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Reise ins Ungewisse

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„Hallo, da seid ihr ja wirklich!“ Mit einem strahlenden Lächeln öffnete Herk die Tür seiner Wohnung, durch die zwei ebenso fröhlich grinsende andere Federer eintraten.

„Also, ich muss sagen, leicht gemacht hast du es uns nicht gerade, dich zu finden“, feixte Lutz gespielt vorwurfsvoll. „Einen so klangvollen Straßennamen wie ‚Neuer Weg‘, den es in Medriana ja auch nur lächerliche drei Male gibt – da braucht man ja gar nicht lange zu suchen.“

„Schon klar, tut mir leid, ich vergesse immer, den nördlichen Bezirk anzugeben“, erwiderte Herk augenzwinkernd. „Und, Malu, bist du bei der Suche schon verhungert?“

„Jetzt, wo du es erwähnst …“, sagte das Mädchen, schnupperte in die Luft und leckte sich über die Lippen, „… sind das etwa deine Kohlschnetzel mit Kümmel auf Nudeln mit Käse-Sahnesauce?“

„Hab ich es doch geahnt, dass du wie immer einen Bärenhunger mitbringst! Klar, ich weiß doch, wie gern du dieses Gericht magst! – Also, dann legt mal eure Sachen ab und lasst uns erstmal anständig tafeln. Dabei kann ich euch erzählen, wie wir am besten zur Ebene gelangen können.“

„Ich verstehe immer noch nicht, weshalb wir nicht einfach Kais Megafon-Methode benutzen“, warf Malu ein. „Wer immer dieser ominöse letzte Federer ist, er würde uns hören und könnte uns entgegenreisen.“

Lutz schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, was Kai dazu gesagt hat: Er kann es zwar nicht erklären, ist sich aber ganz sicher, dass das so nicht funktionieren würde. Aber an etwas hast du mich doch erinnert, wir wollten ihm doch bei der Abreise Bescheid geben! Können wir deinen Teleskriptor nehmen, Herk?“

„Klar. Aber konzentriert euch bitte trotzdem auch nochmal in Richtung der Flussstadt und schickt eine Gedankennachricht, damit Linn mitbekommt, dass wir losziehen, ohne dass wir seinen Vater ‚mit Teleskripten zuschütten‘, wie dieser sich wohl ausdrücken würde.“

Malu schnaubte verächtlich. Pah. Nur weil Linns Vater ein hoher Reiter war, sollte er nicht das Recht haben, sich wegen ein paar Teleskripten zu beschweren, die sein Sohn von seinen Klanfreunden geschickt bekam. Zum Glück konnte Linn als bislang Einziger im Klan intensiv geformte Gedanken aller anderen Federer in seinem Kopf hören, ohne dass man einen übermäßig verstärkten Ruf in seine Richtung herausschreien musste. Ohne ihn hätten sie von der Existenz des verschollenen Federers auf der Westlichen Ebene nichts geahnt. Da war es natürlich klar, dass man ihn ebenfalls auf dem Laufenden hielt. Malu seufzte. Wenn doch nur alle Erwachsenen so wären wie Lutz oder Herk oder auch Kais Eltern! Dann wären viele Dinge deutlich unkomplizierter.

Nach dem Verschicken des Teleskripts setzte sich Lutz mit an den schlichten Küchentisch, an welchem Herk und Malu bereits mit knurrendem Magen Platz genommen hatten. Beim Essen schilderte Herk die Reiseroute, welche er für die kommenden Tage ausgearbeitet hatte: „Also, ich möchte nicht mit meinem Auto auf die Ebene fahren und es auch nicht in ihrer Nähe abstellen. Daher würde ich die erste Strecke gern mit dem Zug zurücklegen. Von hier aus kommen wir direkt nach Gehlstadt und dann mit dem Bummelzug weiter bis Wesenburg. Das liegt direkt an der Arealgrenze.“

„Wie?“, warf Malu ein. „Wir federn da nicht hin? Ich meine, die Mederebene ist im Frühling voller saftiger Gras- und Kräuterwälder!“

„Dir mag eine Strecke von hundertzwanzig Langmaßen nichts ausmachen, junge Dame“, erwiderte Herk mit hochgezogener Augenbraue. „Mir persönlich reicht es, wenn wir mit dem Sport an der Grenze beginnen. Ich bin nicht mehr so gut in Schuss wie du, mir tun die Grashalme immer etwas leid, die mich in die Luft werfen sollen.“

„Kein Wunder“, fügte Malu kauend hinzu. „Man kann ja leicht sehen, dass du selbst beim Essen dein bester Kunde bist! Und man schmeckt ja auch, warum das so ist!“ Schlürfend schob sie sich den nächsten Löffel in den Mund. Lutz grinste. Ob sie sich jemals das Sprechen mit vollem Mund abgewöhnen würde?

