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II

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Sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Er ist gegangen, sie war allein. Doch kein Gefühl der Einsamkeit oder des Bedauerns überkam sie, dass er sie so früh verlassen hatte. Gestern erst hatten sie sich in einer Szenebar kennen gelernt. Er sah gut aus, der Körper wirkte durchtrainiert, das Lächeln unwiderstehlich. Außerdem war er charmant. Er hörte sich wie einer dieser Schauspieler aus den Filmen an, die sie liebte. Jeder Satz hatte gepasst. Warum also sollte sie nicht mit ihm gehen? Zwar kannte sie ihn erst ein paar Stunden, doch die Versuchung war einfach zu groß gewesen. Sie ging in die Küche, um nach einem Saft zu suchen. Die Wohnung war chic, mit allen Annehmlichkeiten, die man sich vorstellen konnte. Dort drüben neben der Tür: die im Marmorboden eingelassene, symmetrische Vertiefung, gefüllt mit schwarzen Kieselsteinen, zwischen denen drei Bambusstämme bis in die Decke wuchsen. Eben die Dusche, die neben der Brause auch noch Wasserstrahlen aus allen vier Wänden auf sie abgefeuert hatte. Das Wohnzimmer mit der Glasfront, durch die die frühe Morgensonne fiel - und durch die man einen wunderbaren Ausblick auf die Londoner Straßen und Viertel hatte. Und hier die schwarze Ledercouch, auf der sie nun nackt mit im Schneidersitz zusammengefalteten Beinen saß und ihren Orangensaft trank. Das Sushi im Kühlschrank hatte sie unberührt gelassen, sie mochte dieses exotische Zeug nicht. Ihr Blick fiel auf die Wand voller CDs und Schallplatten. Für die Wohnung eines Mannes kam ihr alles ungewöhnlich aufgeräumt und sauber vor. Keines seiner dunklen Haare, das auf dem weißen Boden aufgefallen wäre – und selbst die Klobrille war heruntergeklappt gewesen! Sie konnte das Gefühl, das sie damit verknüpfte, nicht gleich mit Worten beschreiben, also schob sie den Gedanken vorerst beiseite.

Marie stellte das Glas ab. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Als sie am Fußende des Bettes stand, wurde ihr plötzlich klar, welchen Begriff sie eben gesucht hatte: steril, das war das Wort, das die Atmosphäre in Tristans Wohnzimmer eben so treffend beschrieben hätte. Die Wohnung war nicht gemütlich, sondern eher zu sauber und ordentlich - zumindest für ihre Begriffe. Sie mochte sich kaum vorstellen, wie ein Mensch hier leben konnte. Obwohl alles auf den ersten Blick modern und stilvoll aussah, erschrak sie über die Kälte, die sie spürte. Wer putzte hier eigentlich? – Ach, nein, beruhigte sie sich: Er ist ein Mann. Männer sind nur auf das Notwendigste und Praktische bedacht und legen keinen Wert auf Accessoires wie Kerzen, Pflanzen oder so was. Wahrscheinlich hat er eine hyperaktive mexikanische Putzfrau. Ihre Freunde hatten ein solches Glück – Miranda, eine kleine, kompakte Mittvierzigerin aus Puerto Ángel faltete selbst die Bettdecke über den Kindern neu, wenn die eingeschlafen waren.

Dann kamen ihre Gedanken zu diesem Mann zurück, den sie noch kaum kannte und mit dem alles so schnell gegangen war. Tristan wirkte einfühlsam und charmant, sie hätte nicht gedacht, dass sie noch einmal einem solchen Mann begegnen würde. Die Nacht war umwerfend gewesen, nie zuvor hatte sie solche Wellen der Ekstase erlebt – bis gestern. Er schien immer zu wissen, was sie gerade dachte und wollte. Ohne es auszusprechen, ging er direkt auf sie ein. Als bestehe eine durchsichtige Verbindung zwischen ihnen, dieses Gefühl war ihr vollkommen neu. Aber eigentlich war sie auch noch gar nicht so oft mit einem Fremden nach Haus gegangen, zu ihm. Nachdem sie sich fertig angezogen hatte, nahm sie ihre Handtasche vom Sofa und ging in Richtung Wohnungstür. Sie öffnete und warf noch einen letzten Blick zurück in das Wohnzimmer. Mit einem zufriedenen Lächeln schloss sie die Tür hinter sich.

