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ОглавлениеTristan fluchte, als auch das fünfte Taxi nacheinander aufheulend an ihm vorbeifuhr und einen Schwall dreckigen Wassers auf den Gehsteig sprühte. Dicht prasselten die Regentropfen dazu auf ihn hernieder. Wütend schnaufend zog er seinen Mantelkragen enger, kniff die Augen zusammen, in die der saure Regen tropfte, und setzte seinen Weg zu der nächsten U-Bahnstation fort, die er kannte. Dumpf und bleiern hing der Himmel über London. Ein Vogel flog eilig durch den nasskalten Wind, während das Klopfen der Ledersohlen auf dem Pflaster unter ihm von dem Geräusch des herabstürzenden Regens verschluckt wurde. Weshalb hatte er darauf bestanden, sich nach dem Essen die Füße zu vertreten, anstatt mit Marcus ein Taxi zu teilen? Marcus hatte die richtigen Schlüsse aus der plötzlichen Veränderung der Helligkeit gezogen, die sich jetzt zu einem tiefen Grau ausgeweitet hatte und die Gasse, die sich endlos vor Tristan auszudehnen schien, ausfüllte. Von seinem langen Haar troff ihm das Wasser in den Nacken, und angeekelt blickte er auf die schmutzigen Rinnsale zwischen den Steinen. Nach einer Zeit, die ihm schier endlos erschien, erreichte er endlich den Eingang zu dem unterstädtischen Tube. Er stampfte einige Male fest mit den Schuhen auf den Boden, um das Nass aus Leder und Kork seiner Schuhsohlen zu treiben, dann zog er sein Mobiltelefon aus der Manteltasche und dazu die Visitenkarte, auf der Isabella gestern ihre Nummer notiert hatte. Er wischte sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht, lehnte sich an die kalte Wand und wartete, bis sie abhob.
„Hallo?“
„Hallo Isabella, ich bin in den Regenschauer geraten und wollte dich anrufen, bevor deine Nummer verschwimmt.” Sie musste das Lächeln in seiner Stimme gehört haben. „Ich komme gerade vom Brunch und bin auf dem Weg nach Hause. Da hab ich mich gefragt, ob du Lust hast, mich heute Abend in die Oper zu begleiten.“
„In die Oper?“ Ihre Stimme klang erstaunt.
„Ja”, lachte er, „ich hab noch eine Karte und würde mich freuen, wenn du mir die Ehre gibst.“
Eine Pause trat ein, was Tristan ungläubige Falten auf die Stirn trieb. Er blickte gegen die hellen Kacheln des U-Bahnschachtes und erinnerte sich an das entzückende Bild, das Isabella in dem roten Kleid gestern Abend abgegeben hatte. Er fuhr fort: „Heute Abend wird ‚La Traviata’ aufgeführt, immerhin die berühmteste Oper der Welt. Bitte sag nichts ... oder warte”, wieder lächelte er, „sag einfach: Ich komme mit!“
Er hörte, wie sie lachte, dann – endlich - sagte sie: „Ich komme mit.“
Tristan machte eine Gebärde des Erfolgs und sagte noch schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte: „Fantastisch! Ich freue mich sehr. Dann verrate mir, wo ich dich abholen kann, sagen wir um halb acht, ja?“
„Ja”, antwortete sie langsam und beschrieb ihm die Adresse. Tristan schloss die Augen und prägte sich den Straßennamen ein, bevor er sich verabschiedete und ihre Adresse schnell in seinem Telefon speicherte. Als er es in seine Innentasche zurücksteckte, wunderte er sich über sich selbst, denn er spürte, wie sein Herz pochte. Er schüttelte den Kopf, strich sich mit beiden Händen die feuchten Haare glatt und nahm seinen Weg in Richtung der Bahnlinie auf. An der Treppe bemerkte er, dass sein Zug eben gerade eingefahren war. Ein Mann rempelte ihn an, als Tristan lossprang, um noch an die Türen zu kommen, die sich gerade schlossen. Eine Frau sah ihn herbeihasten und hielt den Zug auf.
