Читать книгу Einzelbilder werden zum Mosaik - Paul Stefan Wolff - Страница 6
(4) Gozo
ОглавлениеFür alle, die es interessiert, Gozo ist die Schwesterinsel von Malta. Für alle, die es interessiert, ich fuhr hin mit der Frau, die ich liebe, Hannah. Zu meinem Bedauern liebt sie einen anderen, den sie nicht kriegt. Zu meinem Bedauern sehr. Für alle, die es interessiert, auch mich liebt eine Frau sehr, Katrin, zum meinem Bedauern hilft das kein bisschen. Katrin ist sogar meine Mitbewohnerin in der WG.
Im Flugzeug musste ich über Gott philosophieren. Wenn man sich in 10 Kilometern Höhe befindet, kommt einem alles unten nichtig und klein vor. Aus dieser Höhe kann ich verstehen, dass Gott ein liebender Gott ist, weil von hier oben alles winzig klein aussieht. Ich meine, es könnte doch sein, dass es lediglich eine Sache der Höhe des Wohnortes ist und zwar die spezifische Entfernung zur Erde. Meine Theorie bestätigt sich, als wir die Alpen überfliegen sind die Bergspitzen meinem Auge viel näher und ich kehre wieder zum Realismus zurück. Den italienischen Stiefel kann man aus 10 Kilometern Höhe in voller Breite sehen und ich finde alles da unten wieder unbedeutend. Das Essen wird serviert und ich behalte die Sichtweise bei, so ein winziges Schnitzel habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Da müsste man 5 Kilometer näher dran sein, um davon satt zu werden, aber ich bin gerade mal 5 Zentimeter davon entfernt, also bleibe ich hungrig. Hannah hat eine Vorliebe für Ingwer, sie neigt dazu, einen kleinen Spender in der Handtasche dabei zu haben, um es im Restaurant oder so stets vorrätig zu haben.
Wir landen auf dem Flughafen von Luqa auf der Hauptinsel Malta, der Taxifahrer empfängt uns, er öffnet mir die linke Tür und dann fällt mir ein, das Lenkrad sitzt rechts; hier fahren sie links. Auf Malta hat man beim Überqueren einer Straße dieses London-Gefühl, man schaut immer in die falsche Richtung und wird die permanente Angst nicht los, im nächsten Moment überfahren zu werden. Das riesige Häusermeer um Valletta herum haben wir auf Straßen umfahren, die in mir die Zuversicht keimen ließ, hier keinen einzigen tiefergelegten Wagen zu sehen. Kurz vorab, die Typen dazu gibt es dennoch zuhauf.
Auf der Fähre nach Gozo hatte ich dann die Eingebung, wie ich die ausweglose Lage überstehen konnte; ich musste den Schmerz durch einen stechenderen ersetzen: ich musste Nichtraucher werden.
Das erste, was man von Gozo sieht, ist der Hafen von Mgarr, sprich Mdscharr, und mit seinen breiten Schutzmolen derart beschützend, dass man unvermutet den Eindruck hat, nach Hause zu kommen und in eine liebevolle Umarmung hineinzulaufen. Nimmt man dazu den Anblick der oben auf den Berg thronenden, von Hunderten von Glühbirnen erleuchteten Kirche, so hat man keinen Zweifel mehr daran, dass die Katholiken viel von Inszenierung verstehen; der Eindruck ist so machtvoll, dass mir unverzüglich meine Sünden einfallen.
Malta und Gozo sind Felsen und das merkt man zu jeder Zeit. Es gibt kaum Grün, stattdessen die ganze Zeit über Staub und Steine. Wenn man Steine verkaufen könnte, wären die Malteser reich.
Wir kommen im Hotel in Marsalforn, sprich Marsalforn, an und checken ein. Die Malteser sind derart freundlich, dass man vergessen könnte, dass sie innerhalb der letzten 200 Jahre 2 Aufstände zuwege gebracht haben. Merke: freundlich und duldsam sind zwei verschiedene Dinge.
Zweiter Tag. Erbärmlich geschlafen, von Steinen geträumt. Ich war in einem amerikanischen Gefängnis, zwischen Lucky Luke, der beim Rauchen erwischt worden war und den Daltons beim Steineklopfen und wir allesamt versuchten, die zweite Strophe von „Stille Nacht“ zu singen, aber mir geht es wie jedem, ich kenne nur die erste. Als ich aufstehe meint sie, dass ich wohl eher beim Steinesägen war und geht. Katrin ist zum Tauchen hergekommen, ich will mir das Rauchen abgewöhnen.
