Читать книгу Hoffnungsnarben - Paula Bauer - Страница 10
ОглавлениеAnorexie
Ich war immer dünn. Sehr dünn. Untergewichtig. Schon als kleines Kind. Obwohl ich viel gegessen habe. Sehr viel. Schokolade, Donuts, Pommes, Pizza. Ich habe Essen geliebt. Und konnte nicht zunehmen. Im Grundschulalter wollte ich unbedingt zunehmen, weil ich mich in meinem knochigen Körper unwohl gefühlt habe. Ich aß und aß, aber an meinem Gewicht änderte sich nichts. Trotz meines starken Untergewichts war ich kerngesund. Beim Tanzen erbrachte ich stets super Leistungen und sprühte vor Energie. Ich wurde oft gelobt und tanzte fast immer ganz vorne. Ich wurde immer besser, baute immer mehr Muskeln auf. Als zehnjähriges Mädchen war ich komplett durchtrainiert und sehr ausdauernd. Trotzdem gefiel mir mein Körper nicht. Ich wollte eine normale Figur haben und nicht immer „Steckenbein“ genannt werden. Auf der Bühne trugen wir beim Tanzen alle die gleichen Kostüme. Mich erkannte man immer an meinen extrem dünnen Beinen. Wenn ich mir die alten Fotos heute ansehe, dann bin ich schockiert. Jahrelang war ich ungewollt untergewichtig und unzufrieden damit. Was ist passiert, dass ich mir plötzlich das Untergewicht wünschte?
Mit zwölf Jahren hörte ich mit dem Garde- und Showtanz aufgrund meiner Kopfschmerzen auf. Gleichzeitig kam ich langsam in die Pubertät, bekam zum ersten Mal meine Tage. Mein Körper veränderte sich, ich nahm etwas zu. Damit kam ich nicht klar. Plötzlich fühlte ich mich noch unwohler in meinem Körper und wollte wieder dünner sein. Ich habe davon geträumt Model zu werden und wusste, dass dünne Frauen besonders gut ankamen. Dieses Schönheitsideal sorgte dafür, dass ich mich zu dick fühlte.
Meine Eltern warnten mich oft davor, dass ich dick werden würde, wenn ich weiterhin so viele Süßigkeiten esse. Ich aß tatsächlich oft Süßes und meine Ernährung war auch da schon recht ungesund. Die Warnungen meiner Eltern waren immer in meinem Hinterkopf, wenn ich mal wieder Kekse gegessen habe oder eine Tafel Schokolade verschlungen habe. Durch meine chronischen Kopfschmerzen hatte ich das Gefühl die Kontrolle über meinen Körper komplett verloren zu haben. Ich konnte nicht kontrollieren, wann ich zusammenbrach oder den Schmerzen hilflos ausgeliefert war. Ich dachte mir, dass es doch etwas geben müsste, das ich kontrollieren konnte. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: ich konnte doch mein Gewicht kontrollieren! Ich hatte die Macht die Zahl auf der Waage zu kontrollieren. Und so fing es mit 13 Jahren langsam an. Ich aß weniger. Meine Portionen wurden immer kleiner. Ich verschenkte mein Pausenbrot, teilweise schmiss ich es in den Müll. Die ersten Kilos purzelten. Anfangs war ich damit schon zufrieden. Aber nach ein paar Monaten fühlte ich mich auch so unwohl und beschloss noch etwas abzunehmen. Es klappte nicht so gut wie beim ersten Mal und das frustrierte mich. Mit 14 Jahren übergab ich mich erstmals absichtlich. Meine Eltern waren nicht zu Hause und ich hing mit Tränen in den Augen über der Kloschüssel. Das absichtliche Erbrechen wurde zur Gewohnheit. Meistens ging ich in der Schule während des Unterrichts auf die Toilette, um mich zu übergeben. Schließlich sollte es niemand mitbekommen. An meinem Gewicht änderte auch das nichts. Ich kaufte mir im Drogeriemarkt Diätpillen und schluckte täglich welche davon. Das Abendessen ließ ich schon länger komplett weg und auch das Mittagessen fiel oft aus, da ich mehrmals in der Woche lange Schule hatte. Ich frühstückte also nur noch. Und nahm natürlich deutlich ab. Bis ins lebensbedrohliche Untergewicht. Ich war zu schwach, um die Brandschutztüren in der Schule aufzudrücken, mir war ständig schwindelig und meine Periode blieb aus. Mir war immer kalt und Bauchkrämpfe plagten mich. Ich litt unter