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III

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Acht Stunden später drehte Tristan den Schlüssel in dem Türschloss zu seiner Wohnung herum. Eine halbe Umdrehung genügte, das Mädchen vom Vorabend hatte die Tür also einfach hinter sich zugezogen. Dunkelblau schien das Licht der Stadt durch die Glaswände seines Apartments. Er legte die Hand auf den Schalter und machte Licht. Die Ledertasche ließ er auf das Sofa fallen, dann ging er zum Kühlschrank hinüber und öffnete ihn. Das Sushi war noch da. Er griff danach, träufelte sich etwas von der schwarzen Sojasauce auf die kleinen Röllchen, deren Reis sich sogleich durstig verfärbte. Wo hatte er das Wasabi gelassen? Er ging zum Schrank hinüber, doch dort war die grüne Paste nicht. Er kniete sich zu Boden und öffnete die hüfthohen Holztüren. Fehlanzeige. Auch drüben am Herd war nichts zu finden.

„Das Haus hat kein Wasabi mehr”, sagte er verblüfft zu sich selbst und ging zu dem Stehtisch, der die Küche von dem Badeingang abgrenzte. Darauf lag etwas, was vorher nicht dort gewesen war. Er griff nach dem Zettel. In geschwungenen Lettern waren dort ein paar Worte und eine Telefonnummer aufgeschrieben worden. Marie hatte fünfzehn Minuten gebraucht, um die Worte richtig zu Papier zu bringen. Jetzt, da Tristan sie las, stieß er einen kurzen Luftstoß aus, der wohl ein abgehacktes Lachen zu sein schien, drehte den Zettel um und vermerkte hier für seine Haushälterin Marta in klar lesbarer Schrift: Wasabi. Er hob den Kopf, blickte kurz nachdenklich aus dem Fenster in die anbrechende Nacht und schrieb weiter. Er brauchte dringend zwei Flaschen Champagner. Marta kannte den kleinen Laden, der seine Lieblingsmarke führte. Dann heftete Tristan den Zettel an den Kühlschrank, zog sich aus und ging ins Bad. Er musste sich etwas beeilen - in einer Stunde war er mit zwei Kollegen in der Skylounge verabredet.


Gerade stieg der Mond wächsern hinter den fahlen Hochhäusern der City auf, als Tristan die Bar betrat. Eingerahmt von seinen zwei Freunden schritt er langsam an den tiefen Sitzkissen und den gedämpften Unterhaltungen vorbei. Sein dunkelbraunes Haar war noch feucht und hing ihm bis zu den Wangen ins Gesicht. Zum Rasieren hatte er keine Zeit mehr gehabt, so dass ein leichter Schatten in seinem Gesicht lag, der seinen blauen Augen einen feinen Kontrast bot. Hier in der lauen Brise der Stadt, die zum abendlichen Leben erwachte, gingen die drei Männer zu ihrem reservierten Tisch. Sie setzten sich. Marcus entledigte sich seines Jacketts und krempelte die Ärmel hoch, ganz so als mache er sich nun an den zweiten Teil seines Arbeitstages. Dabei bestellte er lediglich einen Gin Tonic. Der andere orderte einen Absinth.

„Und für Sie, mein Herr?“, fragte der klassisch gekleidete Ober.

„Einen Rum Cola. Kubanischen Rum bitte.“

„Sehr wohl”, sagte der indische Junge und drehte ab. Wie auf Schienen glitt er an weiteren Gästen vorbei und verschwand in Richtung Bar. Marcus begann sich mit dem anderen, Cirrus Baker, zu unterhalten. Cirrus arbeitete nicht in der City, Marcus kannte ihn noch aus der Schule. Er war freischaffender Künstler, hatte im Dachgeschoss eines alten Backsteingebäudes an der Carnaby Street sein Atelier und verdiente für einen Künstler nicht schlecht. Dies hatte er nicht zuletzt seiner Überspanntheit zu verdanken, die er immer zur Schau stellte, wobei unerheblich war, ob er sich in einem Golfclub oder an einer Fast-Food-Theke befand. Gerade erzählte ihm Marcus gestenreich die Geschichte des Vormittags.