Ich gehe raus zum Meer, zur Hafenpromenade. Es weht ein starker Wind und nachdem ich mich durchgerungen hatte, jetzt meine letzte Zigarette zu rauchen, brauchte ich vier Minuten, um sie anzuzünden. Ich stehe gut 5 Meter über dem Meer, sehe begehrenden Wellen zu, die immer wieder auflaufen und immer wieder zerbrechen.
Ich schreie die Wellen an: Kommt doch ihr Weicheier und holt mich! Aber sie schaffen es nicht so hoch. Ich stehe lange da, ziehe an der Kippe und sie schmeckt nach Salz. Sie haben mich subtil unterwandert, denke ich zerknirscht, blicke gedankenverloren in die See, sehe gebannt auf eine weitere Welle, die sich aufbaut und mich knapp verfehlt. Ich will gehen, als mir auffällt, dass sie meine Schuhe gekriegt hat.
Man soll Feuer mit Feuer bekämpfen, also hole ich mir ein Bier und setze mich ans Meer. Die weißen Schaumränder im dunklen Wasser erinnern mich an Bikiniränder und ich verspüre riesige Lust auf eine intime Liaison mit dem Meer. Welcher Mann wurde je von einer Frau umspült, überall berührt – das Meer tut es. Tief eintauchen, sich wie im Weltraum in 3D bewegen, eins werden. Einst kamen wir aus dem Meer und das Gehirn hat sich in Schichten entwickelt. Die Dino-Region ist die mit den Aggressionen, sie liegt nah am Ursprung; wo liegt die Delphin-Region? Die Naiv-Spielen-Region, die Unschuldigsein-Region? Man hat herausgefunden, dass Babys im Fruchtwasser lächeln können und es auch tun. Von Wasser umschlossen, Teil eines Großen sein, keine Verantwortung, schweben, vertrauen, da würde ich auch lächeln. Mir wird klar, dass ich da sein will, wo sie ist und bestelle mir noch ein Bier und zünde mir eine Zigarette an. Am Ende sind es vier Bier und ich habe Kette geraucht, die neue Kippe an der alten angezündet – wegen dem Wind. Und das alles vor 14 Uhr.
Ich gehe nach Hause und schlafe bis sie kommt. Danach gehen wir essen, sie erzählte begeistert vom Tauchen. Anschließend ist sie ins Bett, zum Tauchen muss man um sieben aufstehen, also ist sie noch vor neun eingeschlafen.
Dritter Tag. Wir schlafen in einem Zimmer, zwei Betten. Ich habe wieder schlecht geschlafen. Ich habe geträumt, dass ich ein, bei Asterix und Obelix eingeschleuster Römer bin, der entdeckt und nun dazu verdonnert wurde, von Troubadix die Handharfe zu lernen. Ich bin hoch oben auf dem Baum und bemühe mich, Falballa in der Ferne zu beeindrucken, aber ich bin zu nervös und jedesmal, wenn ich einen falschen Ton hervorbringe, kriege ich einen alten Fisch über den Kopf gezogen, fliege herunter und ein magischer Spiegel mit Cäsar im Bild sagt „homo iactus est“ – der Mensch ist gefallen.
Heute gehe ich wandern, die Steinfelsen rauf. Gozo und Malta sind wie gesagt, Felsen mit Steinen drauf. Und darauf Staub und darauf wiederum ich. Weit oben, jetzt eine Kippe rauchen, das wär’s. Aber ich habe keine mit. Früher gab es auf Malta ausgedehnte Wälder, aber aus Holz macht man Schiffe, also wurden die Wälder abgeholzt. Auf Malta war es der Johanniter- oder auch Malteserorden, in Griechenland die Athener, in Kroatien die Venezianer, in Schottland die Briten. Seefahrernationen, die Wald vorfanden und Steinwüsten hinterließen. Hätten sie doch eine Zigarettenschachtel hinterlassen! Ich fluche und gehe runter. Im Hotel rauche ich eine, sie schmeckt nach Staub.
Ich gehe duschen und denke an die Frau, die mich liebt. Ich frage mich, ob sie auch versucht, Nichtraucher zu werden, oder, in ihrem Fall, Raucher.