Das warme Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, verschwand sofort, als sie auf die Straße trat. Ein Blick auf die Uhr genügte, um ihre innere Ruhe in Nervosität umschlagen zu lassen. Es war Viertel vor neun. Sie hielt nach einem Taxi Ausschau, aber natürlich war keins in Sicht. Als hätten sich auf einmal alle gegen sie verschworen. Sie musste um neun Uhr bei der Arbeit sein, darum hastete sie jetzt die Straße hinunter und bog in eine weniger befahrene Seitengasse ein. Nach 8-minütigem Fußweg fand sie schließlich ein freies Taxi und lies sich zur Brompton Road fahren. Als sie völlig abgehetzt im Kaufhaus ankam und in die Parfüm-Abteilung trat, wurde sie mit einem Zwinkern von ihrer Kollegin Angelina begrüßt.

„Ich hab schon gesagt, du hättest einen Arzttermin und würdest später kommen. Bist also bei Mr. Howard entschuldigt und kannst dir ein nerviges Gespräch sparen.“

„Du bist einfach ein Schatz, Angie. Du hast was gut bei mir. – Gehn wir heut Mittag essen?“

„Aber sicher – wenn du zahlst.“

Sie lachten.

„Dann um eins. Bis später.“

Marie ging weiter. Gleich darauf machte sie sich daran, neue Waren in die Regale einzuräumen und die übrigen aufzufüllen. Die Zeit bis zum Mittagessen verging wie im Flug, weil sie immer wieder an den Abend mit Tristan dachte, und an all die Zärtlichkeiten, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte. Die unangenehmen Gedanken zu seiner Wohnung hatte sie bereits vergessen und genoss jetzt einfach nur die schönen Erinnerungen an die letzte Nacht. Natürlich war sie sich darüber im Klaren, dass es lediglich eine einzige Nacht gewesen war und er vielleicht gerade in diesem Augenblick mit einer anderen Frau flirtete. Allerdings - schon so früh aufzugeben, dafür war sie nicht der Typ.

Sie hatte ihm eine kurze und provokative Nachricht auf dem Küchentresen hinterlassen und hoffte, dass er sich früher oder später wieder bei ihr melden werde. In dieser Hinsicht war Marie noch ziemlich altmodisch, sie tat nie den ersten Schritt, sondern wartete immer auf die Initiative des Mannes. Wie oft waren ihr deshalb schon Männer entwischt, einfach weil sie zu passiv war. Doch alte Gewohnheiten änderte man nicht so einfach über Nacht, und sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass Tristan sie auf jeden Fall anrufen werde, weil auch er die Nacht sehr genossen hatte. Sie musste einfach daran glauben.

Plötzlich riss eine Kundin sie mit ein paar Worten aus den Gedanken: „Wo finde ich das Duschgel, das zu diesem Duft passt?“


Tristan warf den Hörer auf die Gabel und tippte etwas in seinen Computer. Er kniff die Augen zusammen, während er den Kurs eines Versicherungsunternehmens betrachtete, der gerade in den Boden schoss.

„Was ist denn da passiert?“, flüsterte er bei sich und wechselte auf ein anderes Fenster, um die Ursache für den Absturz zu verstehen. Aber keine der Daten boten ihm eine Erklärung.

„Was ist hier los?“, rief er seinem Kollegen Marcus zu, der keine anderthalb Meter von ihm entfernt saß. Der tippte noch schnell ein paar Zeichen, drückte die Enter-Taste und stieß seinen rollenden Stuhl zu Tristan hinüber. Dabei warf er den über und über mit Kartons von chinesischem Fast Food gefüllten Mülleimer fast um, der zwischen ihnen stand.

„Ach, Fensec. Ja, Tom hat eben seine positive Analyse für die kommenden Monate durch die Kameras nach New York und Tokyo geschickt. Dabei ist ihm aber die Nasenscheidewand aufgeplatzt und das Blut hat ihm die Show gestohlen. Da haben die Händler schnell geschaltet und das hier”, Marcus wies auf die schräg nach unten weisende, flackernde Linie, „das hier ist dabei herausgekommen.“

„Glückwunsch!“, stieß Tristan mit einem sardonischen Lächeln aus und schüttelte den Kopf. Doch Marcus hatte sich schon wieder abgestoßen und war lachend an seinen Platz zurückgerollt.