„Vorzüglich!“, keuchte der Geck, „das bringt mich auf eine Idee.“

Tristan winkte ab, als sich Marcus und Cirrus kurz auf die Toilette verabschiedeten. Er griff nach seinem Getränk, das ihm der Ober soeben hingestellt hatte, tat einen Schluck und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Gäste, die diese Dachterrasse trotz der frühen Abendstunde bereits bevölkerten.

Im silbrig glänzenden Licht des Mondes tummelten sich vielleicht hundert Leute von der unterschiedlichsten Couleur. Hier, keine drei Meter von Tristans Tisch entfernt, standen zwei dicke Geschäftsmänner, zumindest waren sie dies, wenn man ihren ausladenden Gesten nach urteilten konnte. Der eine legte dem anderen gerade in einem falschen Anflug von Nähe die Hand auf die Schulter und redete eindringlich auf ihn ein. Dabei schwenkte er sein Martini-Glas gefährlich über den Köpfen eines Pärchens, das auf einem tiefen, roten Schaumstoffkissen saß. Jeden Moment drohte das Getränk überzuschwappen und auf dem weißen Kleid des Mädchens ein kleines Malheur anzurichten.

Weiter entfernt stand eine Gruppe Models um einen schlaksigen, offensichtlich homosexuellen jüngeren Mann herum. Er trug einen seltsam gebogenen Hut, den er aller Voraussicht nach wohl selber entworfen hatte. Doch Erfolg schien er zu haben, so musste es sein. Tristan ließ seinen Blick einen Moment lang auf dem Kreis der Schönheiten ruhen. Dann blickte er sich weiter um und wunderte sich ob der Menge dieser Geschöpfe, die heute hier waren. Mit einem Mal sah er sie überall: Dort an der Bar stand ein alternder Mittfünfziger und hielt eine hoch aufgeschossene Rothaarige im Arm. Nicht weit davon vergnügten sich gleich vier Blondinen mit zwei breitschultrigen Herren auf einer Sitzreihe. Auch diese beiden schienen nicht schlecht für sich gesorgt zu haben, ihre blinkenden Uhren verrieten es ebenso wie das übersteigert laute Lachen der vier, und zwar jedes Mal wenn einer der Herren auch nur seinen Mund öffnete.

Tristan strich sich seinen Sakkoärmel glatt und nahm die Szene etwas genauer in Augenschein. Die Männer interessierten ihn dabei kaum. Die Models hingegen, die sich um sie scharten, riefen ein zartes Lächeln in ihm hervor. Models, so dachte er bei sich, sind in unserer Zeit das, was zu Casanovas Zeiten die Figurinen der französischen Oper waren. Das war jene Gruppe Mädchen von ausgesuchter Schönheit, welche die zweifelhafte Ehre hatten, von den Reichen ihrer Zeit zu deren Mätressen gemacht zu werden. Als Casanova lebte, gingen die Adligen in die Oper, um zu hören, dass das Publikum ihre Namen beim Auftritt der Ballerinas auf der Bühne nennt. Als Angehörige der königlichen Musikakademie gehörten die Ballerinas damals alle dem Hofe an. Trotzdem füllten sich ihre Reihen aus den zugleich schönsten und ärmsten Mädchen des Landes, die für ihre Auftritte noch nicht einmal entlohnt wurden. Sie nahmen diese Stellung aber von Herzen gerne an, denn dadurch konnten sie von dem französischen Adel gesehen und von ihren Männern zur Mätresse erhoben werden. Auch heute scharen sich die Reichen und Einflussreichen um die Laufsteg-Modelle, wie ihre europäischen Vorgänger einst um die Bühnen-Figurinen. In allen Ländern der Welt schmücken sie sich mit der erlesenen Schönheit der Mädchen. Und das, überlegte er, obwohl ihre Schönheit sich heutzutage nur noch auf ihre hohe Statur und die gleichmäßige Form ihres Gesichts bezieht, nicht aber auf die Weiblichkeit ihrer Formen. Damit entspricht der Geschmack des heutigen Industrie- und Finanzadels scheinbar eher dem der Künstler, welche, so sagt Balzac, die Skizze dem fertigen Gemälde vorziehen.