Ich beschließe, nach Victoria zu fahren, der Inselhauptstadt. Da in der Gegend befinden sich die neolithischen Wohnhöhlen. Im Klartext, die letzten Spuren des Matriarchats in Europa. Deswegen bin ich hier, das Matriarchat erkunden. Mich fragen, wie wahrscheinlich Doris Köpf als Bundeskanzlerin wäre, mit Gerhard Köpf-Schröder an ihrer Seite. Ich zeige einem Einheimischen die Karte von Victoria und frage ihn, wo genau wir sind. Der Mann lächelt freundlich und sagt „In Victoria.“ Merke: freundlich und kompetent sind zwei verschiedene Dinge. Wenn du als Tourist ausgefallene Wünsche hast, bist du so aufgeschmissen, als müsste man sich vor Gericht verteidigen. Ich kann mich noch lebhaft an London erinnern, wo ich an der Tourist Information versucht habe, das Monty Python-Haus ausfindig zu machen und um seine Unkenntnis zu übertünchen, hat mir der freundliche Herr höflich von den neuen Figuren bei Madame Tussaud’s erzählt.
Ich gebe mich nicht so schnell geschlagen und versuche es alleine, aber als ich einen großen Dobermann sehe, der herrenlos herumstreift, siegt die Angst über den Entdecker und ich kehre wieder um. Im Hotel treffe ich zwei Malteser, die mir erzählen, dass Malta und Gozo verschiede Atmosphären haben. Auf der Hauptinsel Malta herrsche das Geschäft, auf Gozo die Gemütlichkeit. Und dass ich doch zu den Gigantija-Tempeln gehen könne, die kenne jeder. Die wären zwar später erbaut worden, aber immer noch tausend Jahre vor Stonehenge oder gar den Pyramiden. Sie fragen mich, was es mit dem Matriarchat auf sich hat und ich erkläre es ihnen. Man hat herausgefunden, dass die Menschen als Nomaden friedlich waren; Kriege wurden erst erfunden, als die Menschen sesshaft wurden. Da fing dann Ackerbau an und es waren die Frauen, die sich damit auskannten. Und dass Frauen keinen Krieg führen, ist ein Märchen, die Geschichte mit den Amazonen ist als Relikt bis heute übrig geblieben.
Als er mich fragt, wieso ich mich für das Thema interessiere, gehe ich in meinen Mimik-Schrank, setze mein lockerstes Lächeln auf und sage im selbstverständlichsten Ton, den ich habe: Ich bin ein Mann, es ist normal, dass mich Frauen interessieren. Das klingt so entwaffnend naheliegend, dass es den Männern, die sich nicht für das Matriarchat interessieren, impliziert, dass sie sich nicht genug für Frauen interessieren. Und kein Hetero-Mann will sich sagen lassen, dass er sich nicht für Frauen interessiert.
Ich steige ins Jacuzzi, der in Deutschland Whirlpool genannt wird und genieße die Luftbläschen an meiner Haut, die mir ein breites Lächeln ins Gesicht zaubern. Es dauert keine Minute, schon verschwimmt die Welt um mich herum zu einem bedeutungslosen Nichts. Das ist so ein Moment, da könnte ich sogar die vierteljährlich wiederkehrende wohlmeinende „wann finden Sie endlich eine liebevolle Frau, dass sie heiraten können?“-Frage meiner Hausordnungs-Putzfrau ertragen, ohne das brennende Bedürfnis zu haben, ihr ein „wenn Sie abnehmen“ wie eine Torte ins Gesicht zu werfen. Das Entwürdigende daran ist, dass ich mir jedesmal denke, „ich hatte gehofft, heute“. In einem Jacuzzi ist alles besser. Hier drin lächelt man sogar beim Anblick des Gehaltszettels; ich möchte Petrus’ Urteil über mein Leben in einem Jacuzzi übermittelt bekommen, die Lungenkrebsdiagnose sowieso.
