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Die Armenanstalt auf Neuhof

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Die Armenanstalt auf Neuhof


An dem 1770 geborenen Söhnchen Hans Jakob („Jacqueli“) konnte Pestalozzi die ersten eigenen Erziehungsstudien machen. Die wertvollen Tagebuchaufzeichnungen über seine Beobachtungen und Versuche an dem vierjährigen Knaben (1774) lassen den Einfluss Rousseaus auch auf seine Erziehungsgrundsätze deutlich erkennen. Sachbildung geht vor Wortbildung; das Sehen, Hören und Tun muss weit vorhergehen dem Urteilen und Schließen. Stetiger, lückenloser Fortschritt der Bildung; „Ordnung, Genauheit, Vollendung, Vollkommenheit“ in allem; selber finden, was irgend selber zu finden ist; an der Hand der „Natur“ lernen, der der Lehrer nur „leise und still mit der folgenden Kunst fast nebenher schleicht“: Das gibt Mut und Freude, ohne die alles Lernen keinen Heller wert ist. Gehorsam muss sein (gegen Rousseau!), aber er muss in freiem Zutrauen, in der Erfahrung der Liebe und überlegenen Einsicht des Erziehers gegründet sein.


Zu einer bedeutenden Erweiterung und Vertiefung seiner pädagogischen Erfahrung führte ihn indirekt das baldige Scheitern seiner landwirtschaftlichen Unternehmung. Sein Plan war an sich zwar nicht unverständig. Aber schon beim Landkauf wurde er durch einen gewissen Merki, der sich durch einige wirkliche Dienste, die er ihm dabei leistete, in sein Vertrauen geschlichen hatte, hinterher betrogen. Überhaupt war Pestalozzi nie ein genauer Rechner. Misswuchs und sonstige unvorhergesehene Schwierigkeiten kamen hinzu; so begreift es sich, dass das Bankhaus, das den größten Teil der Kosten vorgeschossen hatte und nun den erhofften Nutzen nicht absah, seine Gelder endlich zurückzog. Pestalozzi allein aber konnte unter der drückenden Schuldenlast das ohnehin schwierige Unternehmen auf die Länge unmöglich weiterführen. Dieser Misserfolg musste ihn doppelt niederschlagen, weil er so auch jede Hoffnung schwinden sah, zur Linderung des Volkselends, das er jetzt täglich in nächster Umgebung vor Augen sah und das ihm näher ging als die eigne Not, auch nur irgendetwas beitragen zu können. In solcher Bedrängnis kam ihm der Gedanke, es könne ihm zugleich und dem armen Volke um ihn her geholfen werden, wenn er sein Gut in eine Anstalt zur Auferziehung von Armenkindern umwandelte.


