Читать книгу Die Heimat - Paul Keller - Страница 4

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Im Buchenhofe war ein Hühnchen ermordet worden. Der Verdacht lenkte sich auf Waldmann, den Dachshund, der nach der Tat flüchtig geworden war. Es war auch dem Schaffersohne Hannes, der sich sofort aufgemacht hatte, die Spuren des Mörders zu verfolgen, nicht gelungen, des Attentäters habhaft zu werden. „Der Gauner is ausgerückt“, meldete er niedergeschlagen dem Sohne seines Herrn, dem vierzehnjährigen Heinrich Raschdorf, der zu den Ferien daheim war. „Ich sag’ dir, a muss in a Fuchsloch gekrochen sein, sonst hätt’ ich ’n erwischt. Ich hab’ gesucht wie verrückt!“

„Wenn er Hunger haben wird, kommt er von selber nach Hause“, sagte voll Überlegung Heinrich, der Quartaner.

„Ja, und weisste was? Dann machen wir ’n Heidenulk! Wir machen Gericht! Du bist der Richter, und ich bin der Poliziste, und du verurteilst a Dackel, dass ihm der Poliziste fünfe aufs Leder haut, und dass a ihn mit der Schnauze a paarmal aufs tote Hühndel stampt, und dass a ihn ’ne Stunde in a Kohlschuppen sperrt. Gelt, Heinrich, das machste?“

„Ich werd’ mir’s überlegen“, antwortete in vornehmer Ruhe der Quartaner.

Diese Zurückhaltung schien dem lebhaften Bauernburschen nicht zu gefallen. Er sann über etwas anderes nach.

Nicht lange, so hatte er’s.

„Ja, und weisste was, Heinrich? Das Hühndel werden wir begraben. So ’n Begräbnis macht auch ’n riesigen Spass! Du machst a Pfarrer ...“

„Das ist mir schon zu kindisch, das hab’ ich früher gemacht“, erwiderte Heinrich.

„Na, hör mal, wenn du auch Quartaner bist, kannste doch noch ’n Pfarrer machen. Siehste, ich bin der Totengräber. Wir machen ’n Leichenzug, und ich setz’ mir Vaters Zylinder auf und geh so wackelig vorm Zug her, gerade wie der alte Lempert. Was Ulkigeres wie ’n Totengräber gibt’s nich. Na, und die Mädel sind doch och dabei, die Lene und die Lotte und die Liese. Die müssen flennen. Und wenn du die Rede hältst, müssen sie immer mehr flennen, und nachher lassen wir das Hühndel ins Grab, und die Mädel singen: ‚In der Blüte deiner Jahre‘. Na, wenn das nischt is ...!“

Der Quartaner überlegte. Die Beredsamkeit seines ländlichen Freundes beeinflusste ihn. Skrupel hatte er ja freilich. Seine „Kollegen“ in der Quarta würden so etwas „einfach dämlich“ gefunden haben. Also sagte er langsam und bedächtig.

„Eigentlich ist es kindisch! Aber dir zu Gefallen können wir’s ja noch einmal machen. Doch es ist das letzte Mal, Hannes, das sag ich dir. Und Vater und Mutter dürfen nichts wissen.“

„Die wissen sowieso nischt“, sagte Hannes. „Der ‚Herr‘ sitzt drüben beim Schräger, und die ‚Frau‘ hat ’n Kopfkrampf und liegt im Bette. Besser kann sich’s nich treffen.“

„Na, denn meinetwegen, Hannes!“

Hannes war von diesem Zugeständnis freudig berührt. Er hob einen dürren Stecken aus dem Garten auf, rannte ans Fenster des stattlichen Bauernhauses und klopfte dreimal feierlich an.

Der Kopf eines dunkeläugigen, bildhübschen Mädchens von etwa zwölf Jahren wurde sichtbar.

„Was is ’n los!“

Hannes senkte geheimnisvoll das Haupt und sagte mit der düsteren Stimme eines „Grabebitters“:

„Der Herr Raschdorf lässt schön grüssen, und a lässt bitten, dass die Jungfer Magdalene so freundlich sein täte und ’m toten Hühndel ’s letzte Ehrengeleite geben. Der Pfarr’ und die Schule gehn mit!“

„Macht ihr wirklich Begräbnis?“ fragte sie, nicht ohne Begeisterung.

