbstverständlich und gern!“ Überrascht und mit einem Strahlen im Gesicht begab sich die junge Frau zu der frisch errichteten Holzhütte am Rand des großen zentralen Platzes, welche ihr neues Zuhause war. Schmunzelnd sah Ama ihr nach, bevor eine tiefe Männerstimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Sag, Ama, du hast uns nun ein wahrhaft schrecklich gezeichnetes Bild aus dem alten Buch vorgelesen“, sagte Finn zu ihr. „Weißt du denn auch Näheres zur Bedeutung dieser Zeilen? Ist das Beschriebene bereits geschehen oder steht es uns noch bevor?“

„Sowohl das eine als auch das andere ist der Fall“, sagte Ama langsam und betont, während sie dem hünenhaften Mann in die Augen sah. Er war einer der ursprünglichen Bewohner des Hügels und Begründer der hiesigen Gemeinschaft des Wiegeler Waldes. Sie lächelte in sich hinein, als sie sich daran erinnerte, wie misstrauisch er Sus, Gita und sie nach ihrer Reise durch das Küstenland begrüßt hatte. Kräuterväter und -mütter hatten derzeit wirklich keinen einfachen Stand.

„Du meinst, es ist wie schon so oft und die Geschichte wiederholt sich?“, fragte Finn. „Soweit ich weiß, wurden diese Zeilen vor vielen Dekazyklen geschrieben, als Schrecken im ganzen Land die Menschen ängstigte und die Soldaten des Herrschers alle verfolgten, die ihm nicht genehm waren, insbesondere Menschen mit unserer Begabung.“

„Ob sie sich wiederholt oder reimt, das wird sich zeigen“, sinnierte Ama halblaut und schaute in die prasselnden Flammen. „Ich spüre seit einiger Zeit, dass sich Unruhe im Lande ausbreitet, und je mehr von uns sich hier versammeln, desto deutlicher ist mein Eindruck geworden. Heute Nacht werde ich darüber mit Kela auf dem Plateau an der Quelle eine Lichtmeditation durchführen.“

„Ich werde ebenfalls zu euch stoßen“, verkündete die Stimme einer Frau mittleren Alters von der Seite her, die sich den beiden genähert hatte.

„Gern nehmen wir dich mit dazu, Lera“, erwiderte Ama lächelnd. „Zu dritt war der Fluss des Lichtes immer besonders intensiv.“

Finn nickte. Zwar war auch er ein Bruk, aber wenn die Erste, ihre Vertreterin und die Geistkundlerin beschlossen hatten, zu dritt zu meditieren, dann war es für ihn in Ordnung. Er war praktischer veranlagt. Gerade wollte er Feuerholz nachlegen, als er bemerkte, wie sich eine kleine Gruppe mit Fackeln vom verborgenen Haupteingang des Geländes her dem Lager näherte. „Ron, Mark?“, rief er, um dann mit den Angesprochenen auf die Ankömmlinge zuzugehen. Es waren aber nur Han, Jule und Gita, die von ihrem spätabendlichen Besuch beim nahe dem Baumwald gelegenen Bauerngehöft mit neuem Käse zurückkehrten. Allerdings hatten sie einen seltsam erregten Gesichtsausdruck.

„Was gibt es?“, fragte Finn sofort.

„Etwas Merkwürdiges. Wir brauchen umgehend etwas Redezeit, um allen eine Nachricht zu überbringen“, verkündete Han.

„Dann geh und sprich Ama an, bevor sie mit Kela und Lera auf das Plateau geht. Es sind praktisch noch alle da. Sie hat gerade die Prophezeiung verlesen.“

„Na, das trifft sich ja prächtig“, knurrte Han, der die alten Worte aus dem Buch bereits am frühen Abend vernommen hatte. „Ungefähr um etwas Derartiges dürfte es sich handeln.“

Während die kleine Gruppe zum Lager zurückkehrte, war Ama bereits dabei, sich mit ihren beiden Begleiterinnen auf den Weg zum Quellplateau zu machen. Sie wurde jedoch am Rande des Lagers von Sus aufgehalten. „Verehrte Schwester“, sagte diese, während sie ihre Freundin mit ihrem nachdenklichen Blick aus dunklen Augen ansah. „Etwas geschieht gerade. Ich spürte ein Beben des Lichtes wie das Flackern des Mondes, wenn eine Wolke vorbeizieht.“

Ama umarmte Sus. Sie kannte sie lange genug, um das innere Schaudern ihrer engsten Vertrauten auch ohne äußere Anzeichen wahrzunehmen. „Ich habe es auch gespürt“, wisperte sie ihr ins Ohr. „Deshalb gehen wir drei ja gerade, um nach Klärung zu suchen.“

„Die Klärung kommt dieses Mal von dort“, sagte Sus in geheimnisvollem Ton und zeigte auf die Gruppe mit den Fackeln, die soeben beim Feuer eingetroffen war und sich nun suchend umschaute.

Sofort kehrte Ama zum Lager zurück. Kaum wurde sie von Han erspäht, unterbrach dieser die Stille der Nacht mit seiner halblauten Stimme: „Erste, wir bringen Kunde, die unser Leben und das vieler Menschen in Nian nachhaltig verändern könnte. Ich erbitte daher die Möglichkeit, unmittelbar zur gesamten Gemeinschaft zu sprechen.“

Ama spürte ein Prickeln ihre Wirbelsäule emporklettern. Nicht nur Sus’ eindringliche Worte hatten sie aufmerken lassen – wenn nun auch Han, ein sehr ruhiger und besonnener Mann, auf diese förmliche Weise und in so dramatischem Ton zu ihr sprach, musste die Angelegenheit wirklich sehr ernst sein. Sie begab sich neben das Feuer, hob die Hände und rief: „Das Wort hat nun noch einmal Han. Bitte lauscht und spürt inwendig, wie es geschehen wird.“

Fast schlagartig wurde es ruhig um das Feuer. Jegliches Gespräch verstummte, nur noch das Knacken der brennenden Scheite war zu vernehmen, als Han vortrat und zu sprechen anhob.