Ich muss an Katrin denken, die mich liebt. Das tut sie schon seit Längerem, gesagt hat sie es mir vor einer Woche. Ich habe versucht, es ihr auszutreiben, ihr Dinge von mir erzählt, die Frauen nicht mögen. Sie antwortete: „Ich will dich nicht verändern, nur lieben.“
Als ich zurückkomme, ist Hannah schon da, sie erzählt begeistert vom Tauchlehrer und dann gehen wir essen. Wir essen jetzt zum dritten Mal in Folge Spaghetti Gozitana, diesmal wieder bei dem ersten Restaurant; hier schmecken sie am Besten. Kapern, Oliven und noch mehr. Hannah träufelt noch etwas fein geriebenen Ingwer drauf. Ich könnte glatt aufstehen, zum Koch laufen und ihn bitten, mir das Rezept zu geben, dafür würde ich jegliche Moral und Neigung ignorieren. Man möge mich nicht falsch verstehen, aber sie schmecken hier so gut, dass sie einen in eine andere sinnliche Dimension katapultieren.
Ich sehe mir den Ober an und hierbei insbesondere seinen Minihintern. Also, das werde ich an Frauen nie verstehen, wie kann man so was nur schön finden? Ich weiß, die meisten Frauen haben ein Problem damit, aber ich möchte hiermit eine Hymne auf das weibliche Becken intonieren. Frau muss in der Mitte wie Frau aussehen. Punktum. Ich habe das Foto der Frau, die mich liebt und ihr Foto ein paar Freunden gezeigt und alle sagten, dass jene, die in mich verliebt ist, schöner sei. Frauen und Männer und dann habe ich gefragt, warum. Und als Antwort kam – weil sie schlanker ist.
Vierter Tag. Freitag. Immer noch grauenhaft geschlafen. Geträumt habe ich, dass ich mit den Peanuts auf einem Piratenschiff war. Als Flagge dient Schröders Schmusedecke, der verzweifelt versucht, eine fürchterlich keifende geraubte Prinzessin, gespielt von Lucie, in den Griff zu kriegen. Charlie Brown stand als einäugiger Kapitän hinter dem Steuerruder, auf seiner Schulter Woodstock, der Vogel von Snoopy, der selber kläffend hinter mir stand und mich auf die Planke drängte, damit ich ins Wasser springe.
Heute bekämpfe ich das Rauchen mit Schokolade. Vollherb, mit ganz viel Kakao. Soll glücklich machen. Jede Nation, die etwas auf sich hält, hat ihre eigenen Süßigkeiten und ihren eigenen Alkohol. Frustwegpuster halt. Wenn Frauen Kummer haben, essen sie Süßes, Männer trinken Alkohol. Heute habe ich das „Sorry“ abgestellt, wenn ich jemanden anspreche, es heißt nämlich „Excuse me“. Sorry heißt nicht „Entschuldigung“, es heißt „Es tut mir leid“. Sprache, denke ich mir, während ich frühstücke. Das Mobiltelefon wird nur in Deutschland Handy genannt, in England heißt es „Mobile“ oder Amerikanisch „Cellphone“, kurz „Celly“. Die Malteser haben eine eigene Sprache, eine Mischung aus Italienisch und Arabisch. Aber die Zahlen sprechen sie Englisch aus. Hat sich wegen der Touristen eingebürgert. Wie die Griechen, die den Sirtaki aus dem Film „Alexis Sorbas“ übernommen haben, einfach so, für die Touristen. Der Tanz wurde extra für den Film erfunden und die Griechen haben sich gedacht; naja, wenn das Touris bringt, warum nicht?!
Die Alkohol-Spezialität hier ist Bier, nennt sich Cisk, sprich Tschisck, und schmeckt lecker; da merkt man die britische Kolonialzeit.
Die Süßwaren-Spezialität auf Gozo ist Nougat, ähnlich dem türkischen Nougat, hier wird er in stattlichen 150-Gramm-Barren verkauft. Ich esse umso mehr, je mehr ich das Bedürfnis nach Nikotin verspüre, aber ich habe nur 2 gekauft und so muss ich auf Eis umsteigen, dass ich jetzt auf dem Weg zum Strand verputze. Am Ende sind es drei Eis und ich kriege Bauchschmerzen. Die Zigarette schmeckt nach Vanille.
Am Abend waren wir essen, sie erzählte begeistert vom Tauchgebiet. Sie will mich für Scuba-Diving, das ist Tauchen im Pool, begeistern. Ich winke entschieden ab, da gäbe es nichts zu sehen. Ich gebe doch keine 25 Euro aus, um Kacheln zu sehen!
Die Gozitanerinnen selber versprechen und halten nichts. Hier hat der Vatikan die Hand drauf; es ist hier absolut nicht üblich, vor der Verlobung sexuelle Aktivitäten das Jungfernhäutchen betreffend zu entwickeln.