Haarausfall und brüchigen Fingernägeln. Dennoch waren meine Blutwerte noch in Ordnung, sodass niemand etwas unternahm. Manche Lehrer sprachen mich an, doch ich stritt natürlich ab, dass ich ein Problem hatte. Mir ging es gar nicht gut. Ich hasste meinen Körper und weinte mich jede Nacht in den Schlaf. Jeder Blick in den Spiegel tat weh. Ich trieb mich auf Instagram auf Seiten rum, die Bilder von abgemagerten jungen Frauen posteten. Ich lud auch ein eigenes Foto hoch, auf dem ich meinen dürren Körper zeigte. Und bekam viele Komplimente dafür. Ich habe zu dem Zeitpunkt nicht realisiert, wie krank das ist. Ich war in meiner Magersucht gefangen. Glücklicherweise erkannte ich schnell, dass mein dünner Körper mich auch nicht glücklich macht. Mir wurde klar, dass ich etwas ändern musste. Ich fing wieder an regelmäßig zu essen, schmiss die übrigen Pillen weg und hörte auf mich zu übergeben. Sehr schnell nahm ich zu und war bald fast im Normalgewicht. Ich kam erstaunlich gut damit klar und aß wieder normal. Die Essstörung war über ein Jahr lang gar kein Thema. Ich dachte, dass ich sie überwunden hätte.
Mit 16 Jahren wurde ich zum ersten Mal in eine psychosomatische Klinik eingewiesen. Dort sah ich jede Menge magersüchtige Mädchen im starken Untergewicht und plötzlich wollte ich selbst auch wieder so dünn sein. Ich fand diese dürren Körper so schön. Ich verweigerte die Mahlzeiten und log meine Therapeutin an. Diese wollte mich auf eine psychiatrische Station mit dem Behandlungsschwerpunkt Essstörungen verlegen. Dem stimmten meine Eltern jedoch nicht zu und so blieb ich in der Psychosomatik. Ich musste vor den Augen der Betreuer essen und trinken und nach den Mahlzeiten dreißig Minuten sitzen bleiben. Ich wurde zweimal in der Woche in Unterwäsche gewogen. Natürlich habe ich geschummelt, indem ich vorher nicht auf die Toilette gegangen bin und literweise Wasser getrunken habe. Mein Gewicht war grenzwertig, aber nicht gefährlich niedrig. Mitte Oktober 2016 wurde ich nach zehn Wochen auf der psychosomatischen Station entlassen.
Wenig später wurde ich erstmals in der geschlossenen Psychiatrie aufgenommen, wo ich 18 Wochen am Stück verbrachte. Auch dort wurde ich ständig gewogen und musste unter Aufsicht essen. Mein Gewicht schwankte, denn manchmal verweigerte ich die Mahlzeiten. Mir wurde mit einer Magensonde gedroht. Davor hatte ich panische Angst, weshalb ich aß, was mir vorgesetzt wurde. Es fiel mir unglaublich schwer und machte mich fertig, doch die Angst vor der Sonde trieb mich an. Ich nahm acht Kilo zu. Dann wurde ich entlassen und an eine Tagesklinik überwiesen. Dort verweigerte ich fast jeden Tag das Mittagessen, hielt allerdings mein Gewicht. Nach sechs Wochen Tagesklinik kam ich wieder in die geschlossene Psychiatrie. Diesmal blieb ich für zehn Wochen und nahm noch zwei Kilo zu. Nach zwei Wochen in einer Wohngruppe verbrachte ich weitere zehn Wochen in der geschlossenen Psychiatrie, in denen ich mein Gewicht hielt. Nach der Entlassung ging es steil bergab. Mittlerweile war ich 17 Jahre alt. In der Wohngruppe ging es mir gar nicht gut und ich hungerte wieder. Auch habe ich mich wieder absichtlich übergeben. Ich kaufte mir wieder Diätpillen und benutzte erstmals Abführmittel.
So nahm ich in kurzer Zeit wieder acht Kilo ab. Die Betreuer machten sich Sorgen und drohten mir mit einer erneuten Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Sie wogen mich jede Woche und setzten mir eine Gewichtsgrenze, die ich nicht unterschreiten durfte. Ich schaffte es mein Gewicht zu halten und kam nach einigen Wochen vom Erbrechen und den Abführmitteln weg. Mit 18 Jahren zog ich wieder zu meiner Familie und es ging mir zu Hause deutlich besser als in der Wohngruppe. Von 2018 bis Anfang 2020 hielt ich mein Gewicht und aß einigermaßen normal.