„Weißt du“, grinste Herk und strich sich über den Bauch, „abgesehen davon würde die Reise auf diese Art für mich mehrere Tage dauern. So viel Zeit habe ich aber für unsere Expedition nicht. Nee, nee, lass uns ruhig den Zug nehmen. Ich übernehme das Ticket für dich, Malu. Nach dem Essen schnappe ich mir meinen Tragsack und dann gehen wir zum Terminal.“

„Wie kommen wir ab Wesenburg weiter?“, fragte Lutz.

Herk verzog das Gesicht. „Das wird solange fraglich bleiben müssen, bis wir da sind. Keine Schienen führen von dort aus nach Westen und auch ausgebaute Straßen gibt es praktisch nicht. Sollte die Gegend so karg sein, dass wir dort nicht federn können, dann würden wir handelsüblich auf Schusters Rappen weitergehen oder irgendeinen Droschkendienst in Anspruch nehmen müssen.“

Fast wäre Lutz der Löffel aus der Hand gefallen. „Droschkendienst? Jetzt sag nicht, wie vor fünf Dekazyklen mit Lasttier und Deichsel? Ich meine, fahren sie denn nicht mal Autos auf der Ebene?“

„Das ist ja gerade der Witz, dass es niemand weiß“, sagte Herk resigniert. „Bei euch in Irania wird vermutlich nie über die Ebene gesprochen, richtig? Bei uns ist es nicht anders, obwohl sie fast vor der Haustür liegt. Ich kenne niemanden, der mal dort war und erst recht keinen, der von dort kommt.“

„Ja, das ist echt total durchgerädert“, meinte Malu nun, die ihr Essen beendet hatte. „Selbst wenn dort Riesen leben würden, hätte hier keiner eine Ahnung davon. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass wir uns diesen Landstrich mal ansehen.“

Eine Langzeit später standen die drei Federer vor dem prachtvollen, wenn auch etwas altmodischen zentralen Bahnhofsgebäude der Hauptstadt Nians. Es strahlte immer noch denselben Charme aus wie zur Zeit seiner Erbauung vor zehn oder mehr Dekazyklen, aber der Zahn der Zeit hatte auch vor ihm nicht haltgemacht. Viele hundert Menschen liefen hier auf dem Vorplatz durcheinander, verließen die große Bahnhofshalle durch die Drehtüren oder hetzten mit ihren Koffern hinein, wenn sie sich ihre Habseligkeiten nicht von den Gepäckträgern mit ihren blauen Uniformen und den roten Schiebewagen transportieren ließen. An vielen kleinen fahrbaren Buden duftete es nach unterschiedlichen Arten von Straßenmahlzeiten, aber außer Malu, die einfach immer Hunger hatte, schien es keinem der Federer aufzufallen. Zielstrebig ging Herk durch eine Drehtür in die Halle hinein und steuerte auf einen Schalter zu, an dem Fahrkarten verkauft wurden. Seine beiden Begleiter folgten ihm.


Malu war von dem Gewimmel in dieser Metropole und insbesondere in diesem Bahnhof total fasziniert und sogar ein wenig überfordert. So viel Technik und so viele Menschen auf so engem Raum! Staunend schaute sie mal hierhin, mal dorthin. Ein lautes Rasseln ließ ihren Blick verwundert nach oben unter die Hallendecke wandern. Dort befand sich eine elektromechanische Anzeigetafel, mit deren Hilfe die aktuellen Zugverbindungen und Abfahrtszeiten dargestellt wurden. Gerade wollte sie sich etwas anderes anschauen, als ihr plötzlich ein neuer Eintrag auf der Tafel ins Auge sprang.

„Sag mal, Lutz, wollte Herk nicht mit uns von Gehlstadt nach Wesenburg fahren? Sieh mal dort unten in der letzten Zeile!“

Lutz las und tippte daraufhin Herk in der Schlange vor dem Schalter an. „Schau mal, was sagst du dazu?“ Tatsächlich ließ die neue Anzeige alle die Stirn runzeln. „Strecke Gehlstadt – Wesenburg derzeit nicht befahrbar. Tickets werden erstattet. Näheres an der Information“, stand dort geschrieben.