„Hab ich doch noch mal Glück heute”, sagte er freudig und blickte sie an, während er an ihr vorbei in die Bahn stieg. Hinter ihm schloss sich die Tür, und er sah, wie sich das freundlich lächelnde Gesicht der Frau zuerst in Erstaunen wandelte und dann, als der Zug abfuhr, in Enttäuschung. Die Frau sah aus, als wolle sie etwas sagen. Dann verschwand sie. Hübsch war sie nicht, dachte Tristan bei sich und setzte sich auf einen freien Platz am Fenster. Er blickte in das monotone Dahinrasen der schattenbehafteten Kachelwände hinaus.
Die beiden Frauen der vergangenen Woche erschienen vor seinem geistigen Auge ... Marie und Sam. Nackt räkelten sie sich vor den rhythmisch dahinziehenden Betonsäulen der Londoner U-Bahn. Liebe war schon immer faszinierend, umwerfend, bezaubernd, dachte er. Doch was, wenn nur die Frauen sie empfanden? Unwillkürlich begann er, über die Vorstellungen, die er sich als kleiner Junge über die Liebe gemacht hatte, nachzudenken. Heute schienen ihm diese Gedanken Überlieferungen aus einer lange verschollenen Zeit zu sein, vielleicht der von Goethe oder möglicherweise auch Shakespeare. Ist es heutzutage das gleiche Gefühl, das die Welt umspannt, wenn man von der Liebe spricht?
Ein leises Lächeln stahl sich in seine Miene, während sein Sitznachbar ihn argwöhnisch zu mustern begann. Doch Tristan beachtete ihn gar nicht. Es scheint einfacher geworden zu sein, dachte er bei sich. Finde ich eine Frau bezaubernd, nehme ich sie mir, so einfach ist das. Die Romantik scheint völlig verflogen. Es scheint, als erwarte die Frau heute weniger, ja, als wolle sie sogar weniger als zu damaligen Zeiten. Er dachte an seine kindlichen Vorstellungen der vollkommenen Liebe zurück und lächelte erneut. Früher einmal war die Luft schwanger von gefühlvoller Atmosphäre gewesen. Da musste der Mann werben, kämpfen, sich lächerlich machen, um das Herz seiner Angebeteten zu erringen. Durch ihre hohen Anforderungen angestachelt und seine bisherigen Leistungen befeuert, wurde sie wirklich zum glühend-pulsierenden Zweck seines Denkens. Nichts konnte seinen Ehrgeiz schmälern, wenn er denn nicht von melancholischem Charakter war, der bereits die Hoffnung aufgibt, wenn noch nichts geschehen ist.
Dieser Mann früherer Zeiten sang, tanzte und focht für den Traum seines Herzens. Und all dies wurde wie selbstverständlich von der Dame entgegengenommen. Mehr noch, sie regte ihn sogar zu weiteren Höchstleistungen an, indem sie zuneigungsvolle Genüsse rar machte - und ihnen dadurch höheren Wert verlieh. Jeder Augenaufschlag schien verheißungsvoll, jedes persönliche Wort wog schwerer. Die Distanz, die sie schuf, ließ den Mann die Frau vergöttern. Sie zu einem höheren Wesen werden. Die Liebe, die sich in der Brust des Mannes entfachte, und die durch neu und immer neue Geschenke befeuert wurde, hatte die Macht, entweder frisches Leben zu schenken oder zu töten. Wurde man nach hingebungsvollem Streben irgendwann erhört, wurde man durch diese Frau geadelt. Sie war nicht Trophäe, sondern größter fassbarer Erfolg, errungen in Hunderten von Schlachten. Mit ihr vervollkommnete sich das Selbstbild und der Stolz auf die eigenen Fähigkeiten. Dieser Erfolg konnte für ein ganzes Leben beflügeln, konnte aus einem Niemand einen besonderen, vor Erfolg sprühenden Jemand machen. So einen wie Marcus. Der aber hatte offenbar vergessen, was seine Frau aus ihm gemacht hatte.