Die Männer auf Gozo reagieren auf die einheimischen Mädels dadurch, dass sie recht beachtliche Energien bezüglich den Touristinnen entwickeln. Nicht plump, eher äußerst bemühend. Wir sind in der Disco und sie ist gerade das Objekt der Begierde. Die Disco heißt „La Grotta“ befindet auf der anderen Seite der Insel, in Xlendi, sprich Schlendi, und liegt traumhaft an einer Felsbucht in selbstmordgefährlicher Höhe; der Innenbereich ist sogar in den Felsen gehauen. Die Örtlichkeit ist der Traum, was ich mir gerade anschauen muss, ist hingegen der Horror eines jeden Verliebten. Hera Lind in der Verfilmung eines japanischen Autorenfilmers mit Turkish Pop als musikalische Untermalung wäre leichter zu ertragen.
Ich habe Phantasien, zu der brusthohen Begrenzung zu laufen und dann darüber hinaus elegant die Klippe herunter zu springen, aber es würde sowieso nicht klappen. Immer, wenn ich versuche, cool zu sein, geht das in die Hose. Womöglich ist dahinter noch nicht die Klippe und ich lande auf dem Felsen. Es gibt nichts Entwürdigenderes, als einen heroischen Liebeskummer-Selbstmord perfekt zu inszenieren, nur um hinterher von der Frau, wegen der man es tun wollte, seine Schürfwunden verarztet zu bekommen.
Schließlich fahren wir zurück. Auf Gozo kostet jede Taxifahrt, egal wie weit, vier maltesische Lira; man kann übrigens auch Pfund sagen; was ziemlich genau 10 Euro sind; in der Nacht sind es jedoch fünf Pfund.
Auf der Heimfahrt denke an Katrin. Sie hat gesagt, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der man, als Mann oder als Frau, eher Sex als Liebe bekommt und dass das eine Herausforderung wäre. Eine Herausforderung wozu? Sich zu fragen, was wirklich wichtig ist. Sich zu fragen, was wirklich von Bedeutung ist. Ich weiß, sie bezieht das nicht auf das Vorangesagte und schweige. Sie schweigt auch. Reden kann man mit vielen, schweigen nur mit wenigen.
Fünfter Tag. Samstag. Wieder mies geschlafen. Ich war Donald Duck auf einer Modenschau. Ich war Mannequin und musste die Kleider von Dagobert Duck auf dem Catwalk tragen, während Tick, Trick und Track Fotos schossen und Daisy mit Gustav Gans in der ersten Reihe wie im Kino wild rumknutschte. Und kaum komme ich nach hinten, schon werde ich von den Panzerknackern ausgezogen, Micky Maus zieht mir die neuen Kleider an, Daniel Düsentrieb korrigiert meinen Lidschatten, Goofy gibt mir einen Klaps auf den Hintern, während ich die ganze Zeit von Dagobert angemault werde, männlicher zu sein und dann wieder raus, wo ich zu der grauenhaften Szenerie vor mir lächeln muss. Und als ich mich auf dem Catwalk wieder umdrehe, sehe ich Klara, die Kuh, die mich mit der Stimme meiner Hausordnungs-Putzfrau fragt: „Wann werden Sie endlich den Mut haben, es ihr zu sagen?“
Sie geht ein letztes Mal zum Tauchen; man darf 20 Stunden vor dem Fliegen nicht tauchen, der Stickstoff im Blut muss abgebaut werden.
Das habe ich nun davon. Ich habe mir einen Sonnenbrand geholt, und zwar auf dem Kopf. Nein, ich habe seit 3 Jahren keinen Urlaub mehr in südlichen Ländern gemacht und ja, es war mir peinlich, die Glatze einzuschmieren. Ich betrachte gedanklich die Gozitaner und kann keinen entdecken, der mit Haarausfall zu kämpfen hat. Ist das die Ernährung oder sind das die Gene?