Tristan musste leise lachen und gestand sich ein, heute selber auf mehr Weiblichkeit verzichten zu wollen. Natürlich bot es keinen schönen Anblick, sobald man das hübsche Gesichtchen von seinen Kleidern befreit hatte. Nicht umsonst baten die meisten dieser traurigen Spezies darum, das Licht fast vollständig zu dimmen, damit die Kerze keine Schatten zwischen die Rippen warf. Die Brüste indes erschienen an diesen nackten, hungernden Kinderkörpern viel größer, als sie tatsächlich waren. Doch wie schrecklich hart waren diese Becken! Man hatte Angst sie zu zerbrechen, wenn man sich mit den Mädchen der Liebe hingab. Tristan nahm keinem dieser Männer ab, dass sie im Bett wirklich zufrieden waren - mit dem, was sie hatten. Aber darüber trösteten sie sich offensichtlich mit den neidischen Blicken hinweg, die sie empfingen, wenn sie in Gesellschaft dieser Mädchen auftraten. Dann waren ihre Körper von der neuesten Mode verhüllt, die nur - und auch wirklich nur - für sie geschnitten war und ihrem feenhaften Äußeren einen wirklich überirdischen Anblick verlieh.

Wie groß ihre Augen immer wirkten, dachte sich Tristan und empfand etwas Mitleid mit diesen Wesen. Sie strebten nach einem Ideal, das sie in den Medien vermittelt bekamen. Es ließ sie ihr Leben lang hungern. Hungern nach Essen und zuletzt wohl auch hungern nach Liebe. Denn so sehr sie den Zustand dieser hungernden Welt verkörperten, so wenig konnten sie darauf hoffen, damit wirklich jemals geliebt zu werden, weder von den Männern, die sie aus Eitelkeit erwählten, noch von sich selbst. Denn, daran bestand für Tristan kein Zweifel, um so federleicht zu werden wie diese Mädchen, darf man sich nicht lieben. Und so wird auch jedes Kompliment über ihre Schönheit wertlos für sie.

Sie dursten nach etwas anderem, das tiefer war. Doch was hatten sie schon zu bieten, um darauf hoffen zu dürfen? Viele Modelle hatte Tristan in seinem Leben bereits kennen gelernt. Aber mit keiner hatte er sich länger als einen Abend auf interessante Weise die Zeit vertreiben können. Und selbst diesen einen Abend hatte Tristan größtenteils selbst mit seinen Worten füllen müssen, hatte ihre gespielte Eitelkeit etwas reizen müssen, um ihnen dann Komplimente über ihren Intellekt zu machen. Selbstverständlich waren all dies Lügen. Sein Ideal einer schönen Frau bestand in etwas ganz anderem. Aber, was sollte es schon? Man lebt nun einmal in der Zeit, in die man hineingeboren wird. Die Fünfziger wären zwar eher nach seinem Geschmack gewesen, aber in diesem Leben musste er wohl oder übel mit dem arbeiten, was gerade en vogue war. Und, so leid es ihm tat, in diesem Jahrzehnt liebte die Welt Gesichter der Einsamkeit und des Hungers.

„Tristan!“, gellte jäh eine Stimme durch die Menge - und Cirrus, der Künstler, erschien. Er hatte die Arme theatralisch geöffnet, als er die zwei Stufen zu ihrem Tisch hinaufstieg. Sein Gesicht zierte das offenste nur denkbare Lachen, das selbst den Mond erbleichen ließ. Dunkel schienen Tristan die Pupillen seines Gegenübers entgegen, und er fürchtete bereits, von ihnen verschluckt zu werden, als endlich Marcus herantrat, den anderen Stuhl heranzog und Tristan den Arm auf die Schulter legte.