Beim Mittagstisch in einem dieser kleinen französischen Straßencafes in der Nähe der City unterhielt sich Tristan mit zwei Kollegen über Toms Missgeschick.

„Du bist ein Idiot, Tom”, sagte Steve gerade, ein hagerer Mann mit kurz geschorenem, blondem Haar.

Tom blickte sichtlich irritiert, kratzte sich an der Nase und bedachte Steve mit einem wütenden Blick. Noch während die anderen lachten warf er mit fester Stimme in die Runde: „Das hätte jedem von euch passieren können. Also warum haust du nicht ab und fickst dich selbst?“

Doch seine Worte ließen die anderen nur in noch größeres Lachen ausbrechen. George nahm sich die Ketchup-Flasche, wandte sich ab und hatte, als er sich wieder zu Tom hindrehte, einen blutroten, dicken Schnauzer über der Oberlippe.

„Siehst du, so hast du in Tokyo ausgesehen, Tom!“

Er wandte sich kurz ab und dann wieder den anderen zu. Nichts hatte sich verändert. Noch immer troff ihm das Tomatenmark aus der Nase.

„Und so hast du in New York ausgesehen!“

Toms Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Durch zusammengezogene Augenlider entsandte er Giftpfeile in Richtung der anderen. Seine hellblauen Augen blitzten vor Wut. Dann schoss schon wieder Blut aus seiner Nase und auf seine frisch gewechselte Krawatte.

„Und so hast du in Frankfurt ausgesehen!“, schrie George und schlug auf den Tisch, so dass eine der Bedienungen vor Schreck ein Messer fallen ließ. Tristan beugte sich zu Boden und nahm das Messer auf, das neben seinen Schuh gefallen war, während die anderen beiden laut grölend das gesamte Lokal zum Stillschweigen brachten. Als er den Kopf hob und die peinlich berührte Bedienung anblickte, legte er ein Lächeln auf die Lippen. Das Mädchen trug weiße Kniestrümpfe unter dem dunklen Rock. Das weiße Hemd zierte eine schwarze Fliege. Aus den kurzen Ärmeln staken zwei Arme, die von einem solch zarten Rosa waren, als bestünden sie aus Porzellan. Er berührte ihre Finger flüchtig, als er ihr das Messer in die Hand legte.

„Schaut her, Tris interessiert es gar nicht, obwohl es zum Schreien ist”, rief einer in das Lachen der anderen.

„Doch, köstlich”, sagte Tristan mit leicht verzogener Miene. Er blickte auf Toms Hemd und biss in sein Baguette. Tom bemerkte, dass das Tupfen der Serviette nunmehr weder sein Hemd noch seine Krawatte retten konnte. Deshalb legte er diese ab und sah Tristan an.

„Was war eigentlich gestern noch mit dir und diesem Ding?“, fragte er Tristan.

Der blickte von seinem Salat auf und ließ den Blick für einen Moment auf dem verspannten Gesicht des Bankers ruhen.

„Mit uns? Nicht viel”, antwortete Tristan schließlich, wandte den Blick wieder ab und probierte von der Lachsterrine.

„Das kannst du vergessen, der spricht nie über seine Affären. Er nimmt sie eine nach der anderen mit nach Hause, aber passieren tut angeblich nie was.” Steve klopfte Tristan auf die Schultern. „Denn Tristan ist ein Mönch, wisst ihr?“

„Bei mir”, warf George ein, „wurde gestern noch gefeiert. Die Kleine hat geschrien wie eine Harpyie, aber ich sage euch, meine Lieben, der Abend war lustvoll.“ Dabei machte er eine eindeutige Geste, die Tristan die Terrine im Halse stecken bleiben ließ. Nun drohte eines jener Gespräche zu entbrennen, das wieder zur allgemeinen Verbrüderung beitragen musste, indem ein jeder wie ein Jäger das noch blutige Wildbret knallend auf den Tisch wirft und damit beginnt, den anderen die Geschichte seines Erfolges zu erzählen. Und wie sie auf diese Weise ihre Beute ein zweites Mal vor den vor Neugier weit aufgerissenen Augen der Brüder ausweideten, leerte sich das Lokal langsam, denn die Mittagspausen neigten sich dem Ende zu. Wie erlöst übernahm Tristan für heute die Rechnung, ließ die anderen schon vorausgehen, um eine Zigarette zu rauchen und sagte dem Mädchen beim Aufstehen: „Es tut mir leid, Mademoiselle. Ich hoffe, Sie verzeihen diesen Rohlingen.“

„Kein Problem.” Sie lächelte schüchtern.

