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Scharmützel

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„Hier können Sie bitte anhalten“, sagte Herk zum Fahrer des Mietwagens.

„Weiter könnte ich Sie eh nicht bringen, dort vorn stehen bereits die Lotsen“, knurrte der Fahrer, der sich fragte, was wohl zwei Männer und ein Mädchen in dieser entlegenen Gegend wollen könnten. Er hatte ihnen doch von Anfang an gesagt, dass die Straße unpassierbar sei. Nun ja, wenn sie unbedingt für die Besichtigung einer Straßensperre zahlen wollten, warum denn nicht.

Herk war ausgestiegen und beugte sich durch das Fenster zu Malu herein. „Hast du dein kleines Taschenfernglas immer noch dabei?“

„Klar“, erwiderte das Mädchen. Sie begann, in ihrem Tragsack zu kramen. „Hier, bitte. Aber was gibt es denn hier zu sehen?“

„Das will ich gerade herausfinden“, sagte Herk, klappte das Fernglas auseinander und suchte in Richtung Norden den Himmel damit ab, bis er plötzlich stutzte und am kleinen Einstellrädchen drehte. Zum Wagen gewandt, fügte er hinzu: „Steigt aus und seht selbst.“

Nachdem Lutz und Malu ihrerseits einen Blick durch das optische Instrument geworfen hatten, warfen sie sich einen vielsagenden Blick zu. Dann platzte es aus der Jugendlichen heraus: „Sind die völlig durchgerädert? Das sind doch Ulmenblätter, oder nicht? Und die anderen haben Lindenblätter!“

Herk nickte langsam. „Hast du auch gesehen, was sie da machen?“

„Sie kämpfen“, stieß Lutz hervor. „Mit Pfeil und Bogen, Keulen, Wurfseilen und allem, was das Arsenal hergibt. – Und hast du auch den Rauch gesehen, der vom Boden aus aufsteigt? Dort unten müssen mehrere Gebäude brennen!“


„Natürlich.“ Herks Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Deswegen also sind alle Wege gesperrt, weil dort Unruhen ausgebrochen sind. Und den Leuten erzählt man nichts, damit sie sich keine Gedanken machen und weiter ihren Dingen nachgehen.“

„Leute!“ Malu schrie fast. „Das ist eine Bruderfehde! Wollt ihr tatenlos zusehen, wie sie sich von den Blättern reißen und sich gegenseitig ihr Land in Brand setzen?“

„Malu, bitte!“ Lutz’ tiefe Stimme beendete den Ausbruch des Mädchens. „Sollen wir vielleicht dorthin federn und uns ins Getümmel stürzen? Oder laut schreiend an alle appellieren, sie mögen doch bitte wieder freundlich zueinander sein? Da sind fünfzig, sechzig Reiter in der Luft und man weiß nicht, wie viele Kämpfer am Boden aktiv sind. Es hat seinen Grund, dass alles gesperrt ist.“

„Warum machen diese … diese ‚Ordnungskräfte‘ nicht ausnahmsweise mal was Vernünftiges?“ Die Federin war nicht zu beruhigen. „Stellen sich doof auf die Straße und stoppen Reisende! Dorthin sollten sie gehen und den Irrsinn beenden!“ Tränen schossen ihr in die Augen.

Herk nahm sie in den Arm. „Du hast recht. Du hast vollkommen recht. Aber du weißt auch genauso gut, dass Reiterklans das Vorrecht haben, all ihre Angelegenheiten unter sich zu regeln. Solange kein öffentliches oder anderes klanfremdes Eigentum zu Schaden kommt, können sie machen, was sie wollen.“

„Aber sie halten Züge und Autos auf! Bestimmt wird doch auch die Straße beschädigt!“, schrie Malu in Herks Jacke hinein.

„Malu.“ Nun war es Lutz, der zu sprechen begann. „Diese Straße führt durch unwegsames Gelände zu einem Ort, den Mederland fast aufgegeben hat. Wesenburg gehört für die Arealverwaltung gedanklich schon zur Westlichen Ebene. Und du weißt ja, dass nichts, was dort geschieht, die Verwaltungen auch nur einen feuchten Kehricht kümmert.“

Malus tränenüberströmtes Gesicht wurde wieder sichtbar. Schluchzend kam es aus ihrem Mund: „Das heißt … wir … niemand … kann etwas tun? Warum … machen die das da überhaupt?“

„Schau mal“, sagte Herk, „wir wissen durch unser Klantreffen ja schon seit einiger Zeit von den Unstimmigkeiten zwischen manchen Reiterklans, und die Warnung des Merkantusbaums war ja auch recht eindeutig. Die Ulme ist im Mittelland zwar weit verbreitet, ihr Hauptwuchsgebiet aber ist der Westen. Nimm jetzt mal an, die Ulmenreiter hätten sich dazu entschlossen, den Streit zu einem richtigen Kampf eskalieren zu lassen, und die Lindenreiter würden daraufhin das machen, was sie nur allzu gern tun, nämlich sich als Schirmherren des einzig echten, ehrbaren Reitertums aufführen – was würde dann deiner Meinung nach passieren?“

