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Über den Pass

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„Junge, Junge, das geht auf die Beine“, schnaufte Herk, bevor er sich zu den beiden anderen Federern auf einen Felsvorsprung setzte. Schon seit dem frühen Morgen waren sie auf dem Weg zu der niedrigen Stelle im Trenngebirge, über welche in früheren Zeiten womöglich regelmäßig Menschen von der Mederebene auf die Westliche Ebene und zurück gelangt waren. Falls irgendwann einmal in den Berg gehauene Stufen vorhanden gewesen sein mochten, so waren sie nun kaum noch als solche zu erkennen; der steile Pfad von Gehlstadt aus aufwärts zum Kerstlinger Pass bestand größtenteils nur noch aus Geröll und zerklüfteten Felsen. Der Bewuchs dort am Osthang war ebenfalls kärglich, weshalb auch einem Federer nichts anderes übrig blieb, als zu klettern.

Am Abend des Vortages hatten sie die Route ausgemacht, die sie zu dem verrufenen Bergübergang führen sollte. Schnell war klar geworden, dass ein Aufbruch noch am selben Tag sinnlos gewesen wäre. Herk hatte außerdem entschieden, für die Nacht eine Herberge zu suchen, da ein Aufenthalt im Freien den nötigen Kraftreserven für eine morgendliche Besteigung nicht zugutegekommen wäre. Selbst Malu als erfahrene Freilandübernachterin hatte dem zustimmen müssen. So hatten sich die drei ein kleines Apartment am Westrand der Stadt gemietet und waren am nächsten Tag direkt nach dem Frühstück aufgebrochen.


„Bald ist schon Mittag“, sagte Lutz, der ebenfalls ein ziemlich verschwitztes Gesicht hatte. „Ich muss schon sagen, ich hätte nicht gedacht, dass wir uns schon so verausgaben würden, bevor wir die Ebene auch nur betreten haben. Hoffentlich ist der Abstieg wenigstens etwas angenehmer.“

Malu sagte nichts. Sie war anstrengende Märsche mit Gepäck gewohnt; das war es nicht, was ihr zu schaffen machte. Je mehr sich die kleine Gruppe jedoch dem Grat näherte, der den Pass darstellte, desto öfter musste sie von neuem an das alte Gedicht denken. Und so war es auch nicht verwunderlich, dass sie als Erste das merkwürdige Geräusch vernahm, nachdem die Federer ihren Aufstieg nach kurzer Rast wieder aufgenommen hatten.

„Scht … Hört ihr das?“, fragte sie und hob die Hand.

„Was meinst du, das Pfeifen des Windes in meinen Ohren oder mein Keuchen?“, fragte Herk.

Malu verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Nein, so hör doch! Da ist es wieder!“

Lutz und Herk sahen sich achselzuckend an. Es sollte noch eine Weile und viele anstrengende Schritte aufwärts dauern, bis auch Lutz ein auf- und abschwellendes Heulen vernahm. Es klang, als ob ein trauriger Riese seinem Kummer Luft machte: „Huuu … uuuuoooaaahhhh … aaaaooouuuhhh … uuuhhhuuuu …“

„Jetzt hört ihr es aber, oder?“, wisperte Malu angstvoll. Längst waren ihre Augen geweitet und der Schweiß klebte ihr kalt auf der Haut.

„Ja, jetzt höre ich etwas“, sagte Lutz so ruhig wie möglich. Denn wenn er ehrlich war, dann war dies ein Klang, der auch einem gestandenen Mann das Blut in den Adern erstarren lassen konnte.

„Es ist der Grusling“, ächzte Malu. „Er hat uns gewittert! Wenn wir weitergehen, wird er uns ansaugen und …“

„So ein ausgemachter Blödsinn!“, entfuhr es Herk. „Pass mal auf, Malu! Wenn das ein Grusling ist, dann werde ich jetzt vorgehen und ihm mit diesem Knüppel hier eins überziehen, dass er aus einem anderem Grund heulen wird als jetzt!“ Wild schwang er den Stock, den er bisher als Wanderstab genutzt hatte, über seinem Kopf. Der Anblick des kleinen, stämmigen Mannes, der nun auch noch die Augen aufriss und wüst die Zähne fletschte, war so grotesk, dass Malu nicht anders konnte als laut loszulachen.