Allerdings, dachte sich Tristan, konnte diese damalige Liebe auch töten. Kämpfte man für einen Traum, der sich im Nachhinein als zwar möglich, aber unerfüllbar herausstellte, und in dem die Frau als die Rettung der eigenen Seele hochstilisiert wurde, in dem nichts anderes mehr von Wert war außer ihr - sie, die die Sonne war, um den jeder Gedanke kreiste -, vernarrte sich der Mann in seinem Tun derart in dieses Ziel und verlor dabei jedwede Sicht für mögliche Konsequenzen - Konsequenzen, die abseits seines Traumes lagen -, dann konnte diese Liebe auch töten. Denn wenn sie verschmäht, abgewiesen, letztlich nicht erwidert wurde, starb mit ihr auch der Lebensinhalt. Der Mann hatte zugelassen, dass das Bild dieser Frau alles weitere in seinem Herzen verdrängte, ja, nichtig machte. Statt mit dem Taschentuch der Dame gesegnet zu werden und als erfolgreicher Ritter zu erstrahlen, wird der Mann zur tragischen Figur, zum Narren, über den die teilnahmslose Welt nur spotten und lachen kann.
Was also ist aus dieser Liebe geworden? Was ist aus der musikschwangeren Luft geworden, in der hingebungsvolle Blicke gewechselt wurden? In der der Gesang des Mannes die Erwiderung der Dame fand, eine Hand die andere aufforderte, und in der Sinatra noch verstanden wurde, anstatt nur gehört zu werden, weil es als stilvoll gilt, sich mit seinem Atem, seinem Klang zu schmücken.
Die dreckigen Betonmauern zogen wie gerahmte Dias seiner längst vergessen geglaubten Empfindungen an Tristans Fenster vorbei. Doch nun schienen sie wie zu neuer Farbe erweckt. Neue Fragen stiegen in ihm auf: Hat es mit den zerstörten Ehen zu tun, die ihre Kinder an dem Gedanken der Liebe zweifeln lassen? Sicherheit, jedoch um den Preis des Wartens und der Romantik? Vielleicht hat diese Generation der Elternlosen den Anschluss an diesen Traum verloren. Wahrscheinlich genügt es ihr, sich mit den fleischlichen Überresten eines solchen Gedankens vollzustopfen. Den Magen zu füllen und dabei nicht zu bemerken, dass das Fleisch, so gegessen, keinen Geschmack hat. Geschmack sind sie wahrscheinlich gar nicht mehr gewohnt, besaßen ihn nie, und wenn, dann ist die Erinnerung daran so alt, dass sie mittlerweile lang verblasst ist. Voller Angst hocken diese, der Liebe beraubten Kinder in ihrem Leben, ergreifen die nächste Hand, die sich ihnen bietet, ohne sich seelisch wirklich zu binden. Nehmen die Hand, weil sie verspricht, man werde nicht mehr allein sein.
Sein rechtes Augenlid begann nervös zu zucken. Die Gedanken drohten sich auf ihn selbst zu richten, doch es gelang Tristan, sie wieder von sich wegzuschieben. In seinen Augen war er anders, wartete eben nur auf die Richtige. Vertrieb sich die Zeit mit den Falschen, solange er die Eine nicht fand und gönnte keiner, lange bei ihm zu verweilen, aus Angst, darüber die Richtige zu verpassen. Seine Gedanken richteten sich wieder zurück auf die Welt und seine Kritik an ihr.
Welch trauriges Spiel sich da in der Welt entwindet! Gefällt einem eine Frau, nimmt man sie sich, ohne dass der Sache zwischen den beiden Menschen irgendwelche Bedeutung verliehen wird. Indem man sich selbst und ihr keine Bedeutung, weder die nötige Zeit noch den Respekt zugesteht, geht der Sinn vollends verloren. Man nimmt sie sich. Frisst sich an der Schönheit ihrer Hülle satt, und wenn man sich schließlich gesättigt hat, verfliegt das Interesse. Genauso schnell wie es gekommen war.
Warum das Interesse heute so schnell verflog? Er wusste es nicht.
Tristan seufzte, und sein Gegenüber stand auf, um an der nächsten Haltestelle den Zug zu verlassen. Der Mann blickte zu dem vollkommen durchnässten Jüngling zurück, der sinnierend und von Gedanken überwältigt, dort hinten am Fenster saß.