„Da muss ich doch gleich mal fragen, was das soll“, brummte Herk. Kurz darauf war er an der Reihe und meinte zu der blau gekleideten Dame hinter dem Schalter: „Guten Tag – eigentlich wollten wir drei Tickets nach Wesenburg lösen, aber weshalb ist denn die Strecke gesperrt?“

„Ach, das ist wegen der Bauarbeiten“, kam die Antwort. „Leider können wir auf dieser Nebenstrecke auch keinen Ersatzverkehr anbieten, die Straße ist so schlecht und die Brücke dort so schmal, dass jeder unserer Busse stecken bleiben würde.“

„Das ist ja merkwürdig“, sagte Herk. „Gestern habe ich mich über die Verbindung informiert, aber da war keine Rede von Bauarbeiten. Nun, unsere Reise lässt sich nicht verschieben. Bis Gehlstadt können wir aber fahren, ja?“

Zehn Mittelzeiten später warteten alle drei Federer am Gleis auf den Expresszug in Richtung Westen. Da es sich um eine Hauptstrecke handelte, fuhr häufig ein Zug. Für die Fahrtdauer war etwas mehr als eine halbe Langzeit veranschlagt, was Malu vollkommen unrealistisch erschien. Dann aber staunte sie nicht schlecht, als eine hochmoderne, stromlinienförmige Elektrolokomotive mit fünf silbernen Waggons auf ihrem Gleis in den Bahnhof einfuhr. „Woah! Kann die auch fliegen? Ich kenne nur entweder die roten Ölloks oder die alten dampfbetriebenen Kisten, so eine habe ich noch nie gesehen!“

„Die gibt es erst seit einem Zyklus“, grinste Herk. „In der anderen Richtung soll sie ab dem nächsten Frühling bis zur Großen Flussstadt fahren. Dann dauert die Fahrt dorthin nur noch knapp anderthalb Langzeiten!“

Das glaubte Malu nie und nimmermehr. Nachdem sie jedoch eingestiegen waren und der Express Fahrt aufgenommen hatte, begriff sie allmählich, weshalb sich die Fenster des Abteils nicht öffnen ließen, was sie zunächst sehr geärgert hatte. Die Gegend flog in einer derartigen Geschwindigkeit an ihr vorbei, dass ihr Federn dagegen geradezu wie Kriechen erschien. Mit ganz plattgedrückter Nase wollte sie schließlich auf ihrem Sitz Platz nehmen, als Lutz seinen Tragsack ergriff und meinte: „Komm, wir gehen zu den Türen.“

„Wie, sind wir etwa schon da?“

„Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich lieber so reisen als federn wollte“, erwiderte Herk grinsend, nachdem er sich ebenfalls seinen Tragsack wieder aufgesetzt hatte. „In wenigen Mittelzeiten erreichen wir Gehlstadt Hauptbahnhof! Mal sehen, wie wir von dort aus weiter vorankommen.“

Auch in einer mittelgroßen Stadt wie Gehlstadt war mittags allerhand los auf dem Bahnhof. Zwar gab es hier nur sechs Gleise statt vierzehn wie in Medriana, aber dafür waren die Zugänge auch schmaler ausgelegt, so dass Malu das Gedränge als ähnlich beklemmend empfand wie in der Landeshauptstadt. Vor dem Gebäude atmete sie erst einmal tief durch. Herk winkte einen freien mietbaren Wagen heran und sprach mit dem Fahrer. Mit verwundertem Gesichtsausdruck kam er zu Lutz und Malu zurück.

„Hier stimmt etwas nicht“, verkündete er. „Baustelle, wie? Nicht nur das Gleis nach Wesenburg ist gesperrt, sondern die Straße auch! Als der Fahrer heute Vormittag die ersten Fahrgäste dort hinbringen sollte, wurde er von Verkehrslotsen an der Weiterfahrt gehindert und musste umkehren.“

„Verkehrslotsen? Was ist denn das?“, wollte Malu wissen.

„Du weißt doch, dass es in größeren Städten nicht nur Dorfwarte und ihre Angestellten gibt, sondern dass dort die Gebiets- oder Arealverwaltungen besondere Kräfte stellen, die für Recht und Ordnung sorgen, nicht wahr?“

„Ja.“ Malu rümpfte die Nase. Diesbezüglich hatte sie ihre Erfahrungen schon gemacht. Solchen Leuten sollte man tunlichst aus dem Wege gehen, wenn man als Jugendliche allein durch die Lande reiste.

„Manchmal werden sie Ordnungskräfte genannt, manchmal Polizei oder ähnlich. Wie auch immer, zu ihren Aufgaben zählt es auch, im Fall von Unglücken oder Naturkatastrophen Reisende an der Weiterfahrt durch betroffene Gebiete zu hindern. Menschen, die dies tun, werden eben Verkehrslotsen genannt. Aber ganz abgesehen davon – hier gab es weder ein großes Unglück noch eine Katastrophe, davon hätte ich heute Morgen etwas gehört.“

„Was also ist hier los?“, fasste Lutz mit seiner tiefen Stimme die Gedanken der drei Federer zusammen. Das war ja wirklich ausgesprochen rätselhaft.

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