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(2) Hannah

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Das Leben ist der Ernstfall, sagt man. Jeder Tag sei wertvoll, jede Sekunde hätte das Potenzial zu einer großen Stunde. Das hört sich gut an, hat nur einen Haken, für die meisten Tage trifft es schlicht nicht zu. Ich sitze in einer Bar, ich habe mich in die Bedienung namens Hannah verguckt und rein theoretisch könnte heute der Wendepunkt sein, aber weil ich außer dem „Hallo“ nichts sage, stehen die Chancen schlecht. Wir haben einen guten Anfang gehabt, aber der ist abgeflacht, besser: ich habe ihn abflachen lassen.

Ich glaube, im Leben gibt es nur zwei Arten von Liebesgeschichten. Diejenigen, bei denen man auf dem Sterbebett denkt, die Geschichte war ein Fehler. Und die, bei denen man denkt, nicht mehr daraus gemacht zu haben war der Fehler. Ich muss an einen Freund denken, der vor einer Prüfung an seinem Schreibtisch Zettel angebracht hatte in der Art von: „Du schaffst es!“ und „Lernen ist die Erfolgsformel jeder Prüfung!“ und er beklagte sich, dass ein Zettel fehlte, der mit der Aufschrift: „Fang endlich an!“

Es fing vor zwei Monaten an, ich habe einer Frau, deren Foto ich auf einer Partnervermittlungsseite im Internet gesehen habe, eine Mail geschrieben, sie indes hat nicht geantwortet. Vor einem Monat dann ging mein Computer kaputt und ich vermisste meine Musik, meine Geschichten, meine Emails, ich vermisste mein Leben. Wenn dein Leben weg ist, suche dir ein Neues also ging ich ins Restaurant und da kam die Geschichte ins Rollen. Tausend Sonnen gingen auf, tausend Stürme erstarben, tausend Blumen sprossen, tausend Tauben flogen auf, tausend Herzen lächelten, ich war überwältigt von fünftausend Gründen, die Klappe zu halten. Aber auch jetzt war es nicht besser, denn was sollte ich groß sagen? Was ist ein guter Anmachspruch für eine Bedienung? Darf ich mal dein Tablett tragen?

Als ich am nächsten Tag einen neuen Computer hatte, war er mir völlig gleich.

Mittlerweile haben wir schon geredet und ich weiß viel und nichts über sie, aber ganz sicher weiß ich, dass es mir gefallen würde, um die vier Mal die Woche ihr Lächeln zu sehen. Und noch eines weiß ich, es würde mir gefallen, jeden Mittwoch in der Kneipe darauf zu warten, dass sie mit dem Arbeiten fertig ist.

Ein Mann spricht mich an und fragt, warum ich die Bedienung anstarre. Ich habe keine Freundin, antworte ich. Wie lange, fragt er. Zwei Jahre. Dummkopf, sagt er, pass bloß auf, dass dir Hannah nicht zum Füllwort für deine unerfüllten Wünsche wird. Ich nicke, und wieso Dummkopf? Weil du aus Dummheit auf die schönen Seiten von Beziehungen verzichtest. Mich hat keine genommen, sage ich. Und wie viele hast du nicht genommen, fragt er. Was? Meine Exfreundin hat mir etwas beigebracht, sagt er, sie nahm immer den besten, der sich für sie interessiert hat. Und was ist der beste, frage ich. Der Versuch, mich in ein philosophisches Gespräch zu verwickeln klappt nicht, beschied er mir. Du sollst dich lediglich an deinem realistischen Marktwert orientieren, nicht an Hätte-gern-Puzzle-Frauen. Frauen kann man nicht backen, aber lieben kann man sie schon, wird er nun doch philosophisch. Die Bedienung ist reine Wunschprojektion. Du bist der Eingeborene, der über ihre kleinen Gaben, ihren Glasperlen, furchtbar in Aufregung gerät und es wird der Anfang einer Eroberung sein, die in Armut und Depression endet.

Sag mir, sagte er, bist du depressiv über diese Geschichte. Ich schluckte trocken und er wandte sich ab. Und dann dreht er sich noch einmal um und sagte: ich hatte große Probleme, weil ich meine Idealfrau gesucht habe für den, der ich hätte sein wollen. Jetzt habe ich die Frau für den, der ich wirklich realistisch geworden bin.