Das Werben fehlt, stellte Tristan erneut fest. Nimmt sich die Frau die Zeit, den Mann für den Kern zu begeistern, ihm zu verstehen zu geben, dass es der Kern ist, der - verhüllt - das wirkliche Geschenk darstellt. Erst dann lässt sie ihn wieder zum Ritter werden. Nun mag er wieder sein volles Potential entdecken, in seinem Ringen an neue Grenzen gehen, und das, für das er kämpft, wertschätzen. Erst jetzt wird das eigentliche Geschenk der Liebe beiden zuteil. Das, was sie zu besseren Menschen werden lässt: Die Idee. Die Idee der Liebe. Erreicht man dies vollkommen essentielle Geschenk eines Lebens, ist alles weitere Kinderspiel. Beflügelt, beseelt von der Liebe des Lebens, erscheint alles andere ganz leicht.
Tristan wurde übel. Bier und Schnitzel schienen ihm nicht zu bekommen. Er griff sich an den Magen und löste den Blick vom Fenster. Er schluckte, um sich nicht hier drinnen übergeben zu müssen. Noch immer war sein Gegenüber nicht ausgestiegen. Die Tür öffnete sich, doch der Mann blieb eine weitere Sekunde stehen, den Blick ruhig auf Tristan geheftet. Jetzt blickte auch Tristan ihn zum ersten Mal bewusst an. Dieser Mann war dunkelhäutig und alt. Sein krauses Haar hatte hier und dort weiße Strähnen, die ihn wie einen grau gewordenen Panther aussehen ließen. Er war ein armer Mann, das sah man. Tristans Blick fiel auf die Augen, die ihn tiefschwarz und unergründlich anfunkelten. Die dickporige Haut verzog sich und legte sein Gesicht in Falten. Trockene Lippen zogen sich zitternd die Wangen empor und schienen sie zerreißen zu wollen. Darunter bleckten weiße Schneidezähne hervor, so dass Tristan erschrak. Es war, als wenn sich eine kalte Hand um sein Herz legte und es zusammenpresste. Das Schweigen war tief, hing schwer und grausam zwischen Tristan und dem Panther im Abteil ... und schien Tristans Herzschlag zu ersticken.
Tief sog er die Luft ein, schloss die Augen und hörte sein Herz schlagen. Dann blickte er erneut zur Tür. Doch sie stand leer. Er sah zum Fenster, doch der Mann ging vorbei, ganz so, als sei gar nichts gewesen. Tristan lehnte sich wieder gegen das Plastik seines Sitzes zurück und spürte, dass die Übelkeit langsam wich. Er schloss die Augen und atmete noch einmal tief ein und aus. Niemand sonst in dem Abteil schien seinen kurzen Schwächeanfall bemerkt zu haben. Selbst die Frau neben ihm las unbekümmert ihre Zeitung, als sei nichts geschehen. Und letztlich war es auch so. Tristan blickte wieder aus dem Fenster, doch die Diashow war vorbei. Lediglich Beton und Schmutz zogen an ihm vorbei. Der Rahmen blieb leer. An der nächsten Haltestelle stand er auf und stieg aus. Er beschleunigte seine Schritte, erreichte den Ausgang der U-Bahnstation Southwark und wandte sich zur Blackfriars Road. Er spazierte Paris Garden entlang, bis er schließlich zum Upper Ground kam, in dessen Nähe er wohnte. Das zwölfstöckige Haus, in dem sich seine Wohnung befand, wurde größtenteils von Unternehmerfamilien bewohnt. Banker lebten hier nicht, da sie Orte wie Chelsea, Redcliff Gardens und Sloan Square bevorzugten. Tristan aber gefiel es hier. Er liebte den Blick auf die Themse und die Distanz, die er zwischen sich und die anderen Männer seiner Branche brachte. Als er den Aufzug nahm, dessen Boden nass und schmutzig war - von jenen, die ihr Zuhause vor ihm erreicht hatten -, klingelte sein Telefon.
