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Das Wirken in Burgdorf – „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“

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Das Wirken in Burgdorf – „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“

Pestalozzi brannte auf die vollständigere Durchführung der in Stanz nur erst begonnenen Erfahrungen. Er ging in Burgdorf sofort mit ungestümem Eifer wieder ans Werk und in immer erneuten, anfangs zwar noch unsicher tastenden Versuchen gestaltete sich seine „ Methode“ allmählich fester und fester. Schon bestimmter formuliert er jetzt jene beiden Grundforderungen: das Ausgehen von den „Elementen“ und das lückenlose, stetige Fortschreiten von diesen zu allen höheren Stufen des Unterrichts; das Prinzip des „physischen Mechanismus“, wie er in einem freilich missverständlichen und tatsächlich vielfach missverstandenen Ausdruck es nennt. Solche bestimmte „Reihenfolgen“ für die einzelnen Hauptfächer des Unterrichts festzustellen, das war jetzt das Nächste, worauf seine Forschung sich richtete, und was nach manchen vergeblichen Versuchen immer sicherer gelang. Seit dem Frühjahr 1800 half ihm dabei mit ausgezeichnetem Verständnis der treffliche Krüsi, dann Tobler und Buß, und im Oktober desselben Jahres durfte er mit diesen Gehilfen auf dem Burgdorfer Schloss, das ihm von der Regierung für seinen Zweck zur Verfügung gestellt wurde, eine eigene Anstalt eröffnen.


Sein Tun erregte sofort Aufmerksamkeit nicht bloß in der Schweiz, sondern weit darüber hinaus, namentlich in Deutschland; Zöglinge kamen in Fülle, Besucher drängten sich heran, die Augenzeugen seiner Versuche sein wollten und oft begeisterte Berichte über ihre Beobachtungen in die Öffentlichkeit brachten.

Die wichtige Denkschrift „Die Methode“, datiert 27. Juni 1800, gibt zuerst von den neuen Grundsätzen seines Verfahrens Rechenschaft. Was aber hier nur erst in knappem Entwurf vorliegt, wurde dann ausführlich entwickelt in der in den ersten Monaten des neuen Jahrhunderts niedergeschriebenen, im Oktober 1801 erschienenen größeren Schrift „ Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“. Sie galt und gilt allgemein und mit Grund als Hauptdokument für das, was Pestalozzi seine „Methode“ nennt. Sie stützt sich ganz auf seine Erfahrungen und Versuche, aber sucht sich über diese doch in einigem Maße auch theoretisch klar zu werden. Das wurde ihm, dem das Theoretisieren stets ein ungewohntes Geschäft war und blieb, freilich etwas schwer, und es ist zumal bei der Eigenheit seiner Darstellung, die sehr oft den gebrauchten Kunstwörtern einen vom üblichen abweichenden Sinn beilegt, leicht begreiflich, dass über die Bedeutung seiner Prinzipien vielfach hat gestritten werden können. Doch darf jetzt so viel als ausgemacht gelten, dass seine Grundüberzeugung hinsichtlich des Entwicklungsganges der Erkenntnis die idealistische und daher wesentlich einig ist mit der Kants, die ihm auf mancherlei Wegen bekannt werden konnte und nachweislich bekannt geworden ist, die er aber schließlich weder aus Büchern noch aus persönlichen Anregungen philosophisch geschulter Freunde geschöpft, sondern, nachdem er sie sich in der Hauptsache selbständig errungen hatte, erst hinterher durch einige von Kant herrührende, übrigens nicht in buchstäblicher Fassung von ihm übernommene Formulierungen sich deutlicher zu machen versucht. Die „Form“ des Unterrichts, die er sucht, hat ihren Grund in der allgemeinen „Form“ der Erkenntnis; diese entwickelt sich zwar in und an der „Anschauung“, aber erwächst nicht aus dem Sinnlichen dieser Anschauung, sondern liegt von Anfang an in der „allgemeinen Einrichtung“ oder „Grundlage“ unseres Geistes, „vermöge welcher unser Verstand die Eindrücke, welche die Sinnlichkeit von der Natur empfängt, in seiner Vorstellung zur Einheit, das ist zu einem Begriff auffasst“ (eine ziemlich genaue Wiedergabe des Kantschen Grundprinzips der „synthetischen Einheit“), und erst dann, durch nachfolgende Analyse, sich auch „deutlich macht“. Auf diese Weise ist jede Linie, jedes Maß, jede Zahl, jedes Wort „Resultat des Verstandes“ aus „gereiften Anschauungen“, und somit die Grundsätze des Unterrichts von der „unwandelbaren Urform der menschlichen Geistesentwicklung“ zu abstrahieren. So wird der Unterrichtsgang „reiner Verstandesgang“; durch ihn wird die „Anschauung selber dem Schwanken ihrer bloßen Sinnlichkeit entrissen und zum Werk“ (zur eigenen Schöpfung) ... „des Verstandes gemacht“; eine geradezu schroff idealistische Beschreibung des Ganges der Erkenntnisgewinnung, die mit irgendeiner sensualistischen Ansicht nicht sollte verwechselt werden können. [Genaueres darüber in meiner Biographie, Kap. 5, in den Gesammelten Abhandlungen, VI, und im nächsten Kapitel.]

