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Das Wirken in Stanz

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Das Wirken in Stanz

Inzwischen trat ein Ereignis ein, das, obgleich erschütternd für sein patriotisches Gemüt, doch dadurch für ihn hochbedeutsam wurde, dass es seinem heißen Verlangen nach einem unmittelbar praktischen Wirken als Volkserzieher endlich die Erfüllung brachte. Nach der Niederwerfung des gegen die neue Verfassung aufsässigen Stanz im September 1798 gab es dort über 400 Kinder, deren Eltern im Krieg umgekommen oder ganz verarmt waren. Pestalozzi bat nun, ihn dorthin, wo Hilfe so not tat, zu entsenden, um sich dieser verlassenen Kinder anzunehmen. Die Bitte wurde gewährt; noch im Dezember 1798 begab sich Pestalozzi nach Stanz, wo er nach notdürftiger Herrichtung der erforderlichen Baulichkeiten beim dortigen Frauenkloster 1799 seine Arbeit mit Feuereifer begann.


Man war erstaunt, wie viel er in kurzer Frist mit den gänzlich verwahrlosten Kindern erreichte. Der sichtliche Erfolg hob seinen Mut. Zwar erschien sein Tun noch gänzlich planlos; der Plan sollte ihm aus seinen Erfahrungen erst erwachsen, und da sollte ihm niemand dreinreden. Irgendeine Hilfe hätte er vorerst gar nicht annehmen können, da er noch nicht so weit war, von dem, was zu tun sei, sich selbst, geschweige anderen bestimmte Rechenschaft geben zu können. Auch diesmal war ihm leider nicht vergönnt, seinen Versuch ruhig zu Ende zu führen. Die Kriegswirren störten herein, die Räumlichkeiten der Anstalt wurden für ein Lazarett in Anspruch genommen; gleichzeitig war Pestalozzi von der ungeheuren Anstrengung bis zum Blutspeien erschöpft und musste auf dem Gurnigel Erholung suchen. Als dann der Waffenlärm sich wieder verzogen hatte und er die nur aus Not auf Zeit verlassene Arbeit wieder aufnehmen wollte, hieß es, er sei als Protestant in dem ganz katholischen Ländchen für einen solchen Posten nicht geeignet, und dergleichen mehr; kurz er wurde, trotz warmer Fürsprache Stapfers, nicht wieder nach Stanz zurückgelassen. Mit Mühe erwirkte ihm der Minister stattdessen die Erlaubnis, an den geringsten Winkelschulen des Städtchens Burgdorf seine Versuche einstweilen fortsetzen zu dürfen.

Das kurze Wirken in Stanz, über das er in einem damals verfassten, später (1807) durch Niederer veröffentlichten Aufsatz („Pestalozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz“) höchst lebendigen Bericht gibt, wurde für das Innere seiner Absichten hochbedeutsam. Denn hier entstand ihm zuerst die Idee, die sein ganzes ferneres Wirken bestimmt und die er fortan stets als die Grundidee seiner gesamten Erziehungsforschung und Erziehungsarbeit betont: die „Idee der Elementarbildung“. Zwar ist es nicht (wie Niederer meinte und dann diesem oft nachgesprochen worden ist) etwas absolut Neues, was er von jetzt ab erstrebt. Namentlich ist seine frühere Absicht, die kindliche Unterweisung streng an die Bildung zur wirtschaftlichen Arbeit anzuknüpfen und der Wohnstubenerziehung genau nachzubilden, keineswegs aufgegeben. Aber es wird ungleich bestimmter als bisher erkannt und durchgeführt, dass die Bildung des Kopfes wie des Herzens und der Hand von den ersten, einfachsten „Elementen“ ausgehen und von da in „lückenlosem Fortschritt“ zu allen höheren Stufen erst emporsteigen muss; und die Forschung nach diesen Elementen und diesem geregelten Fortschritt ist es, die von diesem Zeitpunkt an beherrschend in die Mitte seiner praktisch-pädagogischen Versuche wie seiner theoretischen Erwägungen tritt. Eben da seine Erzieherarbeit sich an die Kleinsten der Kleinen, an die Geringsten der Geringen wandte, so war es notwendig, bis zu den denkbar schlichtesten Anfängen zurückzugehen; in diesen elementaren Anfängen aber – das erkennt er jetzt – liegt gerade die höchste Kraft; denn sie enthalten als Keime die ganze fernere Entwicklung in sich. Diese Anfänge sind in Wahrheit Ursprünge, und darum nicht bloß für den Beginn der Erziehung, sondern für ihren ganzen Verlauf vor allem anderen wichtig.

Mit dem Begriff der „Elementarbildung“ aber entsteht ihm zugleich sein neuer Begriff der „Anschauung“, der in den früheren Schriften nur hier und da von fern anklingt, von jetzt ab aber als unterscheidender Grundbegriff der Pestalozzischen Erziehungslehre bestimmt und sicher hervortritt. Ganz falsch nimmt man Pestalozzis „Anschauung“ für ein und dasselbe mit der sinnlichen Wahrnehmung. Dass von der Erfahrung, das heißt, von den Wahrnehmungen der Sinne, alle menschliche Erkenntnis, also alle menschliche Bildung anfangen müsse, diese Einsicht war nichts weniger als neu; das hatten von Aristoteles an nicht bloß die Mehrzahl der Philosophen, sondern auch alle denkenden Pädagogen angenommen; Comenius hatte es nachdrücklich betont, und seit Rousseau und den Philanthropinisten war es sozusagen die allgemeine Losung des Zeitalters geworden.


Johann Amos Comenius – 1592 – 1670

Aber für Pestalozzi bedeutet die „Anschauung“ von Anfang an mehr; sie bedeutet die Betätigung, das Zurtatwerden der Idee; diese geht nicht bloß im Lehrenden voran, als solle er sie nun in den Lernenden von außen hineinbringen, sondern sie liegt der Anlage nach ursprünglich im Lernenden selbst zugrunde, und die sinnliche „Anschauung“ ist bloß ihre Betätigung im Konkreten, an der nur darum die Idee ihm bewusst werden kann, weil sie von Anfang an als gestaltende Kraft in ihr wirkt und lebt. Diese Auffassung der „Anschauung“, die im Briefe über Stanz zum ersten Mal klar zutage tritt, versteht sich allein aus dem Zusammenhange einer idealistischen Ansicht von der Erkenntnis etwa im Sinne Kants, dessen Gedanken Pestalozzi, ohne je dem Buchstaben nach Kantianer zu sein, doch der allgemeinen Richtung nach in sich aufgenommen und als mit der uranfänglichen Tendenz seines eigenen Bestrebens einig erkannt hatte. War es doch nur die klare Konsequenz der seit der „Abendstunde“ von ihm bekannten Überzeugung, dass im „Innern der Natur“ des Menschen – jedes Menschen – von Anfang an der Keim der ganzen menschlichen Entwicklung liege, dass er hinsichtlich dieser wesentlich „Werk seiner selbst“, nicht einer ihm äußeren „Natur“ oder gar der Gesellschaft sei; dass zwar ihn die Umstände „machen“ helfen, aber nur indem zuerst er die Umstände so gemacht hat, wie sie zu seiner Bildung (die immer wesentlich Selbstbildung bleibt) ihm dienlich sind. Dieser autonomistische und damit idealistische Grundzug der Pestalozzischen Pädagogik darf nicht verwischt werden.

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Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen

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