„George, du bist es”, sagte Tristan.
„Hey, mein Freund”, rief George, dessen Zunge bereits etwas schwer zu sein schien, „ich bin gerade mit Steve im Pub. Der erzählte mir eben von dem großen Wurf, den unsere Bank macht...“
Tristan winkte ab. „Bitte George, nicht jetzt. Ich habe Wochenende.“
„Schon gut, schon gut. Dann was ganz anderes: Wie war dein Abend gestern? Ich habe gehört Marcus und du, ihr seid zusammen weggewesen.“
„Ja, ich komme gerade vom Brunchen mit ihm zurück. Wir hatten gestern ein paar Drinks oben in der Skylounge. Bei dem Wetter heute könntest du dort wahrscheinlich schwimmen.“
„Wir waren gestern unten in unserem Stammclub”, George stieß einen hohen Laut aus, „es war einfach göttlich, mein Lieber.“ Tristan war jetzt auf seiner Etage angekommen und öffnete die Wohnungstür, während George ihm von dem gestrigen Abend erzählte. Tristan schaltete das Licht in seiner Wohnung an. Der Geruch von Sams Parfüm war noch immer nicht verflogen. Er empfand eine gewisse Abscheu gegen Parfümeurs, die es nicht zustande brachten, dass sich ihr Duft innerhalb eines halben Tages in Luft auflöste. Es genügte doch vollkommen, dass ihre Kreation die Haut der Frau den ganzen Tag bedeckte - was gut war. Dass die erlesene Note jedoch noch Stunden weiter im Raum hängen blieb, war für Tristan ebenso unerträglich wie der Gedanke daran, der Geschmack eines Duftes von einem Frauenhals könnte ebenso lang auf der Zunge eines Mannes zurückbleiben. Parfümdüfte müssen verfliegen, dachte er etwas gereizt, sonst trennt sie doch nichts vom Schweiß.
Er öffnete die Tür, die hinaus zur Terrasse führte, und genoss die frische Brise des anbrechenden Abends, die er tief einsog. Der Regen hatte aufgehört und den Stadtstaub aus London weggespült. Tristan stand einige Minuten am Fenster und schmeckte den Geschmack einer neuen Nacht auf seiner Zunge.
„Na gut, soweit unser Wahnsinnsabend”, kam George gerade zum Ende, „heute wollen wir die vier wieder treffen. Sie werden noch ein paar Freundinnen mitbringen. Hättest du Lust?“
„Ein anderes Mal, George. Heute Abend bin ich schon verabredet. Ich gehe in die Oper. Aber Marcus könnt ihr fragen”, antwortete Tristan.
„Marcus, ist er über seine Ex denn endlich hinweg?“
„Sie sind noch verheiratet, aber das solltest du ihn besser selber fragen.“
„Ist mir egal! Wer so früh heiratet, ist selbst schuld”, warf George zurück. „Die wird ihn ordentlich bluten lassen für die Scheidung. Ich werd die Jungs mal fragen, ob wir den guten alten Marcus mitnehmen, seine Nummer habe ich ja.“
„Na dann, bis Montag”, sagte Tristan.
„Bis Montag”, erwiderte George, und Tristan hängte auf.
Noch einige Sekunden betrachtete er die sich verdunkelnde Anzeige seines Telefons und versuchte sich daran zu erinnern, was George ihm zuvor erzählt hatte. Er fand es amüsant, dabei zu sein, wenn sich die Rauheit seines Humors in konkreten Taten gegenüber dem anderen Geschlecht entfaltete. Die Geschichten am nächsten Tag zu hören, ermüdete ihn jedoch.