Großes Gewicht legt Pestalozzi sodann auf die Festlegung der „Elementarpunkte“ der menschlichen (Verstandes-)Bildung; als solche gelten ihm genau die drei: die Zahl, die Form (i. e. S.: die Raumform) und das Wort der Sprache. Irrtümlich hat man diese drei als gleichwertig nebeneinanderstehend aufgefasst und sich dann über die Zusammenstellung so ungleichartiger Dinge nicht ohne Grund gewundert. Aber die ursprüngliche Gestaltung des Gegenstandes in der Erkenntnis soll offenbar die durch Zahl und Form allein sein; erst eine wiederholende Nachschöpfung (und dann auch Weiterfühlung) dieser ersten Schöpfung, von dieser durchaus abhängig, ist die Leistung der Sprache, wobei in erster Linie an die Begriffsfassung, ja geradezu an die kategoriale Bestimmung des Gegenstandes gedacht ist. In der näheren Ausführung freilich legt Pestalozzi – zum Teil in auffallendem Maße sich selbst missverstehend – auf das Lautliche bei der Sprache und dann auf die Nomenklatur ein übertriebenes Gewicht, überhaupt steht die Bearbeitung der Sprachlehre in dieser Hauptschrift und auch in den weiteren, mit Ausdauer durch sein ganzes ferneres Leben fortgesetzten Versuchen entschieden zurück gegen die des mathematischen Unterrichts, die fast überall in die Tiefe der Sache führt und auch in der Einzelausführung sich fast in jedem Punkte probehaltig erweist. In Pestalozzis „Abc der Anschauung“ liegt der tiefe und wahre Gedanke, dass alle „möglichen“ Form- und Zahlverhältnisse sich aus wenigen einfachsten Grundelementen in zwingender Folgerichtigkeit aufbauen müssen, und zwar in engster Wechselbeziehung die Grundverhältnisse der Form zugleich mit denen der Zahl und umgekehrt; so zwar, dass die Zahl die Denkfunktion selbst in ihrer Reinheit, die Form deren zugleich anschaulich konkrete Darstellung vertritt, welches beides, ganz wie Kant es verstanden hatte, nur in enger wechselseitiger Beziehung zueinander zu seiner gesetzlichen Gestaltung und Entfaltung gebracht werden könne. So ist die Idee der Elementarbildung, wenigstens was die Ausbildung des Verstandes betrifft, bis zu einem gewissen Punkte richtig durchgeführt. Die entsprechende Durchführung in Hinsicht der technischen und namentlich der sittlichen Bildung wird als Forderung aufgestellt, und wenigstens die letztere in den Grundlinien auch angedeutet. In der Praxis der Pestalozzischen Anstalt freilich trat gegen die Pflege der Mathematik und des mathematischen Zeichnens, die schon früh eine hohe Vollendung erreichte, einstweilen fast alles andere in den Hintergrund, so dass sogar der falsche Schein aufkommen konnte, als werde das, was doch stets für Pestalozzi die große Hauptsache gewesen war, die sittliche Bildung und zwar auf der Grundlage der Arbeitsbildung, jetzt von ihm vernachlässigt und hintangesetzt. Doch müsste man nicht nur den ganzen früheren und späteren Pestalozzi, sondern auch die letzten Abschnitte der Hauptschrift selbst völlig übersehen oder nicht verstanden haben, um diesen Vorwurf irgend als begründet gelten lassen zu können.