Auch Lutz konnte nicht an sich halten. „Wuahahaa! Herk der Geisterjäger! Das nenne ich mal eine gelungene Aktion! Na, dann werde ich mich auch mal bewaffnen und dem Burschen notfalls mal ein paar Klunker in seinen geifernden Rachen schmeißen!“ Mit gespielt wutverzerrtem Gesicht hob er ein paar große Steine auf und sagte zu Malu: „Los, schnapp dir auch ein paar! Und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir ihm nicht das Maul stopfen können!“

Das Lachen wirkte befreiend auf Malu. Es war aber auch zu komisch, wie die beiden friedfertigsten Erwachsenen, die sie kannte, sich angesichts dieses unheimlichen Jaulens in zwei kampflustige Urmenschen zu verwandeln schienen! Sie hob ebenfalls zwei Steine auf und folgte den beiden Männern weiter den Pass hinauf. Lauter und lauter wurde das Heulen, bis es ihnen dermaßen in den Ohren dröhnte, dass sie kaum ihr eigenes Wort verstehen konnten.

Auf einmal blieb Lutz, der zwei Schritte vorausgegangen war, stehen. Mit markerschütterndem Kriegsgebrüll schleuderte er einen der mitgebrachten Wackersteine von sich und nahm gleich den nächsten in die Hand. „Komm hierher, Herk, gib ihm eins auf die Rübe! Uuuuaaaaahh!“ Schon flog der nächste Stein. Malu erstarrte, teils vor Entsetzen, teils vor Bewunderung. Wie konnte es ein einzelner nur mit Steinen bewaffneter Mensch mit einem Monster aufnehmen, welches solch grässliches, überlautes Heulen von sich zu geben vermochte? Nun rannte auch noch Herk hinter Lutz her und begann, wie ein Berserker mit dem Stock um sich zu schlagen! Wie gelähmt starrte Malu die unwirkliche Szene an. Lange jedoch blieb sie dort nicht stehen. Was fiel ihr nur ein, hier vor Angst erstarrt ihren Freunden zuzusehen, wie sie einen übermächtigen Gegner allein bekämpften? Monster oder nicht, jetzt war der Grusling dran! Ein gellendes Kreischen entfuhr ihrer Kehle, als sie ebenfalls aufwärts stürzte und den Arm mit einem Stein hob, um diesen dem Geist in den Rachen zu werfen.

Als sie die beiden Männer erreichte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Herk hatte aufgehört, mit dem Stock auf den Boden einzudreschen und Lutz hatte gerade seinen letzten Stein in ein riesiges gähnendes Loch in der schrägen Felswand an der Seite des Grats geworfen. Polternd rollte dieser den dahinter befindlichen Steilhang hinab. Das jammernde Heulen ertönte noch immer, jedoch als Malu nun sah, woher es stammte, fühlte sie auf einmal keine Angst mehr. Stattdessen kroch dunkelrote Wut ihre Wirbelsäule empor. Als diese ihren Kopf erreichte, brüllte es aus ihr heraus: „Du blödes, unendlich mistiges Drecksloch! Deinetwegen habe ich mich also Zyklen lang vor diesem Ort gefürchtet! Na warte! Nimm das!! Und das!!“ Außer sich vor Zorn schleuderte sie ihre beiden Wackersteine durch das gewaltige Loch hindurch. Sie kollerten ebenso wie Lutz’ Wurfgeschosse knirschend den Hang dahinter herab.

Eine Weile lang war nichts zu hören außer dem lauten Jammern des Windes, der sich in dem Loch fing. Jedes Mal, wenn eine Bö die Felswand erreichte, wurde das Heulen lauter und höher und die drei Federer mussten ihr Gewicht verlagern, denn die wechselnde Luftströmung war wirklich sehr kräftig.