„Das war großartig!“, grinste er offenherzig. „Und? Schon irgendwas gesichtet?“

„Ich weiß nicht”, antwortete Tristan und griff nach seinem Glas, rief dann aber den Ober und bedeutete ihm, dass er noch eines haben wolle.

„Tristan, Tristan...”, begann Cirrus und bekam noch immer nicht das gewinnende Grienen aus seinen Mundwinkeln, „Tristan, ich habe mich eben auf der Toilette mit Marcus über dich unterhalten“.

Tristan blickte auf die Uhr und legte den Kopf etwas schief: „Ja, dafür habt ihr euch in der Tat recht viel Zeit gelassen. Was gab es denn über mich zu erzählen?“

„Du bist ein so schöner Mann, Tristan. Ich mag den Schein deiner Haare, den ironischen Ausdruck um deine Augen. Dein Kinn, diese Statur. Mit einem Wort, ich habe noch nie einen so vollendeten Menschen gesehen wie dich!“

Tristan lehnte sich zu Marcus herüber, der zustimmend mit dem Kopf nickte.

„Wie viel hast du ihm denn gegeben?“, fragte er flüsternd.

„In Cocainum veritas”, feixte dieser.

„Wirklich, Tristan. Als ich dich zum ersten Mal sah, da wurde meine Seele zutiefst erschüttert. In diesem Augenblick wusste ich, dass die Persönlichkeit, die durch jede deiner Fasern hindurchzutreten scheint, mein ganzes Wesen, ja vielleicht sogar mein Leben zu verändern im Stande ist. Ich habe bisher schöne Werke geschaffen, aber die erscheinen mir nun lediglich wie das Vorspiel auf das Große, das ich jetzt erst vollbringen kann. Meine Kunst muss dich mir zu Eigen machen. Lass mich ein Bild von dir malen!“

Eine Pause trat ein, in der Marcus anmutig das Glas hob und Tristan mit einer würdevollen Geste zuprostete. Der schien nachzudenken. Seine fein geschwungenen Augenbrauen hatten sich zu einem ernsten Schatten zusammengezogen. Seine Mundwinkel warfen dünne Fältchen, doch dies währte nur wenige Sekunden.

„Los, Tristan, dein Profil reizt unseren Freund hier schon seit Wochen. Überleg doch, er könnte deine jugendliche Schönheit unsterblich machen! Dein Gesicht würde altern, dein Bild aber würde immer so frisch bleiben wie heute.“

Doch Tristan machte eine abwehrende Handbewegung.

„Lassen wir das Thema. Tut mir leid, Cirrus, aber ich habe keine Zeit, dir Modell zu stehen.“

„Diese Antwort kann ich nicht akzeptieren! Jeder andere würde vergehen vor Freude darüber, von mir verewigt zu werden!“, protestierte der Künstler vehement. Aber Tristan war nicht umzustimmen. Eine kurze Pause trat ein, in der Cirrus mit verletzt erhobenen Augenbrauen zum Mond hinaufstarrte.

„Auf die Falten denn!“, sagte Marcus endlich - ganz Diplomat - und erhob sein Glas, „sie machen uns mit jedem Jahr schöner, während unsere Frauen dahinwelken. Deshalb male lieber unsere Freundinnen, Cirrus, dann haben wir ein Andenken an sie, wenn wir später ihre Töchter heiraten!“

Doch Cirrus hatte seine gute Laune über dieser Enttäuschung verloren. Mit unterdrücktem Zorn hatte er seinen Stuhl etwas herumgedreht und widmete sich nun voll und ganz dem Spektakel, das sie umgab.