„Verehrte Geschwister, liebe Gemeinschaft des Waldes. Wir kommen soeben von unserem Tauschbesuch beim Bauern. Dieses Mal bringen wir aber nicht nur Käse mit. Als wir dort eintrafen, war bereits Besuch dort. Wir wissen ja seit einiger Zeit, dass hier in der Nähe Menschen leben, die sich rasend schnell über Kräuterwiesen hinwegbewegen können. Einige von uns sind diesen sogenannten Federern bereits begegnet. Einer von ihnen namens Pal Gernok befand sich vorhin gerade im Haus des Bauern und machte den Eindruck, uns erwartet zu haben. Als wir gingen, verließ er ebenfalls das Haus und nahm uns ein paar Mittelmaße weiter beiseite, um uns einige wirklich bedeutende Dinge mitzuteilen.“ Gebannt lauschten alle Anwesenden, als er weitersprach. „Zuallererst soll ich uns allen, besonders aber unserer Ersten“, er nickte Ama zu, „im Namen seines Ersten herzliche Grüße ausrichten. Vor wenigen Tagen wurde im Mittelland nämlich der Klan der Federer neu gegründet. Ein Junge namens Kai hat dessen Führung inne.“

In Amas Gesicht erschien ihr schönstes und breitestes Lächeln. „Es ist also wahr!“, rief sie halblaut. „Unser Freund und Vertrauter hat seine Bestimmung gefunden!“

„Das ist aber leider nicht alles“, setzte Han fort und seine bisher entspannte Miene verdüsterte sich. „Gestern hat besagter Pal ein Teleskript seines Klans mit dem Auftrag erhalten, der Gemeinschaft der Kräutermütter und -väter nahe dem Elvon – damit können nur wir gemeint sein – zwei Botschaften auszurichten. Die eine ist recht angenehmer Natur: Offenbar gibt es weitere Geschwister im Land, die unsere Anwesenheit hier erspürt haben und zu uns aufgebrochen sind, um uns und auch ihre Erste hier zu treffen. Die andere jedoch hat es in sich: Anscheinend gibt es einen sich rasch im Lande ausbreitenden Streit zwischen verschiedenen Reiterklans, der nun offenbar nicht mehr nur mit Worten ausgefochten wird, sondern auch mit Taten. Eine zentrale Figur dabei soll der neue Erste des Klans der Lindenreiter sein. Laut einer Warnung, die der Erste Federer persönlich von einem Merkantusbaum erhalten hat, sei dieser neue Erste daran interessiert, tiefe Gräben durch die Gemeinschaft der Reiter zu ziehen und Unfrieden zu stiften, wo immer er nur könne. Zugleich schare er Getreue um sich und bereite sich auf einen Kampf vor. Wörtlich habe der Merkantus gesagt, den Reitern stehe eine dunkle Zeit bevor, und allen Menschen, die nicht auf das Licht in sich achten würden, drohe Gefahr.“

Ein Raunen ging durch die versammelten Brukas. Hatten sie nicht gerade aus dem Munde ihrer Ersten einige Worte aus einem uralten Buch vernommen, die dem gerade Gehörten auf verblüffende Weise ähnelten?

„Das ist aber immer noch nicht alles. Der Erste Federer lässt uns ausrichten, er vermute konkret, dass eine Art Herrschaftsübernahme durch den Ersten der Lindenreiter geplant sein könne, der sich übrigens seit kurzem ‚Ältester‘ nennen ließe. Und als Letztes teilt er uns noch den Namen desjenigen mit: Sid Lucius Albo. Kann irgendjemand von uns etwas damit anfangen?“

Ama wiederholte den Namen gedankenverloren vor sich hinmurmelnd. Es war nicht unüblich, dass ein hochgestellter Amtsträger sich einen zweiten, klangvollen Vornamen gab. Lucius, das bedeutete „der Strahlende“ oder auch „Mensch des Lichts“. Auch die Bezeichnung „Ältester“ war nicht ungewöhnlich, um die besondere Stellung des Ersten des Klans der Lindenreiter zu betonen.

Han führte nun seine Rede zu Ende. „Auch wenn dies alles keine direkte Bedrohung für uns zu bedeuten scheint, so dürfte es uns mittelbar betreffen, wenn bei den Reitern eine Art Bruderfehde vom Zaun gebrochen wird. – Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit, verehrte Geschwister.“

Ama trat nun wieder vor und sagte laut: „Ich danke Han für diese eindringlichen Worte. Es ist wahr, Dinge geschehen derzeit in Nian, deren Auswirkungen wir noch nicht abzusehen vermögen. Falls jemandem in dieser Runde noch etwas zu diesem Thema einfallen sollte, bitte ich darum, es uns – oder gern auch mir allein – mitzuteilen. Ich möchte nun diese Runde schließen und die Gelegenheit nutzen, auch die soeben erhaltenen Neuigkeiten zusammen mit Kela und Lera oben an der Quelle mit in die Verbindung einzubringen. Habt herzlichen Dank für eure Zeit.“

Damit war die Versammlung abermals beendet. Nachdenklich begaben sich Ama, Lera und Kela erneut auf den Weg zum Hügelplateau. Sie alle konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nun Dinge von großer Tragweite dabei waren, ihren Lauf zu nehmen.

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