Dann kam der Abistress. Alles wuchs mir über den Kopf und auf der verzweifelten Suche nach Kontrolle aß ich wieder viel weniger. Innerhalb von vier Wochen nahm ich fünf Kilo ab. Nun war ich wieder im deutlichen Untergewicht und konnte mich kaum noch konzentrieren. Dann schlossen die Schulen aufgrund der Corona-Pandemie, was mir zugutekam. Bis Juli nahm ich wieder zu, dann jedoch sofort wieder ab. Ich war total instabil und hoffnungslos. Zum Glück nahm ich im August wieder ein bisschen zu. Im November 2020 wurde ich wieder in einer psychosomatischen Klinik aufgenommen. Dort musste ich weitere zwei Kilo zunehmen, um den Mindest-BMI für die Behandlung zu erfüllen. Seitdem ist mein Gewicht stabil.
Ja, mein Gewicht ist wieder im grünen Bereich. Nein, ich bin nicht gesund. Die Gedanken sind immer noch die gleichen. Ich fühle mich trotzdem schlecht nach jeder Mahlzeit. Ich bin nicht geheilt. Im Folgenden werde ich auf einige der vielen Vorurteile eingehen, die das Thema Essstörungen leider auch in der heutigen Zeit noch umgeben…
„Essstörung = Magersucht“
Nein! Denn es gibt neben der Anorexie noch einige andere Krankheitsbilder, die zu den Essstörungen zählen. Da gibt es zum Beispiel Bulimie, Binge Eating und das Pica-Syndrom.
„Alle Magersüchtigen sind sehr dünn.“
Das ist mit Sicherheit eines der am weitesten verbreiteten Vorurteile. Es herrscht leider immer noch das allgemeine Bild der abgemagerten Frau, das für die meisten Menschen die Magersucht darstellt. Dabei sind viele Betroffene im Normal- oder Übergewicht. Dennoch müssen sie ernst genommen werden, denn diese Menschen leiden genauso wie jene im Untergewicht. Die Magersucht ist eine psychische Krankheit, sie spielt sich im Kopf ab. Der Gewichtsverlust ist nur eines der vielen Symptome dieses Krankheitsbildes. Wenn jemand nur einige der für die Diagnose einer Anorexie geforderten Symptome erfüllt, dann wird in der Regel eine atypische Anorexie diagnostiziert. Viele Menschen mit dieser Diagnose sind im Normal- oder Übergewicht. Trotzdem können sie an den Folgen ihrer Erkrankung sterben, das Gewicht sagt nichts über die Intensität der Essstörung aus. Ich möchte, dass die Menschen endlich verstehen, dass jede Essstörung gefährlich ist - egal, ob man jemandem diese ansieht oder nicht!
„Nur Magersucht ist tödlich.“
Falsch! Auch Bulimie und Binge Eating können Herzrhythmusstörungen verursachen und dadurch zum Tod führen. Auch das Pica-Syndrom kann tödlich enden, weil sich Betroffene teilweise Infektionen einfangen oder gefährliche Gegenstände schlucken.
„Magersüchtige hassen Essen.“
Das mag auf einige Betroffene vielleicht zutreffen, aber definitiv nicht auf alle. Ich kenne viele Magersüchtige, die sich nicht nur gedanklich, sondern auch tatsächlich den ganzen Tag aktiv mit Essen beschäftigen, indem sie ständig für Freunde und Familie kochen oder backen. Vielen Betroffenen schmeckt Essen grundsätzlich auch, sie können es bloß aus verschiedensten Gründen nicht essen und schon gar nicht genießen.
„Magersüchtige essen gar nichts.“
Wenn das so wäre, dann wäre die Todesrate wohl noch deutlich höher als sie ohnehin schon ist. Ich kenne Betroffene, die vier Mahlzeiten am Tag essen - jedoch in winzigen Portionen und kalorienarm. Die Leute sind immer so schockiert, wenn ich auf einer Geburtstagsfeier plötzlich Pizza esse. Dann bekomme ich oft Kommentare wie „Ich dachte du wärst magersüchtig“ zu hören. Natürlich wirkt es komisch, dass ich als Magersüchtige in dieser Situation so viele Kalorien zu mir nehme, aber niemand weiß, dass ich dafür den ganzen nächsten Tag faste oder danach ein Workout nach dem anderen mache.