„Sind Sie neu in der Stadt?“, fragte er.

Sie nickte.

Er betrachtete die Blonde einen Augenblick. Sie selbst schien nicht daran zu glauben, dass er ihr nun eine weitere Frage stellen würde. Deshalb lächelte er nur, nickte dem Mädchen zu und öffnete die Tür des Lokals.

Tom schob sich an George und Steve vorbei durch die Tür, rempelte einen Passanten an und entfernte sich mit verärgerter Miene. Er lief an den Schaufenstern der Bistros und Cafés vorbei, die die Straße säumten.

Toms Gesicht war das eines schönen Mannes. Allerdings begann eine Anspannung, die nie daraus weichen zu wollen schien, allmählich ihre Spuren darin zu hinterlassen. Die Kiefer, die immer etwas nach vorn geschoben waren, hatten den Muskelbau beeinflusst und jene Filamente seitlich des Gesichts gestärkt, während sie jene an den Wangen, die für das Lachen zuständig waren, schwächten. Solange die Fasern über Zähnen und Knochen noch jung gewesen waren, hatten sie keiner Entspannung bedurft. Jetzt aber begannen die Wangen einzufallen. Seitlich des Mundes wölbte sich die Haut und warf senkrecht von den Mundwinkeln abfallende Falten, die eine lang anhaltende Unzufriedenheit verrieten. Er mochte sich einbilden, dass dies genetische Veranlagung sei, aber kein Gesicht ist gegen die Zehntausenden von Stunden des immergleichen Mienenspiels gefeit, die letztlich ihre Spuren werfen müssen.

Auch schien Toms Hautfarbe nicht mehr so frisch wie die seiner Kollegen gleichen Alters zu sein. Aber wie sollte die Haut auch strahlen, wenn das Gewebe, das darunterlag, solch einer andauernden Anspannung ausgesetzt war? Toms Gesicht fehlte es angesichts dieser eingeschliffenen Verbissenheit an Spontaneität. Er lächelte regelmäßig um wenige Sekunden verspätet, sein Lachen konnte sich einer gewissen maskenhaften Erstarrung nie vollends entledigen.

Unbewusst auf diesen Makel reagierend, um seine Gesprächspartner nicht zu entfremden, hatte sich Tom angewöhnt, die Aussagen seines Gegenübers durch zustimmendes Nicken oder aufmerksame Laute zu unterstützen. Dies gab ihm manchmal einen Zug von Unsicherheit, dem jedoch ein Missverständnis zugrunde lag.

Toms Augen hingegen hatten nie ihre Lebhaftigkeit verloren. Auch wenn sie ihr Gegenüber die meiste Zeit über scharf in den Blick fassten, reagierten sie auf jede humoristische Spitze mit einem Lächeln. Der scharfe Sinn dieses Mannes ließ seine Augen diese Reaktion vielleicht schneller verraten, als es bei anderen Menschen der Fall war, wodurch Toms Augen und Mundpartie in einen eigentümlichen Kontrast traten, wenn die Gespräche weniger ernsthaft wurden. Alles in allem war Tom die Verkörperung des Widerspruchs. Seine Schönheit, seine Intelligenz und Sportlichkeit hätten ihn in die Mitte jeder Gesellschaft befördern sollen. Aber sein zu jeder Sekunde bis zum Zerreissen gespannter Geist und sein unruhiges Wesen verhinderten dies. Diese Tatsache musste diesen Menschen schließlich zerstören.

Und genauso sprach Tom auch. Seine Stimme klang verzerrt, wie von dem Wissen um seinen eigenen Widerspruch schrecklich plärrend. Ganz so, als wollte ein Teil seiner Stimmbänder dem Gesagten Ausdruck verleihen - hoch und voller Emotionen -, während der andere Teil dunkel klang und Stärke vermitteln sollte.

Wieder rempelte Tom einen Fußgänger an, entschuldigte sich höflich, machte noch ein paar Schritte und verschwand dann im Büroturm der Bank.

Tristan

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