Er geht und ich überlege. Es ist nicht nur ihr atemberaubendes Aussehen. Es sind die Zwischentöne, die ein Kunststück schreiben; es sind die Untertöne, die ein Meisterwerk vollbringen. Hannah ist am meisten Hannah, wenn sie nicht funktioniert. Es ist ihr stummes Fluchen, wenn die Gäste im Weg stehen, das mich an ihr fasziniert. Hannah, würde ich dein Bier erkennen, wenn man mir während eines Stromausfalls drei frisch Gezapfte hinstellen würde? Wenn man mir drei Schmerzmittel hinstellen würde, würde ich Hannah Plus C erkennen? Die Antwort ist Ja. Denn ja, ich habe im letzten Monat drei Frauen kennen gelernt und ja, Hannah, bei Stromausfall bist du mein Schmerzmittel Nr. 1.

Mit wachsendem Alter sieht man die Dinge nicht mehr unvoreingenommen. Wie viel Platz habe ich Hannah für ihre Persönlichkeit übrig gelassen und wie viel ist Projektion? Und wie viel davon Bier? Und vor allem, wie viel von dem Bier ist negativ? Ich habe mal gelesen, dass ein Magier einem Samen den zukünftigen Baum ansieht; wie viel von meinem Bier könnte Hannah sein und noch werden, wenn sie selber noch nicht von ihrem erreichten Alter voreingenommen wäre? Trinken wir uns jemanden nur schön, weil wir zu alt geworden sind, ihn schön zu sehen? Man sagt, Besoffene und Kinder haben einen Schutzengel, warum eigentlich? Ein Sturzbesoffener hört sich an wie ein Kind, fühlt sich unschlagbar und wirft sich neugierig jedem sofort an den Hals oder, je nach dem wie die Kindheit war, er wird aggressiv. Die Antwort ist einfach, wir trinken uns jung, wir trinken uns unvoreingenommen und neugierig, wir trinken die Verantwortung des Alters weg. Ich ging nach Hause und murmelte lange vor mich hin in Babysprache: Ata, ata, Hannah.

Am nächsten Mittwoch war ich sehr nervös. Das Leben ist der Ernstfall, sagte ich mir immer wieder, denn heute ist der große Tag, heute werde ich ihr meine Gefühle gestehen. Zum Konzentrieren ohrfeigte ich mich kurz vor dem Rausgehen drei Mal. Das erste Mal war zaghaft, das zweite Mal schon besser. Die dritte Ohrfeige schallte wie der Gong zur ersten Kampfrunde. Nur wie? Das Bier ist halb leer, ich winke sie zu mir und versuche es mit Ehrlichkeit: Ich will dich sofort, hier! Sie lächelt mich an, nickt und antwortet durch den großen Lärm: Ok, noch ein Bier.

Das war natürlich nur leichter Delirium.

Ich gehe zur Bar mit der festen Überzeugung, mich theatralisch auf die Theke zu schwingen und drei oder vier Salti zu schlagen, um dann direkt vor ihr mit einer Rose zwischen den Zähnen zu landen und dann oscarreif zu sagen: Diese Rose geht an dich, für die schönste Bedienung nördlich der Pegnitz und östlich des Mississippi. Sie überreicht mir ein Bier, setzt ihr schönstes Trinkgeldlächeln auf, ich schmelze dahin und denke mir oscarreif: Diesen Preis verdanke ich meinen Eltern, meinem Agenten und meiner Produktionsfirma, die mich allesamt immer und zu jeder Zeit - in den Alkoholismus hineingetrieben haben.

Ich setze mich wieder hin und gieße dieses zarte Pflänzchen, das bei aufopferungsvoller Pflege und steter Hingabe in nicht allzu ferner Zeit ein stattlicher Suff werden soll. Ich bin auf dem besten Wege, denn ich ertappe mich dabei, dass ich meine Nasenhaare rupfe, um das „Sie liebt mich - Sie liebt mich nicht“ - Spiel zu spielen. Ich bin gerade bei der zuversichtlichen Etappe, als sie mich dabei ertappt, ich ziehe so abrupt die Hand aus der Nase, dass ich dabei das Bierglas umschmeiße. Aber ich bin schnell genug, es aufzufangen und dann sehe ich zum ersten Mal Hannahs Version eines anerkennenden Gesichtsausdrucks.

Hannah ist Leben. Ich sehe sie an und frage mich, wie viele Anläufe die Welt gebraucht hat, um so ein perfektes Wesen zu erschaffen. In diesem Moment dreht sie sich um, schenkt mir ein Lächeln und ich finde, es muss ein glückliches Universum sein, so einen Menschen zu beherbergen. Wie schwer ist es für das Universum, Atome so zu ballen, dass Materie entsteht? Nicht schwer, es ist Anziehungskraft. Aber wie selten passiert es, dass ein Sonnensystem entsteht, wo im günstigen Abstand zur Sonne Wasser nicht verdampft und nicht zu Eis wird, sondern den flüssigen Aggregatszustand beibehält und so sich bewegende Mehrzeller ermöglicht, die dann das Wasser verlassen, das bewusste Denken lernen und als Spitze der Evolution schließlich zu lieben lernen. Es fing alles mit der Anziehungskraft an, alles fängt mit der Anziehungskraft an und geht den beschwerlichen Weg der Rückschläge und endet nur äußerst manchmal in Liebe.