„Natürlich, Lene“, antwortete der Leichenbitter und fiel aus der Rolle. „Es wird riesig ulkig. Heinrich is Pfarrer und ich Totengräber, und du musst das Hühndel in a Sarg legen. Auf ’m Kleiderschranke sind ja die Zigarrenkisten; da nimmste eine, und da haste die Leiche!“

Damit warf er dem Mädchen das tote Hühnchen, das er bisher in der Hand getragen hatte, aufs Fensterbrett, schlug sich selber mit dem „Grabebitterstöckel“ ein paarmal auf die Waden und rannte davon.

Der „Buchenkretscham“ war vom „Buchenhofe“, auf dem Heinrich und Magdalene die Kinder der Herrschaft waren, Hannes aber als Sohn des „Schaffers“ lebte, nur durch die Strasse getrennt, die von der Stadt her nach dem schlesischen Gebirgsdorfe führte. Früher waren beide Höfe zu einer grossen „Herrschaft“ vereinigt gewesen. Der letzte Besitzer war bankerott geworden, das Gut wurde zerstückt, einzelne Teile des Ackers wurden an Bauern des Dorfes verkauft; aus dem Rest der Felder und den Gebäuden aber entstanden zwei neue Besitztümer, immer noch sehr stattlichen Umfanges: der Buchenhof Hermann Raschdorfs und der Buchenkretscham des Julius Schräger.

Vor dem Kretscham machte Hannes vorsichtig halt. Er schlich an ein Fenster der Gaststube und lugte vorsichtig durch die Scheiben. Die Ausschau befriedigte ihn. Sein „Herr“ und Schräger, der Gastwirt, sassen beisammen und sprachen eifrig miteinander. Diese beiden würden voraussichtlich die Trauerfeierlichkeit nicht stören. Also begab sich Hannes Reichel nach dem Hausflur. Er hatte Glück und traf die Schräger-Lotte, die er suchte.

Das etwas blasse Kind erschrak ein wenig, als es Hannes dreimal mit seinem Stecken auf den Arm klopfte und sagte: „Der Herr Raschdorf lässt schön grüssen, und ob die Jungfer Lotte vielleichte so freundlich sein täte und ’m toten Hühndel ’s letzte Ehrengeleite geben. Der Pfarr’ und die Schule gehn mit!“

„Was? Der Herr Raschdorf sitzt ja drin in unserer Stube. Und warum hauste mich denn so auf den Arm?“

Der Grabebitter fiel abermals aus der Rolle.

„Tumme Gans, der Herr Raschdorf is der Heinrich, und wenn du nich in ’ner halben Stunde drüben bist und mitmachst, da – da sollst du mal sehen!“

Das Mädchen wollte noch etwas fragen, aber Hannes „schmitzte“ bereits seine Waden und „sockte“ ab.

„Mit der Lotte is nischt los“, sagte er zu sich selbst.

„Sie is ’ne Tunte! Aber die Lene, die Lene!“

Und das Bürschlein blieb einen Moment stehen und verdrehte verliebt die Augen. Dann setzte es sich schnell wieder in Bewegung.

Im grellhellen Lichte des Julitags lag das Dorf langgestreckt drunten im Tal. Die Nordseite war durch einen waldigen Hügelzug abgeschlossen, an dessen Abhang, etwas abgesondert vom Dorfe, die Buchenhöfe lagen. Drüben die südliche Einrandung der Talmulde war viel niedriger, ganz mit gelben Saaten bestanden, über denen schwer und schwül die Sommersonne lag. Und all die vollen Ähren standen wie im heissen Fieber, in einem Fieber, welches das Leben zur Gluthitze bringt und doch die besten Säfte und Kräfte verkalkt, verzuckert und vermehlt, so dass nach dem heissen Rausch das Sterben kommt. Hannes rannte hinab ins Dorf. An ein paar Bauernhöfen lief er vorbei, dann kam eine grüne Aue, auf der ein kleines, nettes Haus stand.

Hannes reckte sich und klopfte mit seinem Stecken ans Fenster. Ein schmächtiges, blasses Mädel erschien.

„Der Herr Heinrich Raschdorf lässt schön grüssen, und ob die Jungfer Liese nicht so freundlich sein wollen mögen täte, ’m toten Hühndel ’s letzte Ehrengeleite zu geben. Der Pfarr’ und die Schule gehn mit!“

„Wenn is es denn? Wenn is es denn?“ fragte das Kind mit vielem Interesse. „Macht der Heinrich a Pfarrer?“

„Natürlich, Liese, macht a ’n Pfarrer.“

„Gelt, du, Hannes, der is aber gar nich ’n bissel stolz geworden, und a is doch schon Quartaner, hat doch jetzt immer Gamaschen an“, sagte das Mädchen bewundernd.