(Band 65e dieser gelben Buchreihe berichtet über Johann Hinrich Wichern und das von ihm 1833 in Horn bei Hamburg gegründete Rauhe Haus. Wichern war von Pestalozzis Ideen beeinflusst. Er hatte bleibenden Erfolg, weil der junge Handwerker als Gehilfen anwerben konnte, die den Kindern in den „Familien“ als „Brüder“ zur Seite standen. Diese Gehilfen erhielten durch Wichern eine theoretische Ausbildung und eine berufliche Perspektive als „Hausväter“ in anderen Kinderheimen („Rettungsanstalten“), als Lehrer oder als Kolonistenprediger in Übersee.) Die Kinder sollten unter seiner Anleitung vor allem arbeiten lernen; durch die gemeinsame Arbeit des Hauses – Baumwollspinnerei und -weberei, kombiniert mit einfacher Feldarbeit, besonders Gemüsebau – würde die Anstalt, einmal in Gang gebracht, sich bald selber erhalten können, während ihre Zöglinge zugleich die Segnungen eines schlichten, aber liebewarmen Hauslebens genössen und so zu eben der Lebensführung gebildet würden, auf die ihre Lage sie hinwies. Der Plan war nicht bloß in der Absicht vortrefflich, sondern an sich auch sehr wohl ausführbar. Pestalozzi fand in seiner Nähe vielfache Aufmunterung und anfangs auch tätige Hilfe. So konnte die Anstalt im Jahre 1774 ins Leben treten. Indessen wuchs ihm die Sache nur zu bald über den Kopf. Es hätte mehr als menschliche Kräfte gefordert, neben seinem Hauptzweck der Erziehung Feldbau, Fabrikation, Handel und ein ganzes großes Hauswesen mit bis zu 50 Bettlerkindern zu bewältigen. Er hätte allerwenigstens für die äußere Verwaltung und Rechnungsführung geeignete Hilfskräfte zur Seite haben müssen. Ganz besonders nachteilig erwies sich, dass es ohne obrigkeitlichen Schutz, den er vergebens nachsuchte, nicht möglich war, die Kinder zum Bleiben in der Anstalt zu bewegen; die meisten gingen, nachdem sie sich eine Zeitlang in ihr hatten verköstigen und verpflegen lassen, ohne Dank davon. So konnte die Absicht, dass die Anstalt sich durch die Arbeit der Zöglinge selbst erhalte, natürlich nicht erreicht werden. Aus allen diesen Gründen war das Scheitern des Versuchs unvermeidlich. Mit der äußersten Anstrengung vermochte er ihn eine Reihe von Jahren hindurch fortzuführen; endlich aber, im Jahre 1780, musste er blutenden Herzens die Anstalt auflösen und stand nun da als ein gänzlich Gescheiterter.

In mehreren kleinen Aufsätzen, die der warm für ihn interessierte Iselin in Basel in seiner Zeitschrift „Ephemeriden der Menschheit“ 1777 und 1778 zum Abdruck brachte, hat Pestalozzi seinen Plan ausführlich dargelegt und über die Ausführung berichtet. Als Kerngedanke tritt deutlich hervor: Der Arme muss für seine Lage erzogen werden. Seine Auferziehungsstube muss seiner künftigen Wohnstube so viel als möglich gleich sein, während die meisten öffentlichen Stiftungen hiervon gerade das Gegenteil zeigen. Die entscheidenden Fragen sind: 1. Kann die Arbeit der Armenkinder zu so hohem Ertrag gebracht werden, dass dadurch eine solche Anstalt sich selber zu erhalten imstande ist? und 2. Ist es ratsam, die Auferziehung des Armen dem Geiste der Industrie zu unterwerfen? Was wird die Verbindung von Gewerbsamkeit mit Erziehungsanstalten für einen Einfluss auf den späteren häuslichen Zustand der so erzogenen Armen, auf ihre Sittlichkeit, auf ihre körperliche Stärke und auf den Feldbau haben? Beide Fragen glaubt Pestalozzi schon auf Grund seiner unvollkommenen Versuche im günstigen Sinne beantworten zu können. Besonders erkennt er die Erziehung zur Industriearbeit als unumgänglich notwendig. Die Entwicklung zur Industrie ist einmal da und nicht mehr rückgängig zu machen. Der Arme trägt schon jetzt allen Schaden des Fabrikwesens, es gilt ihm jetzt auch den größten möglichen Gewinn davon zu verschaffen, nicht indem man ihn in die nächste beste Fabrik schickt, wo sie „in einer ungesunden Luft zu Maschinen gebraucht werden, wo sie von Pflicht und Sitten nichts hören, wo ihr Kopf, ihr Herz und ihr Körper gleich erdrückt oder wenigstens unentwickelt und ungebaut bleibt“, sondern indem man „den in der Fabrikindustrie liegenden größeren Abtrag der Verdienstfähigkeit des Menschen als Mittel zur Erzielung wahrer wirklicher Erziehungsanstalten, die den ganzen Bedürfnissen der Menschheit genügen“, benützt. Denn an sich ist der Mensch „unter allen Umständen und bei allen Arbeiten der Leitung zum Guten gleich fähig... Mit dem Herzen allein wird das Herz geleitet... Spinnen oder Grasen, Weben oder Pflügen, das wird an sich weder sittlich noch unsittlich machen...“ Die wesentliche Voraussetzung ist nur, dass der Gewinn nicht der einzige Endzweck der Industrie, sondern nur das Mittel zu dem wahren Endzweck der Erziehung ist.