Jeden Abend griff George, wie es sich für einen Engländer gehörte, auf große Mengen Alkohols zurück – seien es Flaschen von Champagner oder prickelnde Gläser voller Ale –, um sich von dem Stress seiner Arbeit abzukühlen, die er wirklich vortrefflich machte. Er war einer der besten Banker, die Tristan kannte, bis zum Zerreißen voller Energie, und dabei mit der richtigen Prise an Überlegtheit, sobald er die Dinge anging. Wenn sie ausgingen, war es immer George, der den Takt der Bestellungen vorgab, und sowie die anderen begannen etwas zurückzustecken, ließ er weitere Getränke kommen, selbst wenn die sich vor seinen Begleitern bald stauten. Er liebte es einfach, wenn der Alkohol sein Gehirn verklebte, jenen Moment, wenn es nur noch auf halber Leistung lief. Dabei war eine seiner Tugenden der perfekte Witz, den er mit zunehmender Betäubung nur noch um so präziser zu setzen verstand. Nicht selten spießte er seine Kumpane einen nach dem anderen durch ironische Bemerkungen auf, so dass sie zuletzt alle wie Schmetterlinge an der Korkwand vor ihm hingen - um trotz ihres nahenden Endes belustigt mit ihm weiter zu feiern.
Selbstverständlich nahm George Tristan aus diesem Spiel aus. Zu viel hielt er von diesem Mann, um dessen Schönheit er ihn insgeheim beneidete und von dem er genau wusste, dass dieser ihm eine jegliche Spitze so übel nehmen würde, dass er ihn fallen ließe wie einen Fisch, der früher schön und blinkend, heute aber hässlich und stinkend geworden war.
Den Höhepunkt jeden Abends bildete der gemeinsame Besuch eines der vielen überteuerten Clubs, in die nur solche Mädchen gehen, die dort ihre eigenen Ziele verfolgen. Hier war es an George, seine für den Abend besten Pointen zu setzen. Niemand hätte bestreiten können, dass dieser so rau daherkommende Banker nicht den Anschein machte, als stinke er nach Geld. Problemlos setzte er seinem vor brutaler Komik sprühenden Schauspiel die Krone auf, indem er, als das unumstrittene Alphatier der Gruppe, wahllos Mädchen zu sich heraufwinkte, die seiner Aufforderung folgten und dadurch ihre Taufe zum VIP - später in der Nacht - durch die schmählichste Behandlung bezahlen sollten, die ein Mann einer Frau wohl zuzufügen imstande ist. Tristan wusste nicht, was genau George in seinem Apartment mit den zwei, drei Frauen anstellte, die er sich regelmäßig und beliebig mit nach Hause nahm. Er wusste nur, dass sie, solange sie sich - schrill lachend - mit seinem Champagner verwöhnen ließen und sich auf der Empore wie die Königinnen der Nacht vorkamen, wirklich wahrhaft glücklich waren. So als hätten sich alle ihre in den Medien abgeschauten Wünsche und Phantasien auf einen Schlag erfüllt.
Wenn ihnen Tristan jedoch am nächsten Tag zufällig auf der Straße begegnete, dann wirkten sie wie geprügelte Hunde, die ihm nicht einmal in die Augen zu blicken wagten und mit denen er fast so etwas wie Mitleid empfinden konnte. Im Büro darauf einmal angesprochen, hatte George Tristan mit einem jener gänzlich bösartigen Witze zurechtgewiesen, zu welchen Tristan weder das Herz noch das Maß an Heuchelei besaß, durch sein Lachen Beifall zu spenden. Eine wirkliche Antwort erhielt er zudem nie, was Tristan zuweilen etwas argwöhnisch machte, das er aufgrund der amüsanten Gesellschaft, die George sonst zu geben wusste, aber zu übergehen pflegte.
Jedenfalls ergab es nur Sinn, die Abende mit George gemeinsam zu erleben. Seine Erzählungen über etwas, bei dem Tristan nicht dabei gewesen war, klangen hohl und waren für einen, der von der Gegenwart lebt, von keinerlei Interesse.