Dieser Gedanke raubte mir Verständnis für Zeit und Raum und plötzlich fand ich mich am Stammtisch der Bedienungen wieder. Hannah hatte einen Ramazotti Sour, während Tina einen Wein trank und mich aufforderte, etwas zu sagen. Ich fragte: Lust auf ein Wortspiel? Sie nickten und ich legte los: Welche kanadische Stadt möchte man zum Fünf-Uhr-Tee nicht missen? Die Antwort ist: Quebec. Sie grinsten und für einen Moment gehörte ich zur Mannschaft dazu. Ich hätte platzen können vor Stolz. Und dann sagte Hannah, der wäre so lala.

Eine Freundin von mir, sagte nun Hannah, hatte eine typisch weibliche Erbkrankheit, nämlich Gluten-Unverträglichkeit. Gluten, das ist eine Eiweiß-Sorte, die in Getreide vorkommt. Da vieles mit Zutaten daraus gemacht wird, artet das übel aus, man kann auswärts fast nichts essen. Und dann hat sie einen Typen kennen gelernt und war unsicher, ob er sie wirklich möge. Sie bezeichnete ihn als Pizza, die ihr sehr schmecke, ihr aber nicht gut tun würde. Und dann überrascht er sie, er wusste, dass sie Pizza mag, mit einer aus Pizzateig ohne Gluten. Auf die Idee war noch keiner ihrer Exfreunde gekommen und so war sie von da an richtig von ihm begeistert. Hannah sieht uns an, dieser Typ hatte sich ernsthaft Gedanken gemacht und ihr einen Herzenswunsch erfüllt. Das ist toll an Männern, sagte Tina nickend und Hannah nickte mit.

In all den Zeiten, in denen ich Single war und bin und mich fragte, was ich alles tun müsste, um eine Freundin zu bekommen, wäre ich nie darauf gekommen, dass alles, was mich in den Augen einer Frau zu etwas Besonderen machen könnte unter Umständen nichts anderes sei, als der Kauf eines Pizzabodens. Vergiss den täglichen Blumenstrauß, sagte ich mir, das wöchentliche Liebesgedicht ist es nicht, nicht die spontanen Einkaufsausflüge nach London. Der Kauf eines Pizzabodens, nicht mehr. Hannah, was ist für Dich besonders? Ich würde dir ganze glutenfreie Tortenböden kaufen, cholesterinfreie Margarine und zuckerfreie Bonbons. Noch mehr, ich würde dir sogar holzfreies Papier und filterlose Zigaretten kaufen und ja, mein Herz, ich würde es wirklich tun, sogar koffeinfreies Cola light. Du Hannah, du Spitze der Nahrungskette, du.

Tina geht Gläser einsammeln und ich weiß, jetzt ist der Moment. Ich atme drei Mal tief durch, ich checke gedanklich die 7 besten Varianten, entscheide mich für die Überraschung, ich hole tief Luft und springe auf. Da kommt Tina mit dem vollen Tablett vorbei, sie reißt das Tablett nach oben und schreit laut auf.

Das Tablett kracht auf den Boden, Tina kniet sich instinktiv hin und versucht, sich den linken Arm mit dem Rechten zu schützen. Hannah sieht sich den Arm an und fragt, ob das schon öfters passiert sei. Ja, ächzt Tina, sie habe eine zu flache Gelenkpfanne. Hannah geht hinter den Tresen, sie holt ein paar Putzlappen darauf wird der Arm aufgestützt und mit gekonnten Griffen wieder eingerenkt. Zerknirscht beschließe ich zu gehen. Ich höre noch, dass sich Hannah für ihre Tat mit einer Extraportion Erdbeereis belohnen wird und dann ist alles klar.

Beim Bezahlen fällt mir ein Zettel aus der Brieftasche heraus, es ist meine „Ich liebe dich“-Sammlung. „Aischte imasu“ Japanisch, das geht einem doch recht schnell über die Lippen. Wobei „Neo reul sa rang hae“ südkoreanisch und „Lei lei tirk sika palalo“ auf philippinisch einen doch subtil daran erinnern, es nicht allzu beiläufig auszusprechen. Und - wir reden immer noch von einer zärtlichen Ansprache bei Kerzenschein und sanfter Musik, auf Finnisch: „Minä rakastan sinua“. Ich denke mir, wenn sie „Ich liebe dich“ so aussprechen, dann möchte ich nicht wissen, wie sie ein Todesurteil aussprechen. Bei: „Haluatko vaimokseni“, immer noch finnisch, wird es ernst, gerade muss ich daran denken, denn es ist ein Heiratsantrag und eine Frau, die sogar einen Arm wieder einrenken kann, wollte ich immer schon haben. Ich wollte schon immer eine Frau, die vor nichts außer Erdbeereis in die Knie geht.