Robert Owen – 1771 – 1858

– Es ist fast derselbe Gedankengang, durch den ein Menschenalter später der hochsinnige Sozialist Robert Owen zu einem auf solideren wirtschaftlichen Grundlagen unternommenen Versuch in ähnlicher Richtung geführt wurde. Im Unterricht der Pestalozzischen Anstalt stand ihrer ganzen Absicht gemäß die Handarbeit weit voran; Lesen, Schreiben, Rechnen wurde auch getrieben, doch glaubte er die Unterweisung darin wenigstens bis zum neunten Jahre hinausschieben zu dürfen. Die Art der sittlichen Unterweisung war „meistens nicht Unterricht des Lehrers“, sondern „teilnehmender Unterricht des Hausvaters, Ergreifung der immer vorfallenden Gelegenheiten, an denen er mit ihnen, sie mit ihm Anteil nahmen“. Rührend ist es, in den Berichten zu lesen, wie Pestalozzi auf die Individualität jedes einzelnen seiner Pflegebefohlenen eingeht, wie er an die verkommensten, elendesten, unbegabtesten bis zu den blödsinnigen herab unermüdliche Sorgfalt wendet und überglücklich ist, wenn er nur eine Spur von Fortschritt bemerkt. „Ich lebte“, sagt er später über diese Zeit, „jahrelang im Kreise von mehr als fünfzig Bettlerkindern, teilte in Armut mit ihnen mein Brot, lebte selbst wie ein Bettler, um zu lernen, Bettler wie Menschen leben zu machen“.

Das Scheitern des hochsinnig geplanten Unternehmens musste ihn noch ungleich schwerer treffen als sein erster, bloß persönlicher Misserfolg. Zwar sein Glaube an das, was er gewollt, hat keinen Augenblick gewankt. Aber bei der Welt fand er keinen Glauben mehr. „Andern will er helfen und kann sich selber nicht helfen“: Diesen ewigen Spott der Weltklugheit über die selbstvergessene Liebe bekam er wie oft zu hören. Auch seine besten Freunde glaubten, ihm sei einmal nicht zu helfen; sie hielten für ausgemacht, er werde seine Tage im Spital oder gar im Narrenhause beschließen müssen. Der einzige Iselin hielt treu zu ihm und überzeugte ihn, dass „in wichtigen Dingen mutvolle Efforts, auch wenn sie für einmal nicht zum Ziele führen, dennoch entferntere gute Folgen ihrer Natur nach haben müssen“. Auch find die „entfernteren guten Folgen“ nicht ausgeblieben; es sind namentlich die sogenannten Wehrlischulen in der Schweiz indirekt aus Pestalozzis Anregung hervorgegangen, welche eben das zu verwirklichen suchen, was er mit seiner Anstalt gewollt hatte.

Seinen Landsitz vermochte er nur dadurch sich zu erhalten, dass er den größeren Teil des Gutes an Verwandte verkaufte, um von dem Erlös seine Gläubiger wenigstens teilweise zu befriedigen. Den ihm verbliebenen Rest gab er in Pacht, bis sein Sohn die Bewirtschaftung übernehmen konnte. Sein zerrüttetes Hauswesen wieder in Ordnung zu bringen, war ein ausgezeichnetes Mädchen, Elisabeth Näf („die Lisabeth“) ihm behilflich, das um diese Zeit aus freien Stücken als einfache Magd in sein Haus kam und allmählich ganz mit der Pestalozzischen Familie verwuchs. Sie ist das Urbild der „Gertrud“ des Pestalozzischen Romans. Später nahm sich ein anderer Baseler Freund, Felix Battier, seiner wirtschaftlichen Lage sachkundig an. Seitdem war wenigstens die eigentliche Not überwunden, und so konnte Pestalozzi sich während der 18 Jahre seiner unfreiwilligen Muße (1780–1798) schriftstellerischen Arbeiten ungestört widmen.

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Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen

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