„Ich werde etwas frische Luft schnappen”, entschuldigte sich Tristan und stand auf. Er nahm sein Getränk und wanderte mit gemessenen Schritten in Richtung einer Dame, die ihm während des Gespräches aufgefallen war. Denn der Grund für sein zuvor so überraschend düsteres Mienenspiel war gar nicht das Angebot des Künstlers gewesen. Dieser Anlass wäre ihm auch viel zu gering erschienen. Nein, der Grund war die Dame in dem roten Abendkleid gewesen, die blicklos an ihnen vorbeigegangen war und nun am äußersten Rand der Dachterasse stand. Während er seine Schritte ganz langsam in Richtung der langbeinigen Schönheit lenkte, klirrten die Eiswürfel leise gegen die Innenseite des Glases in seiner Hand.

Zauberhaft sah sie aus. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie sich über die rechte Schulter gelegt, so dass ihr langer, schwanenhaft anmutender Hals frei lag. Ihre Haut schien weis und kühl gegen das Mondlicht, während das Rot des Abendkleides, das den Rücken kaum verdeckte, die Konturen ihres Körpers wie ein warmer Hauch umspielte. Tristan trat an das Geländer neben sie und umfasste das Chrom der Absperrung mit beiden Händen.

Er blickte hinaus auf die Stadt und atmete tief ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie sich nach ihm umsah und mit den Augen für einen Moment an seinem Gesicht hängen blieb. So drehte auch er sich zu ihr um und lächelte. Ihr Gesicht war noch schöner, als er es in dem kurzen Augenblick hatte einschätzen können, als sie an ihnen vorbeigeschwebt war. Sie schaute ihn aus einem Paar großer kastanienbrauner Rehaugen prüfend an. Ihre Augenbrauen schwangen sich zart darüber. Die Stirn war hoch und rund wie die eines Kindes, während ihre Nase gerade und wohlgeformt das Antlitz in zwei symmetrische Hälften teilte, deren sinnlichen Höhepunkt ihre Lippen bildeten. Diese waren so voll und lustvoll, dass sie des Lippenrots gar nicht erst bedurft hätten, das sie aufgetragen hatte. So aber stachen sie von der alabasterfarbenen Haut ab wie Blutstropfen im Schnee.

„Ich konnte nicht fassen, dass eine Dame wie Sie sich allein hierher begibt und wollte mich persönlich anbieten, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Mein Name ist Tristan”, sagte er, während er den Kopf schräg legte und das Lächeln aus seinen Zügen wich.

Staunend blickte sie ihn einen Moment lang an, doch dann fasste sie sich, schüttelte noch zögernd den Kopf und sagte langsam: „Gesellschaft leisten?“

Sie schlug die Augen kurz nieder, dann sah sie ihn erneut an und fuhr fort: „Ich danke Ihnen, aber ich habe eine Verabredung“.

Da erst fiel ihm auf, wie zerbrechlich sie wirkte. Der dünne Stoff, der wie Wasser ihren Körper hinabfloss, schien die Verletzlichkeit, die er in ihrem Gesicht las, nur noch zu unterstreichen. Ihr Körper war von solcher Weichheit, ganz anders als diejenigen der Modelle, die hier um sie herum standen. Ihre wirklich weiblichen Formen verblüfften ihn, und er sah sein Gebet von zuvor erhört. Zugleich aber erkannte er, dass die anderen in ihrer trockenen Zähigkeit dieser Dame hier überlegen waren. Er fürchtete, dass wenn er sie berührte, sie zerspränge und in tausend weißen Scherben über den Boden flöge.

„Dann warte ich hier mit Ihnen zusammen und verabschiede mich, sobald Ihre Begleitung eintrifft”, erwiderte er nach einer kurzen Pause, „natürlich nur, wenn ich darf, heißt das.“

Sie hatte sich wieder der Stadt zugewandt, blickte ihn bei seinen Worten jedoch höflich an. Endlich sagte sie: „Na gut, dann bleiben Sie”, und blickte erneut hinaus in die Nacht.

„Ist es nicht schade, dass es in London niemals wirklich dunkel wird?“

„Was meinen Sie?“

„Nun, sehen Sie, ich komme vom Land. Um genauer zu sein, ich komme aus einem Dorf auf dem Festland. Und wenn dort die Nacht anbricht, dann ist es dunkel. Hier aber wird es niemals dunkel.“

„Sie kommen nicht von hier?“

„Nein.“

Sie blickte ihn strahlend an, als hätte er ihr soeben einen tiefen Wunsch erfüllt.