Heute werde ich die Sucht mit Sport bekämpfen. Das Hotel hat ein eigenes Fitnesscenter und darin werde ich mich austoben. Davor gehe ich zum Supermarkt, der allen Ernstes Jumbo-Mini-Market heißt, obwohl er gerade mal 5 Meter breit und 10 Meter lang ist. Aber er führt 3 Sorten Seife, die gekonnt übereinander gestapelt sind, was dem vordergründigen Widerspruch eine Erklärung abringt. Er hat auch auf 30 Quadratzentimeter Fläche ganze sechs Sorten Cornflakes, Minipackungen, von jeder genau zwei. Ein Wunder an Wirtschaftlichkeit; neugierig schaue ich nach, ob man hier die Tampons oder die Taschentücher einzeln kauft. Ganz ehrlich, für solche Läden wird es verzwickt, wenn ein Hersteller auf die Idee kommt, eine Übergrößenpackung herauszugeben, so in der Art von „25% mehr zum gleichen Preis“. Dann hat ein Stapel Überhang und die gesamte Ordnung bricht zusammen.
Ich kaufe Wasser und gehe ins Fitnesscenter. Welch eine Überraschung, es ist eng hier. Es ist gerade mal so groß wie mein Wohnzimmer. Das Fitnesscenter, das ich in Deutschland besuche, oder besser, wo ich eingeschrieben bin, ist so groß, dass ich auf dem Laufband meine Brille aufsetzen muss, um motiviert zu sein; hier sehe ich die Touristin mit den schönen leggingsgeformten Beinen auch ohne. Apropos Größe. Die Gozitaner sind in der allermeisten Fällen recht klein und leider machen sie die Betten für sich selber; ich rage 183 cm in den Himmel und meine Füße 5 cm aus dem Bett heraus, das aber hervorragend gepolstert ist.
Als ich wieder hochgehe und auf dem Balkon eine rauche, schmeckt die Zigarette nach Schweiß. Ich lasse mir ein Bad ein und als ich ins warme Wasser steige, ärgere ich mich nicht weiter darüber, dass mir die Knie auf einmal sehr nahe stehen. Was soll’s, ich weiß, ich hätte keine meiner fünf Freundinnen gekriegt, wenn ich fünf Zentimeter kleiner wäre. Na gut, ich hätte mindestens vier mehr kriegen können, wenn ich Nichtraucher wäre, aber ich bin’s nun mal nicht.
Ich lenke mich ab und denke wieder an Katrin. Ich habe sie gefragt, wie sie es aushalte. Sie hat mir die Geschichte von den Namensvettern erzählt. Es gab einen Namensvettern-Club in Deutschland bis weit in die 90er hinein. Sie haben Namen wie Rudolf Hess, Heinrich Himmler und sogar Adolf Hitler. Sie sind alle sehr alt. Und sie alle hatten zig Jahre mit demselben Problem zu kämpfen. Ich würde nicht mit einem solchen Namen nach Frankreich in Urlaub fahren. Und die Frauen erst. Welche Frau hat die Stärke, ihrer Familie zu sagen, sie werde eine Himmler, Frau von Heinrich Himmler? Aber dieser Club war sich darin einig, dass der Name den Menschen nicht macht. Es geht um Stolz im positivsten Sinn, es geht um die Achtung vor sich selbst. Ich habe sie verstanden und leider liebt sie mich deswegen noch mehr.
Als Hannah am Mittag wiederkommt, sagt sie mir, dass sie mit mir zum Strand gehen wird. Eine wunderbare Nachricht, wäre da nicht... Was mache ich jetzt?
Meine Hände zittern, als ich sie eincreme, ich wünsche mir eine Kippe, aber ich habe sie daheim gelassen, was Teil des Plans ist, denn ich fingiere Bauchschmerzen. Sie geht ins Wasser, ich höre einer Deutschen zu, die ihrer Freundin erzählt, dass sie dies und jenes an ihrem Freund nicht versteht. Die Wellen plätschern an den Felsstrand, das Meer auf Gozo beruhigt ungemein, ich könnte einen halben Tag lang in den ebenen Wasserhorizont schauen, einfach nur schauen und die Ruhe einatmen.
So weit kommt es nicht, wir gehen bereits nach zwei Stunden, weil Wind aufkommt, der Weg, dicht am Wasser, ist nass, ich beobachte ihren wunderschönen Rücken, rutsche aus und falle ins Wasser. Ich lasse die Sachen los und kämpfe um mein Leben. Eine Welle braust über mich hinweg und erstickt einen Hilfeschrei. Sie ruft mir zu, dass ich doch zum Ufer schwimmen soll, eine weitere Welle erstickt jedoch meine Antwort. Sie sieht meine hilflosen Versuche, springt ins Wasser und zieht mich an der Hand zum Ufer. Ich huste ein paar Mal das Salzwasser aus meiner Lunge, ich wische mich ab und sie fragt mich, warum ich denn mit ihr nach Gozo gefahren sei, wenn nicht schwimmen könne. „Weil ich wollte, dass du glücklich bist“, antworte ich. Sie zieht mich zu sich, sie küsst mich auf den Mund und ich weiß schlagartig, womit ich meine Nikotinsucht bekämpfen kann.