In diesem Augenblick begann es Tristan zu frösteln. Der Wind über London hatte etwas zugenommen. Deshalb wandte er sich um, schloss die Tür hinter sich und fand den Raum gereinigt von allen Erinnerungen der vergangenen Nacht. Er seufzte zufrieden, entledigte sich seines Jacketts, das er säuberlich in seinem begehbaren Wandschrank verschloss und begann sich zu entkleiden. Ein Bad würde nun genau das Richtige für ihn sein. Deshalb beugte er sich zu dem schwarz metallenen Ungetüm herab, das seine Wohnung mit Klängen erfüllen konnte, und legte die einzig mögliche Musik für diesen Abend auf. Noch während er Richard Wagners Walkürenritt zu voller Lautstärke aufdrehte, überkam ihn ein Zittern - wie jenes, das ein Mensch empfinden muss, wenn er einem Seelenverwandten begegnet. Natürlich hatte er noch nie zuvor so etwas empfunden, aber in diesem Moment war es da. Es durchzitterte ihn wie das grausige Gefühl der lange ersehnten Erlösung, umfing ihn und ließ ihn taumelnd ein paar Schritte tun. Er schloss die Augen und lächelte. Tausende Streicher glühten auf, ließen ihre Saiten in wildem Fahren kreischen, bildeten dabei jedoch lediglich die Vorhut eines schrecklichen Wagens, vor den schnaubend tobende Rosse gespannt waren, deren jeder Atemzug nach Hunderten von Trompeten klang. Tristan verlor sich in den um sich greifenden Wellen des Augenblicks, dessen Klänge ihn hinauftrieben und jegliche Schwerkraft vergessen machten.
Dann, als er sich bei diesem Ritt hin zur Sonne am höchsten dünkte, und sich gerade zu ihr hinwenden wollte, verblassten um ihn herum alle anderen Sterne. Es schien sich nur noch das tiefe Blau des Universums um ihn und seine Sonne herum auszubreiten. Genau in diesem Moment höchster Verzückung, in dem ihm alle Welt lästig und mittelmäßig erschien und es nur ihn und diesen Moment der Verbrüderung zu geben schien, in diesem Augenblick öffnete er die Augen. Aber während die Trompeten und Posaunen tosend um ihn herum zu Staub zerfielen, die Trommeln die Luft zum Erbeben brachten, er erneut erschauerte und sich seine Lider sacht über die gewölbten Pupillen hoben, in dieser Sekunde befiel ihn erneut die tiefste und schrecklichste Enttäuschung, die einen Menschen wie ihn, der keinen Vergleich auf Erden hat, befallen kann. Denn inmitten all dieser wogenden Musik erblickte er nur sich selbst. Nackt und schön stand er dort auf dem kalten Marmor seines Zimmers. Nur das Spiegelbild des eigenen Körpers vor sich. Es erschien ihm, als würde er getroffen von dem Schlag der ersterbenden Klänge, der seine Flügel, die ihn soeben noch zu seinem Ebenbild emporgetragen hatten, zerschmettert hatte und der ihn nun wütend und verzweifelt hinabtrudeln ließ auf die Erde, zurück in eine unsägliche Mittelmäßigkeit. Herab zu den greifenden Armen am Boden liegender Kraken, die ihn mit ihren Tentakeln niederzudrücken strebten, tief in den Morast ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Die Musik erstarb - und die Stille, die den leeren Raum erfüllte, war viel mehr als er zu ertragen bereit war.
Tristan erzitterte. Er streckte den Arm aus und stützte sich gegen sein eigenes Spiegelbild, dessen Gesicht unter dem Schweiss seiner Hände zu verschwimmen begann. Das Stück war vorüber und Tristan keuchte nach Luft. Den Kopf schüttelnd, blickte er an sich herab und gewann neue Zuversicht. Leise, mit jedem Zentimeter der vollendeten Schönheit, die er betrachtete, kehrte sie zurück. Die Kraken um ihn lösten sich auf, das Leichenfeld, das er noch vor einem Moment um sich herum gespürt hatte, verschwand im Nichts. Nur er stand dort, und was für ein Bild gab er ab: Mit jedem Atemzug hob er sich ein Stück weit, bis er sich aufrecht und mit geweiteter Brust gegenüber stand. Das dunkle Haar wand sich kräuselnd um seine Züge. Die Lippen waren voller denn je. Der Schatten seines gespaltenen Kinns wuchs hochmütig unter ihnen heran. Sinnierend kniete er sich noch einmal hin, um die Musik zu wechseln, ging in seine Dusche und begann endlich, das Wasser auf seiner Haut zu genießen.