„Meine Eltern stammen aus Italien. Mein Name ist Eco, Isabella Eco.“

„Ach wirklich? Dann sind ihre und meine Eltern fast Nachbarn gewesen. Mein Name ist Tristan.“

„Tristan, und weiter?“

„Nichts weiter. Nur Tristan.“

„Gut, ich werde sie Tristano nennen”, sagte sie lachend.

Der Ober trat an ihnen vorbei. Tristan hielt ihn auf.

„Zwei Gläser Champagner - sie trinken doch Champagner?“, fragte er sie beiläufig und stellte sein noch halb gefülltes Glas auf das Tablett. Das Eis darin hatte sich aufgelöst.

„Hmm”, sagte sie peinlich berührt und wandte sich wieder ab.

„Bitte, nehmen Sie mir nicht übel, dass ich Sie einlade. Aber ich musste meinen beiden Freunden entfliehen. Sehen Sie die beiden dort?“ Und damit wies er auf Cirrus und Marcus, die sich gerade aufgeregt über irgendetwas zu unterhalten schienen. Sie erblickte seine Freunde und nickte.

„Die beiden werden mir dafür, dass ich mich entfernt habe, nur verzeihen, wenn ich mit Ihnen Champagner trinke”, sagte Tristan und lachte.


„Was hat es eigentlich auf sich - mit ihm?", fragte in diesem Moment sieben Meter entfernt der Künstler Marcus.

„Was? Mit Tristan?", fragte Marcus zurück.

„Ja”, erklärte der Künstler, „er ist so ganz anders als die Menschen, die man heute kennen lernt".

„Findest du wirklich?"

„Ich kenne ihn ja kaum, aber mir scheint, als lasse er niemanden so recht an sich heran."

„Das ist es nicht”, widersprach Marcus lächelnd, „ihm ist das Geschwätz der Menschen nur zuwider. Dieses oberflächliche Gerede über Frauen, Geld und Macht ist ihm unerträglich. Du weißt, ich meine das, wovon es in der Bank und hier”, Marcus lehnte sich zurück und wies um sich, „so viel gibt."

„Und die Frauen?" Der Künstler verkniff das Gesicht. „Wenn mich das Gerede ärgert, dann gehe ich zu den Frauen. Aber von denen läßt er wohl auch keine wirklich an sich heran."

„Doch, und wie”, lachte Marcus auf. Ein kurzes tiefes Lachen, das in einem Moment sowohl Vertrautheit wie auch Verrat in einem einzigen Ton vermengte, „er bringt sie zum lachen, reizt sie, macht ihnen mit einem Blick Hoffnungen und fängt sie schließlich ein. Es ist, als tanze er mit ihnen, so sehr weiß er auf jede ihrer Bewegungen einzugehen, noch bevor sie merken, dass sie geführt werden. Ich habe niemals eine Einzige erlebt, die ihm nicht verfallen wäre."

Marcus machte eine Pause und wandte sich sinnierend zu Tristan um, der sich mit der Frau in dem roten Abendkleid unterhielt.

Dann seufzte Marcus und fuhr lächelnd fort:

„Aber was kann er dafür, dass ihm die Frau, die er küsst, am nächsten Morgen nicht mehr schmeckt?"

„Er mag sich nicht binden?”, fragte Cirrus.