„Alle Magersüchtige haben einen Bewegungsdrang.“
Viele Betroffene, die ich kenne, sowie ich selbst haben einen starken Bewegungsdrang. In meiner schlimmsten Zeit bin ich stundenlang durch die Gegend gelaufen, um mein viel zu hohes Schrittziel zu erreichen. Das heißt allerdings nicht, dass es allen Betroffenen so geht. In Kliniken habe ich Magersüchtige kennengelernt, bei denen das Thema Bewegung gar keine Rolle spielt.
„Social Media verursacht Essstörungen.“
Ja, die extremen Schönheitsideale können bei der Entstehung einer Essstörung eine Rolle spielen. Ich kenne jedoch niemanden, bei dem das der einzige Auslöser ist. Bei einer Essstörung geht es um so viel mehr als nur die Figur oder die Zahl auf der Waage.
Es geht nicht selten um die Verarbeitung schlimmer Ereignisse oder die eigenen Leistungsansprüche. In manchen Fällen kann die Magersucht sogar eine Freundin ersetzen. Natürlich vermitteln die sozialen Medien falsche Ideale und mit Sicherheit gibt es genug Menschen, die sich damit vergleichen und sich deswegen schlecht fühlen. Meiner Meinung nach reicht das aber nicht aus, um eine schwerwiegende Essstörung zu verursachen.
Meine Tipps gegen die Magersucht:
Sich kleine Ziele setzen! Ich habe wirklich mit kleinen Zielen angefangen. Zum Beispiel: an einem Tag der Woche nicht das gesetzte Schrittziel erreichen. Oder immer an einem Tag in der Woche ein süßes Teilchen vom Bäcker essen. Wenn man das mehrere Wochen hintereinander geschafft hat, dann kann man sein Schrittziel reduzieren oder einen Cheat-Day in die Woche integrieren. An diesen Zielen hangelt man sich Stück für Stück entlang. Jedes erreichte Ziel ist ein Erfolgserlebnis und motiviert zum Weitermachen!
Sich immer wieder daran erinnern, warum man die Essstörung besiegen will! Ich habe mir eine Liste mit Dingen angelegt, die ich unbedingt noch erleben möchte. Darauf stehen unter anderem Konzerte, Reisen und das Gründen einer eigenen Familie. Wenn man seine Ziele vor Augen hat, dann fällt es leichter gegen die Essstörung zu kämpfen. Schließlich hält sie einen von vielem ab.
Darüber sprechen! Für mich war das einer der wichtigsten Schritte. Ich habe mich zuerst einer Lehrerin anvertraut und es tat unglaublich gut endlich über mein Problem zu reden. Später habe ich auch mit meiner Therapeutin und meiner Mutter über meine Essstörung gesprochen. Das war auf jeden Fall eine gute Entscheidung. So konnte ich mir meine Last ein Stück weit von der Seele reden und gleichzeitig für mehr Verständnis sorgen. Denn ohne Aufklärung über die Krankheit verstehen sie Freunde und Verwandte oft nicht und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Sich professionelle Hilfe suchen! Die meisten Betroffenen schaffen es ohne professionelle Hilfe nicht aus der Essstörung rauszukommen. Es ist nicht schwach sich Hilfe zu holen, sondern zeigt wahre Stärke. Wenn eine ambulante Therapie nicht ausreicht, dann kann man sich auch in stationäre Behandlung begeben. Wichtig ist aber, dass man die Hilfsangebote, die es gibt, auch in Anspruch nimmt und sich nicht davor scheut Neues auszuprobieren.
Sich ablenken! Ich weiß, dass die fiesen Gedanken sich aufdrängen und einem oft die Stimmung vermiesen. Gerade deshalb ist es so wichtig auch mal Abstand vom Thema Essstörung zu gewinnen. Ich schaffe das, indem ich etwas mit Freunden unternehme oder Musik höre und mitsinge. Ich bin sicher, dass jeder etwas finden kann, das ihm Spaß macht und von den Gedanken ablenkt.
Der wichtigste Schritt in Richtung Gesundheit ist jedoch noch immer der eigene Wille die Magersucht zu überwinden. Ohne die eigene Motivation zu kämpfen wird die Recovery wohl nicht funktionieren.