Wir küssen uns. Am Ende sind er drei Küsse und die Zigarette schmeckt nach ihr. Am Abend gehen wir essen und ich erzähle begeistert von ihren wundervollen Küssen. Sie schweigt. Beim Spaghetti Gozitana sagt sie mir, dass das vorhin nur spontan war, dass ich doch wisse, wie es um ihre Gefühle stehe und dass es ihr leid täte. Ich drehe an den Spaghetti und sage, dass sich solche Dinge ändern könnten. Sie sagt, dass wir uns jetzt fünf Monate kennen und sie wisse, dass sie sich nicht in mich verlieben werde. Ich drehe an den Spaghetti und sage, „Sag niemals nie!“ Sie sieht mich mit ihren wunderschönen brillantschwarzen Augen an und sagt einfach nur sanft meinen Namen. Ich höre auf, an den Spaghetti zu drehen, sehe mir den Riesen-Batzen an und frage mich, wie ich das alles schlucken soll.
Sie ist ins Bett, ich sitze an der Bar und rede mit der Bedienung. Ich war selber mal Nachtportier, wir Hotelpersonal verstehen uns. Wenn man auf Malta mit Erwachsenen reden will, ist es ratsam, einen Christen zu fingieren; die sind hier sehr gläubig. Ich muss mich nicht verstellen, ich glaube auch. Gott ist groß und heute hat er mir mit seiner gesamten Machtfülle die Fresse eingeschlagen. Als ich auf den Balkon gehe, schmeckt die Zigarette nach gar nichts.
Ich habe Katrin vor zwei Wochen gesagt, dass es nun genug sei, sie solle sich in jemanden verlieben, der sie auch liebt. Da hat sie mit einem Spruch über den Kommunismus geantwortet: Es ist leicht für den Kommunismus zu sterben, aber schwer, ihn zu leben. Es ist leicht, sich nach einer Abfuhr abzuwenden, es ist schwer, die Liebe, so wie sie eigentlich gemeint ist, zu leben. Obschon sie Recht hatte, widersprach ich; so einfach ist das Abwenden auch nicht.
Sechster Tag. Ich habe wundervoll geschlafen, ich träumte, ich war Hägar und wir zogen mit dem Drachenboot aus, um Deutschland auszurauben. An den Rudern Lucky Luke, die Daltons, die Peanuts, das Dorf von Asterix und Obelix und halb Entenhausen. Ich gehe zur Reling, breite meine Arme aus und schreie so laut ich kann: „Ich bin der König! Der König der Versager!“
Ich will das Rauchen nicht mehr bekämpfen, ich will mein Leben bekämpfen. Ich hatte die Schwimmabsicht gut fingiert, ich habe ihr erzählt, dass ich schnorchle und mir sogar eine Brille gekauft. Jetzt beschließe ich, doch schnorcheln zu gehen. Von meinem letzten Geld kaufe ich eine Matratze, gehe zum Strand, blase sie auf und lasse sie zu Wasser gleiten. Mein Herz schlägt bis zum Hals, jetzt spüre ich keinen Schmerz mehr, jetzt spüre ich nur noch Angst. Ich spucke in die Brille und verteile sie gleichmäßig. Ich hatte mein Fingieren gut vorbereitet, ich habe mir sagen lassen, dass man gegen das Beschlagen innen Spucke auftragen muss. Ein paar Mal atme ich durch den Schnorchel, dann gehe ich in die Knie und lege mich quer auf die Matratze.
Die Brille setzt im Wasser auf und ich japse nach Luft. Ich habe gehört, dass man in der Bauchlage ruhiger atmet, das nutzen die Apnoe-Taucher aus. Aber mein Atem beruhigt sich nicht, ich bin immer noch aufgeregt. Ich sehe den Grund, die Wellenkämme teilen die Strahlen in einzelne goldene Fäden, die den Boden erhellen. Die Wellen um meinen Kopf herum blubbern aufgeregt, die Gräser am Boden rührt das kaum. Unten in der Tiefe findet Ruhe statt und ich verstehe zum ersten Mal das Bild der Seele.