„Jeder Mann sucht nach einer Frau, mit der er Gemeinsamkeiten teilt; jemanden, in dem er sich auf eine gewisse Art wiederfindet. Auch Tristan tut dies. Jede der Frauen, mit der er sich einlässt und die ich kennen lerne, spiegelt eine Facette seines Wesens wider. Immer stellt sich jedoch heraus, dass es eben nur eine Facette ist. In dem Augenblick, in dem er dies begreift, lässt er sie fallen. Oft ist es nur die Schönheit, die sie mit ihm teilen. Dann dauert es nicht selten lediglich eine Nacht. Ist es mehr als nur das, kann es auch ein paar Wochen dauern, bis er sich enttäuscht abwendet. Aber ich habe bisher keine erlebt, die sich länger als einen ganzen Monat an seiner Seite hielt.” Marcus hob den Arm und versuchte Tristan und seine Begleiterin heranzuwinken.


„Beachten Sie die beiden bitte gar nicht”, flüsterte Tristan, berührte Isabella wie aus Versehen am Rücken und blickte mit ihr gemeinsam auf die Stadt.

„Was machen denn Ihre Freunde?“, fragte Isabella.

Tristan nahm dem Ober, der erneut erschienen war, die beiden Gläser ab, steckte ihm etwas Geld zu und reichte Isabella ihr Glas.

„Der eine ist Künstler”, antwortete er.

„Künstler? Ich liebe die Kunst!“, rief sie.

Er hob sein Glas und senkte seinen Blick tief in den ihren: „Dann auf die schönen Künste!“

Sie wiederholte den Trinkspruch und war für einen Moment wie gefangen. Tristan nahm einen Schluck Champagner und befahl sich nicht zu husten. Er konnte nicht glauben, dass dieses Zeug aus Frankreich stammen sollte.

„Sind Sie sicher, dass dies Champagner ist?“, fragte Isabella, die ihm keinesfalls hatte anmerken können, was er von dem Tropfen hielt, da er seine Züge vollkommen unter Kontrolle hatte. Dies war niemals Champagner, allenfalls italienischer Schaumwein.

„Schmeckt wie Prosecco!“, fuhr sie sichtlich belustigt fort und kicherte leise.

Auch Tristan fiel in ihr Lachen ein und sagte: „Da sehen Sie’s. Ich habe versucht, Sie zu beeindrucken und dabei gleichzeitig zu sparen. Den Ober kenne ich. Wenn ich Champagner bestelle, schenkt er mir immer nur Prosecco ein. Aber bisher hat mich noch niemand dabei ertappt. Dazu brauchte es schon eine wirkliche Italienerin!“

Abrupt hörte sie zu lachen auf und kniff die Augen zusammen.

Doch er schüttelte nur lachend den Kopf und trank den Rest seines Champagners. Er stellte dem indischen Ober das Glas wieder auf das Tablett und wies ihn an: „Gut, mein Freund, aber jetzt bring’ uns den richtigen!“

Überrascht verharrte der junge Inder eine Sekunde, dann fuhr Tristan fort:

„Bring uns einen Prosecco, mein Lieber.“

Jetzt lachte auch Isabella lauthals, worauf sich einige der Gäste zu ihnen umblickten und die Mienen verzogen. Diesen bedeutete Tristan leise: „Probieren Sie auf keinen Fall den Champagner.“

In diesem Augenblick öffneten sich die Reihen, und ein groß gewachsener Lateinamerikaner trat auf Isabella zu. Sie umarmte ihn, und er küsste sie vertraut auf die Wange. Dann wechselte er ein paar persönliche Worte mit Isabella. Den Arm um sie gelegt, wandte er sich schließlich Tristan zu und fragte: „Und Sie sind...?“

„Das ist Tristan”, antwortete Isabella.

„Erfreut!” Tristan reichte dem dunklen Hünen die Hand und fuhr fort: „Ich habe Isabella Gesellschaft geleistet, um eine solch reizende Dame nicht allein warten zu lassen.“

Der Lateinamerikaner verzog die Augenbrauen, erwiderte aber nichts.

„Na gut, meine Arbeit hier ist also verrichtet, ich lasse euch die beiden Proseccos dann bringen.” Mit diesen Worten ergriff Tristan die Hand Isabellas und zog sie sachte aber bestimmt an sich heran. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte: „Auf bald!“

„Auf bald”, erwiderte sie lächelnd.