Malu schaute Herk nun mit aufgerissenen Augen ins Gesicht. „Genau das, was dort gerade geschieht!“

Ein bitteres Lächeln war die Antwort. Lutz ergriff nach einer Weile das Wort und fragte leise: „Und wie soll es jetzt weitergehen? Der Fahrer will sicherlich für das Warten bezahlt werden. Ich fürchte, wir müssen von hier aus irgendwohin federn oder bald zurückfahren.“

„Das werden wir auch“, stimmte Herk grimmig zu. „Aber bestimmt nicht, um die Reise abzublasen. Wenn wir hier wegen der Unruhen nicht weiterkommen, können wir einen anderen Weg wählen.“

„So?“, fragte Lutz überrascht. „Wie willst du denn auf die Ebene gelangen, wenn nicht über die Wesenburger Landenge?“

Herk nahm die beiden anderen Federer ein wenig beiseite. „Wir gehen über den Kerstlinger Pass.“

Lutz runzelte nur die Stirn. Er war ja nicht aus der Gegend und begriff nicht, was Herk da soeben für einen Vorschlag gemacht hatte. Malus Reaktion dagegen fiel vollkommen anders aus. „Bist du total durchgeknallt?? Du willst wirklich …!“, schrie sie mit vor Angst aufgerissenen Augen. Weiter kam sie nicht, denn Herk legte seinen Finger auf ihren Mund und machte ein finsteres Gesicht. „Schschscht!! Wollen wir das vielleicht ein wenig leiser besprechen und am besten auch anderswo?“ Er deutete mit den Augen auf den wartenden Wagen. „Wir fahren jetzt zurück zum Stadtrand, federn ein wenig in die Wildnis und dann reden wir bitte dort weiter, ja?“

Lutz war völlig konsterniert. Er kannte Malu ja nun schon eine Weile, aber solch blanke Furcht hatte er noch nie in ihrem Blick gesehen, selbst dann nicht, als sie von ihrer Zeit im Waisenheim erzählt hatte. Das musste ja ein furchtbarer Ort sein, dieser Pass – aber woher wollte sie das wissen? Zusammen stiegen die drei erneut in den Wagen ein. Herk saß wieder vorn und bat darum, zurück nach Gehlstadt zum nördlichen Stadtrand gefahren zu werden. Der Fahrer rollte mit den Augen und wendete. Er hatte es ja gleich gewusst. Na, nun würde ihm die kleine Unterhaltung dieser seltsamen Leute eine halbe Silbermünze extra in die Kasse spülen. Auf dem Rücksitz drückte sich Malu zitternd an Lutz, der seinen linken Arm um sie legte. Was um alles in der Welt war nur fähig, diesem robusten und erfahrenen Mädchen solche Angst einzujagen?

Nachdem Herk den Fahrer bezahlt und dieser seiner Wege gefahren war, sammelten sich die drei Federer und bedankten sich beim Gras am Straßenrand für die nun folgende Reise. Freudig nahmen die Halme sie auf und transportierten sie ein paar Mittelmaße hinein in den Graswald bis zu einem Feldrain. Dort rollten alle drei mit ihren Tragsäcken aus und setzten sich auf zwei Felsen, die dort wie natürliche Wächter das Feld vom Graswald trennten.

„Dürfte ich jetzt eventuell weiterschreien, Herk?“ Malu hatte augenscheinlich ihren Sarkasmus wiederentdeckt. Lutz fand, dass dies ein gutes Zeichen war, und fügte seinerseits hinzu: „Ich würde auch gern wissen, was an diesem Vorschlag so durchgerädert sein soll. Ihr scheint mehr zu wissen als ich.“

„Malu hat recht“, begann Herk. „Die Route über diesen Pass ist gefährlich. Seit vielen Zyklen hat niemand mehr die Reise dort entlang gewagt, zumindest ist nichts davon bekannt geworden. Auch Reiter überqueren das Trenngebirge zwischen Mederebene und Westlicher Ebene nicht, sie reiten nordwärts und wählen gewöhnlich den Weg über Wesenburg – so sie denn überhaupt einen Grund haben, nach Westen vorzustoßen.“

„Niemand geht dort entlang!“ Malu zitterte wieder. „Hier kennt jedes Kind das Gedicht vom Kerstlinger Grusling und seinen Helfern! Keine zwanzig Lasttiere bekommen mich dorthin!“

„Was für ein Gedicht?“, wollte Lutz nun wissen.