„Kein Wunder, dass hier eine solch gruselige Legende entstanden ist“, sagte Lutz schließlich mit seiner tiefen Stimme. „Wir haben ja heute noch recht gutes Wetter erwischt. Bei schlechter Witterung oder gar Sturm wird das Heulen vermutlich in ein nahezu unerträgliches Pfeifen übergehen und die Windströmung dürfte dann mühelos so stark werden, dass sie einen Menschen von den Beinen reißen und durch das Loch schleudern kann. Daher kommt dann wohl auch das ‚saugende Maul‘ in diesem Gedicht.“

Malu hatte sich wieder ein wenig gefangen, starrte aber immer noch voller Ärger auf das Felsloch. „Fragt sich nur noch, wer die ‚gierigen Helfer‘ sein sollen.“

„Vielleicht habe ich darauf eine Antwort“, rief Herk, der ein paar Schritte weitergegangen war. „Schaut mal.“

Als Lutz und Malu ihn erreichten, stockte ihnen der Atem. Nur zur Rechten und zur Linken von ihnen erhoben sich die Flanken der Berge weiter in den Himmel. Nach Westen jedoch bot sich den Federern ein prachtvoller Ausblick über die im Sonnenlicht leuchtende Westliche Ebene. Ganz eindeutig war hier die Kletterei vorbei, dies war der Kamm des Trenngebirges. Sie hatten den Kerstlinger Pass bestiegen!

„Und wo sind nun die Helfer?“, fragte Malu, nachdem sie sich eine Mittelzeit später vom atemberaubenden Anblick des weiten Landes hatte lösen können.

Herk zeigte mit dem Finger nach vorn. „Schau, wie sanft der Hang an dieser Seite des Gebirges abfällt. Der Wind muss hier in vielen Dekazyklen Erde, Kies und anderes Material angeweht oder von den Bergen abgetragen haben. Ich vermute, dass früher dunkle Gesellen von Westen her auf den Pass gestiegen sind und Wanderern oder Händlern aufgelauert haben, die den beschwerlichen Aufstieg mit ihrer Ware von Osten her auf sich nehmen mussten. Geschwächt wie sie waren, wurden diese dann leichte Beute der Räuber. Der eine oder andere konnte vermutlich fliehen. Und so ist dann das Gedicht entstanden.“

„Klingt logisch“, meinte Malu. „Heute aber lohnt es sich nicht mehr, hier jemandem aufzulauern, da sowieso niemand mehr etwas mit der Westlichen Ebene zu tun haben will und dieser Pass von keinem Menschen mehr benutzt wird.“

„Genau“, sagte Lutz. „Zumindest von keinem außer von drei Federern. Und genau jetzt wird es sich auszahlen, dass wir ebensolche sind!“

„Warum das?“, fragte Malu überrascht.

„Sieh doch, wie viele Pflanzen auf dieser Seite den Hang bewachsen! Fast überall steht Gras. Ich glaube, unser Abstieg wird nur einen Bruchteil der Zeit des Aufstiegs in Anspruch nehmen.“

Tatsächlich, er hatte recht. Malu strahlte erst ihn, dann Herk an. „Dann können wir ja vielleicht noch heute mit der Suche beginnen!“

„Zunächst mal sollten wir ganz allgemein Kontakt mit Menschen aufnehmen und schauen, ob sie wirklich so seltsam sind, wie die Gerüchte auf unserer Seite des Gebirges behaupten“, sagte Herk. „Dann müssen wir spontan entscheiden, was sich daraus für Folgen ergeben. Und wir sollten sehr vorsichtig sein. Vermutlich haben die meisten hier noch niemals einen Federer gesehen oder überhaupt etwas vom Federn gehört. Dass Menschen über den Pass kommen, kennt bestimmt auch kaum noch jemand. Wir könnten ihnen auf zweifache Weise fremdartig vorkommen und sie könnten sich überrumpelt fühlen.“

„Das stimmt“, sagte Lutz. „Lass uns die Reise über das Gras weit genug vor dem ersten Ort in der Senke beenden und dann zu Fuß weitergehen.“

Neues Unbehagen regte sich in Malu. Weiter als bis zum Pass hatte sie bisher gedanklich nicht geplant. Hoffentlich waren die Menschen hier nicht wirklich so unzivilisiert, wie manchmal erzählt wurde. Nun, noch vor dem Abend würden sie es wissen. Gemeinsam mit den beiden Männern flüsterte sie den ersten Grasbüschen ihren Wunsch zu und diese antworteten mit einem freudig-erstaunten Wispern. Federer in ihren Landen, die auf ihnen reisen wollten! Das hatten sie in ihrem Leben noch niemals erlebt. Fröhlich nahmen die Halme sie auf und schon federten drei Menschen mit ihren Tragsäcken wie auf Flügeln nianianischer Adler zu Tal.

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