In tiefem Staunen versunken betrachte ich atemlos den Boden, jetzt atme ich tief und ruhig.
Ich sehe in zwanzig Zentimeter Entfernung eine Ansammlung gelb-schwarz-gestreifter Fische, die sich in einer flach-aufrechten Rautenanordnung treiben lassen und verstehe Hannahs Begriff von „Tapetenfischen“. Ich paddle etwas weiter auf etwas Weißes zu und es ist eine wunderschöne, durchsichtige Qualle, die so elegant und anmutig im Wasser treibt, wie es sonst nur Frauen im Auge verliebter Männer tun; einfach herrlich. Ein Schwarm winziger brauner Fische schwimmt auf mich zu und ich gluckse vor Begeisterung. Ein besonders Neugieriger schwimmt noch näher auf mich zu und sieht mich von der Seite an. Er ist so wunderschön… Hannah, sage ich zu dem Fisch, ich verstehe. Du kannst gehen, ich lasse Dich ziehen. Ich werde von nun an wieder die große Liebe suchen und ich werde sie finden. Ich rauche eine und überdenke meinen Master-Plan. Ich werde mein Programmierer-Dasein aufgeben und ein Studium anfangen.
Mit dieser Erinnerung und dieser Entscheidung im Bauch gehe ich ins Hotel, ich packe die Sachen und wir werden vom Taxifahrer abgeholt. Der Fahrer erzählt, dass es auf Malta ca. 40 Ferraris gibt, die zwar nicht regelmäßig, weil es die Straßen nicht zulassen; aber zum Vorzeigen des Reichtums herumkutschiert werden. Wir haben Radio gehört und es kam Ronan Keating „If tomorrow never comes“. Ich habe mitgesummt; „Falls der Morgen niemals kommt, wird sie nie wissen, wie sehr ich sie geliebt habe.“ Und dann auf einmal summte der Fahrer mit und ich habe schlagartig aufgehört. Mir wurde klar, das ist der allerletzte Tag der Weltgeschichte, den ich ganz mit ihr verbringen werde. Ich habe mich nie zuvor so einsam gefühlt.
Ich dachte, meine Seele wäre wie die Alpen, jetzt aber war sie nur noch wie das winzige Schnitzel – und sie isst kein Fleisch. Ich dachte, meine Liebe wäre eine Befreiung, aber es war nur eine Utopie.
Im Flugzeug sehe ich wieder nach unten. Sehe Menschen, sehe Sorgen, sehe Ängste, sehe Liebeskummer. Sehe Menschen wie ich, die nicht aufhören können zu denken. Immer wieder zu wälzen und ich will nie wieder herunterkommen.
Daheim habe ich mir eine Knolle Ingwer gekauft. Mit schmeckt das Zeug nicht. Ich bin auch nicht wirklich der Meinung, dass man zu 100 Prozent das gleiche essen muss wie der Partner. Meine Zöliakie-Ex, die mit der Gluten-Unverträglichkeit, die hat auch immer was anderes gegessen. Und selbst wenn man das gleiche isst, einige sagen, am Anfang würde ich das Ingwer dazu vor Liebe essen und nach 10 Jahren würde es mir zum Hals raushängen. Das mag schon sein, aber wenn man in der Liebe auf Kleinigkeiten achtgibt und keine Unstimmigkeiten riskiert, stirbt man allein. In einer Beziehung mit Hannah wäre Ingwer ein Ausweg-Element. Ausweg-Elemente sind in einer Beziehung die, wenn sie mich z. B. verlassen würde, würde ich ab sofort ohne Ingwer essen und es wäre ein Weg zum Neuanfang. Wenn man aber zu wenig Ausweg-Elemente in einer Beziehung hat und nur Eintritt-Elemente, dann kann das am Ende sehr problematisch werden. Man stelle sich nur vor, dass beide den Kaffee auf die gleiche Art lieben. Dann würde man sich dran gewöhnen, jedes Mal zwei Tassen zuzubereiten. Und im Falle einer Trennung bei jedem nun einzelnen Kaffee an die Ex denken. Schrecklich.
Als ich nach Hause kam, sagte Katrin, dass sie verstanden habe und sie werde sich einen Neuen suchen.
Gozo heilt. Manches. Manchmal.