„Soll ich es wirklich vortragen? Ich will Malu nicht noch mehr Angst einjagen, als sie sowieso schon hat“, brummte Herk. Doch da hatte Malu bereits mit zitternder Stimme zu sprechen begonnen:

„Gedenke, gedenke und niemals verschenke

Am Kerstlinger Passe deine Kraft

Denn so du erreichest den Kamm vor der Senke

womöglich du denkest, du hast es geschafft

Mitnichten! Schon greift’s nach dem zitternden Bein

mit Heulen und schrecklich Gejaule

der Grusling des Passes fährt aus dem Gestein

und packt dich mit saugendem Maule

Herunter in die Tiefe wird fahren

des Wanderers müdes Gebein

so sehr er sich mühet das Leben zu wahren

wird’s doch ein gut Ende nicht sein

Denn so er entkommet dem finsteren Grabe

im Felsbett gar einsam allein

so wird er der gierigen Helfer Habe

als Sklave in Ketten und Stein“

Die letzten Worte hatte das Mädchen kaum aussprechen können. Fest schmiegte sie sich an Lutz, der nun endlich wissen wollte, woher Malu dies alles wusste. Er fragte sie danach, woraufhin sie mit erstickter Stimme flüsterte: „Habe ich es dir gar nicht erzählt? Ich stamme aus dieser Gegend. Meine Stiefeltern haben hier früher mit mir gelebt, bis es nicht mehr ging.“

Nun zog Lutz die Augenbrauen hoch und sah Herk an. „Solche grausamen Geschichten gehen hier um? Und dennoch schlägst du vor, es dort entlang zu probieren? Warum?“

„Zum einen“, erwiderte Herk ruhig, „ist dies ein sehr altes Gedicht. Von der Sprache her würde ich sagen, mehrere Dekazyklen. Zu diesen Zeiten wurden viele Schauermärchen und ähnlicher Unfug geschrieben, um beispielsweise Kinder von gefährlichen Abenteuern abzuhalten. Oder Trugkerle wollten sich mit solchen Spukgeschichten vor allzu neugierigen Zeitgenossen schützen, um in Ruhe ihren dunklen Geschäften nachgehen zu können. Dummerweise geht solcher Blödsinn dann manchmal in den Volksmund über und verweilt im Gedächtnis der Menschen, obwohl die zugehörige Begebenheit längst der Vergangenheit angehört. Kurz gesagt, ich glaube nicht an diesen Stuss. Zum anderen schlage ich dies nicht leichtfertig vor. Auch ohne solche Mären zum Bangemachen ist der Weg über das Trenngebirge mit Sicherheit deutlich mühsamer als durch Wesenburg. Leider gibt es ansonsten nur zwei Alternativen: warten, bis der Weg über die Landenge wieder freigegeben wird, oder aufgeben.“

Lutz zog die Stirn in Falten. Nach allem, was er über die Westliche Ebene gehört hatte, war mit Schwierigkeiten zu rechnen gewesen. Dass sich aber nun bereits welche ergaben, ohne dass sie auch nur in die Nähe der Ebene gekommen waren, erleichterte ihr Vorhaben keinesfalls. Hier auf dem Feld bleiben und einen Reiseabend verschenken, das konnten sie sich aber so oder so nicht leisten. „Ich möchte gern, dass Malu entscheidet, wie wir weiter vorgehen“, sagte er daher.

Malu schaute ihn aus verquollenen Augen überrascht an. „Ich?“, stammelte sie. „Warum ich?“

„Weil es das Größte ist, was ein Mensch tun kann, wenn er sich aus welchen Gründen auch immer seinem inneren Schatten, seinen Ängsten, stellt, um ein Werk der Liebe zu vollbringen. Herk und mich scheint dieses Gedicht nicht so zu beeindrucken wie dich – er glaubt nicht daran und für mich hat es auch keine tiefe Bedeutung, das Ganze erscheint mir eher wie eine dumme Spukgeschichte. Der Punkt ist aber: Es ist unwichtig, ob etwas davon wahr ist oder nicht. Es geht darum, inwieweit man bereit ist, seiner inneren Furcht ins Angesicht zu sehen und sie zu überwinden, egal ob andere sie nachvollziehen können oder nicht.“

Darüber musste Malu erst einmal nachdenken. Schweigen senkte sich über den Feldrand, nur das leise Rascheln der Gräser im Wind war zu hören. Nach ein paar Mittelzeiten sprang die Federin plötzlich unvermittelt auf, stellte sich mit in die Hüften gestemmten Armen und schief gelegtem Kopf vor Lutz hin und sagte in herausforderndem Ton: „Sag mal, wie zum Worger machst du es eigentlich, immer im richtigen Moment solche neunmalschlauen Reden zu schwingen? Mann, wenn ich dieser Grusling da auf dem Pass wäre, dir möchte ich da oben nicht begegnen!“ Dann fiel sie dem überraschten Mann um den Hals, der daraufhin Herk in dessen ebenso verdattertes Gesicht blickte.

Eine Zeit lang war es nun wieder still, bis schließlich Herk leise sagte: „Ich glaube, wir haben hier einen wirklich sehr, sehr mutigen Menschen bei uns.“

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