Das war nicht immer so. Früher wollte ich gebraucht werden, aber mittlerweile bin ich selbstbewusster, weil reifer. Das Pochen auf Halbwissen ist ein Symptom, das man nur hat, wenn man das Wesentliche des Menschen nicht erkannt hat, nämlich die Beschränktheit, die Unvollkommenheit, die Verurteilung zum langsamen Verfall, kurz: die Krankheit. Und deshalb glaube ich, dass man den inneren Reifungsprozess ganz einfach messen kann, und zwar an der Anzahl der Ärzte, die man schon gesehen hat. Zweifelsohne ist Krankheit und sind Ärzte eine alterstypische Erscheinung. Kieferorthopäden zum Beispiel sind typische Teenager-Ärzte, während Schönheitschirurgen vorwiegend im mittleren Alter vorkommen und Angiologen, also Gefäßchirurgen und Rheumatologen erst viel später kommen, von Gerontologen ganz zu schweigen.

Während ich diesen Gedanken nachhänge, suche ich gerade eine Wohnung und ich muss verblüfft feststellen, dass Wohnungen ähnlich sind. Vorgestern betrat ich eine, die eindeutig einen Phonetiker benötigte, die Technosounds vom Nachbarn war nicht mehr normal. Es folgte eine Dachwohnung, die einen Orthopäden bräuchte, die Stützwände waren morsch und eine, die ob der Ungeziefer einen Tierarzt bräuchte, wenn nicht gar einen Seuchenexperten vom Institut für tropische Krankheiten. Mit dem Besuch einer Wohnung, die geradezu um einen Urologen bettelte, beendete ich meine Suche einstweilen und sah ein, dass ich so bald kein Glück haben sollte.

Ich hatte am nächsten Mittwoch mein Kommen in die Kneipe bei Hannah bereits am Nachmittag angekündigt, ich hielt das Speiseeis in der Tasche umklammert, während ich mit dem Plastiklöffelchen spielte. Als ich am Eingang plötzlich meine Exfreundin Andrea anstarrte.

Nun ja, ich habe es versucht, aber die Andrea, die ich jetzt in den Armen hielt, bestand selbst nach drei Wangenküssen und zwei In-die-Luft-Hebern darauf, Gudrun zu heißen. Ich ging zum Tresen weiter, ich versuchte, mich die restlichen zwei Meter über zu normalisieren, da stürmte auch schon eine Frau mit einem breiten Lächeln auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter und verkündete hoch erfreut, dass sie sich tierisch freue, mich zu sehen und dass ich sie doch habe anrufen sollen, ich Schelm.

Ich bin die Katrin, sagte sie und als wir uns die Hände schüttelten, sollte ich noch mehr stutzen, denn da kam Hannah, die mir mit einem „Du Schuft“ ein Glas Wasser über den Kopf schüttete, ehe sie wieder hinter dem Tresen ging. Das ist einer der Momente, da hätte ich gern ein Foto von meinem Gesichtsausdruck. Die Frauen lachten laut los, was mein Verdutzen noch verstärkte und dann sagte ich zu Hannah, dass sie mir glauben müsse, zwischen uns sei nie etwas gelaufen. Ich kannte Katrin bis heute gar nicht, sagte ich eilig. Und dass sie die Einzige wäre, die ich haben wolle.

Schlagartig hörten beide auf zu lachen, Hannah schaute mich überrascht und ernst an und sagte, dass sie einen Freund hätte. Katrin störte eilig die Schweigepause und klärte mich auf, Hannah habe ihr erzählt, dass ich eine Wohnung suche und nun wollte sie mich kennen lernen, da sie einen Mitbewohner suche. Sie hätten sich gerade über Männer unterhalten und über Sachen, die selten vorkommen, als ich hereinkam und die falsche Andrea umarmte. Das habe sie total albern gefunden und sogleich beschlossen, mich so auf die Probe zu stellen, ob wir zusammenpassen würden.

In diesem Moment sieht sie zu ihrer Hose herunter. Ich tue das gleiche und entdecke, dass die Umarmungen das Eis zerdrückt haben, Katrin fragt, was das sei und ich antworte niedergeschlagen, es sei Erdbeereis. Hannah kommt zum Tisch, sie legt mir ein Bier hin und lächelt mich an, das sei ausgegeben.

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