Tristan nickte Isabellas Begleiter zu und ging zu seinen Freunden zurück. Auf dem Weg begegnete er dem Inder, dem er etwas Geld zusteckte und unter das eine Prosecco-Glas seine Visitenkarte legte. Dann wies er den Kellner an, die Getränke zu servieren und kehrte zu dem Tisch von Cirrus und Marcus zurück. Es überraschte ihn nicht, dass diese beiden neben den drei Flaschen Champagner nun auch in Gesellschaft dreier Modelle waren. Er begrüßte die Mädchen, von denen die erste Haare von einem so tiefen Rot hatte, dass er Cirrus fast für seine Wahl beneidete. Als Tristan hinzutrat, blickte Marcus aus einem angeregten Gespräch mit zwei Brünetten auf und rief: „Ah, wir hatten dich schon gesucht! Lern Michelle, Sam und Sasha kennen!“

Tristan grüßte jede Einzelne von ihnen und fand sich kurz darauf in einer Unterhaltung mit Sasha wieder, einem zweiundzwanzigjährigen Fotomodell aus Jekatarinenburg. Während sie ihm aufgeregt und mit hölzernem Englisch von ihrem letzten Shooting in Paris berichtete, betrachtete er ihre Nase, die wirklich allzu entzückend war. Sie war voller Sommersprossen und kräuselte sich bei jedem Lachen in so unbeschreiblicher Weise, dass Tristan sie darauf aufmerksam machte.

Sasha hatte bereits zwei Gläser zu sich genommen und vertrug offenbar nur wenig, so dass Tristan ohne zu zögern anfing, ihre Sommersprossen mit dem Finger zu zählen. Dabei hielt er mit der anderen Hand ihren Hals und geriet mit seinem Gesicht derart nahe an das ihrige heran, dass sie zuerst nervös kicherte. Als sie dann aber die neidischen Blicke ihrer beiden Freundinnen auffing, hörte sie damit auf und schürzte auf einladende Weise die Lippen.

Tristan sah dies, fasste ihr Kinn und drehte sich zu den anderen beiden um.

„Sie hat mehr Sommersprossen, als heute Abend Sterne am Himmel stehen, Marcus.“

Darauf fing Cirrus laut zu lachen an, und Tristan bat ihn nachzuzählen.

„Sieh selbst”, sagte er, griff nach Sashas Hand und gleichzeitig nach der der Rothaarigen und geleitete die eine zu Cirrus hinüber, während er die andere vorsichtig aus der Nähe seines Freundes entfernte. Die Rothaarige nahm neben ihm Platz.

„Hallo Sam”, sagte Tristan und blickte auf die Mundwinkel seines Gegenübers, die sich vor Freude gehoben hatten. Ihre Zähne funkelten ihn an.

„Du hast wunderschöne Boticcelli-Locken”, sagte er. Sie lachte, ohne es zu verstehen.

„Darf ich dir noch etwas einschenken?“, fragte er und griff nach ihrem Glas, das fast leer war.

In diesem Moment erschien Isabella hinter der Rothaarigen. Sie blieb stehen und blickte Tristan einen Moment lang fragend an. Ihre Begleitung, offensichtlich etwas erzürnt, raunte ihr ein Wort zu und ging bereits zur Garderobe vor, um ihren Mantel zu holen.

Tristan stand auf und griff nach Isabellas Hand, doch diese berührte ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde und hinterließ die Visitenkarte zwischen seinen Fingern. Schon war sie fort. Erstaunt betrachtete er seine Karte, während Zweifel in ihm aufkamen. Doch dann drehte er sie herum und sah, dass sie auf der Rückseite ihre Telefonnummer hinterlassen hatte, gleich unter seiner eigenen. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er die Karte in seine Innentasche steckte und sich wieder hinsetzte, um Sams Glas zu füllen.

„Wer war das?“, fragte diese mit einem ebenso arglosen wie ahnungslosen Ausdruck.

„Nur eine Freundin”, sagte er und küsste ihr die Hand.

Tristan

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