Ganz den Grundsätzen der Hauptschrift entsprechen die in dieser bereits angekündigten, 1803 und 1804 erschienenen „Elementarbücher“: das „Buch der Mütter“ und die beiden „Anschauungslehren“ der Maß- und Zahlverhältnisse. An ihrer Ausarbeitung waren die Mitarbeiter Pestalozzis stark beteiligt, doch rühren die Einleitungen von Pestalozzi selbst her und ist auch das übrige wenigstens seinen damaligen Überzeugungen sicher entsprechend. Nicht von ihm, sondern von Krüsi stammt der auffällig verfehlte, gleichwohl von ihm selbst aufgenommene Gedanke, die früheste Bildung der kindlichen Begriffe an das Studium des eigenen Körpers des Kindes zu knüpfen. Übrigens ist der Gehalt des „Buches der Mütter“ in diesem Fehlgedanken keineswegs erschöpft; namentlich sollten die (von Pestalozzi selbst herrührenden) vortrefflichen Ausführungen über die frühe Bildung der Sinne nicht übersehen werden.

Seit dem Erscheinen des bei allen sachlichen und formalen Mängeln hochbedeutenden, auch durch die Wärme und Persönlichkeit der Darstellung fesselnden Buches („Wie Gertrud usw.“, von den Zeitgenossen kurz „Gertrud“ zitiert) wuchs der Ruf der Pestalozzischen Anstalt zusehends. Auf die allgemeine Würdigung Pestalozzis übten wohl den stärksten Einfluss der Bericht des Dekans Ith von Bern (1802, Neudruck 1902) und Anton Gruners „Briefe aus Burgdorf“ (1804). Beide Männer, bis dahin eifrige Anhänger der herrschenden rationalistischen Pädagogik, waren höchst misstrauisch nach Burgdorf gekommen, beide gingen als überzeugte Anhänger Pestalozzis und eifrige Fürsprecher seiner Sache.


Gottlieb Anton Gruner – 1778 – 1844

https://de.wikipedia.org/wiki/Gottlieb_Anton_Gruner

Gruner besonders hat die Formeln geprägt, in denen man den Unterschied der Lehrart Pestalozzis von der gemeinhin herrschenden auszudrücken liebte: Er strebe intensive Bildung an, nicht bloß extensive, formale statt materialer; er gehe aus auf die Entwicklung der Denk- und Erkenntnis kraft und lege nicht den Schwerpunkt in das zu erkennende Objekt. Auch darüber sind alle Urteilsfähigen in jener Zeit einig, dass unter Pestalozzis „Anschauung“ etwas wie Kants „reine“ Anschauung und nicht empirische Wahrnehmung zu verstehen sei. Pestalozzi selbst hat dies wohl am deutlichsten zum Ausdruck gebracht in der im Dezember 1802 für einige Pariser Freunde aufgesetzten Denkschrift „Wesen und Zweck der Methode“.

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Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen

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