„Nu eben“, pflichtete Hannes bei. „Komm och balde nach, Liese; ’s geht gleich los! Ich muss bloss schnell ’s Grab graben und ’n Zylinder suchen. Wenn kommt ’n dein Vater heim?“

„Nu, a kommt balde! Ich müsste eigentlich ...“

„Gar nischt musste! Bloss kommen! Kannste ‚In der Blüte deiner Jahre‘ auswendig, Liese?“

„Bloss drei Verse.“

„Das langt! Bloss balde kommen! In einer reichlichen halben Stunde geht der Rummel los. – Nanu, wer is ’n das?“

Zehn Meter von Hannes entfernt lag auf der Aue Waldmann, der Dackel. Er lag mit der Schnauze auf der Erde, so dass seine langen Ohren den Boden berührten, und schielte mit höchst durchtriebenem Gesicht den Hannes an. „A is schon a paar Stunden hier“, berichtete Liese. „Ich hab’ ihm Milchsuppe gegeben.“

„Machste recht, Liese! So ein’m Lump, der ’s Hühndel totgebissen hat, Milchsuppe!“

„Ja, das wusst ich doch nicht, Hannes. Und ich denke, du bist froh, dass wir Begräbnis machen können.“

„Natürlich, Liese, bin ich froh. Wenn der Dackel ’s Hühndel nicht erbissen hätte, wer’s sehr schade; aber weil a ’s erbissen hat, kriegt a Hiebe. Das is nich mehr wie recht und billig. – Dackel, nu Dackerle, nu Waldmänndel, nu komm doch; siehste nich, dass ich Zucker hab’? Zucker, Waldmänndel! Na, da komm her, Dackel!“

Der Junge näherte sich Schritt für Schritt dem Hunde. Der lag lauernd auf der Erde und schnitt ein über die Massen schlaues Gesicht. Er lachte geradezu. Und als der Hannes auf drei Schritte herangekommen war, sprang der Dackel auf und lief davon, dass der Boden hinter ihm aufflog. In dreissig Meter Entfernung legte er sich wieder nieder und grinste seinen Verfolger mit überlegener Schadenfreude an. Der verbiss seinen Ärger und beschloss zunächst, seinen Stecken wegzuwerfen und beide Hände in die Taschen zu stecken, damit ersichtlich sei, dass er gar nichts Übles im Sinne führe. Dabei verdoppelte er die Kosenamen und führte alle Schätze der heimischen Speisekammer namentlich auf. Doch als er sich dem Verfolgten wieder auf drei Schritte genähert hatte, brachte dieser sein Leibliches abermals durch eine fabelhaft beschleunigte Flucht in Sicherheit.

Ein paar Knaben schleuderten müssig die Dorfstrasse herab. Als Hannes sie gewahrte, gab er die Verfolgung des Hundes auf und wandte sich den Jungen zu in der Absicht, neue Teilnehmer an dem Begräbnis zu werben. Seine ganze blühende Redekunst wandte er zu diesem Zweck auf.

Ohne Erfolg!

„Mit ’m Heinrich Raschdorf spiel’ ich nich“, sagte Ernst Riedel, „der is a stolzer Affe!“

„Ich geb’ mich auch nich mit ’m ab“, sagte ein zweiter.

„Und ich tät’ überhaupt von mein’m Vater Wichse kriegen, wenn ich uff a Buchenhof ging“, sagte der dritte.

Hannes war wütend.

„Das werd’ ich ’m Herrn Lehrer sagen, der is Heinrichs Grossvater“, sagte er, nachdem er sich kurz die Unmöglichkeit zu Gemüte geführt hatte, selbst die drei starken Bengel durchzuprügeln.

„Wenn a mir was tut“, sagte Ernst Riedel, „geht mein Vater zum Schulinspektor.“

„Und meiner och!“

Sie gingen. Hannes schaute ihnen eine Weile nach.

Dann spuckte er aus und schrie ihnen nach:

„Ochsen, Ochsen, Dorfochsen!“

*

In der Gaststube des Buchenkretschams war es ganz still. Nur zwei Männer sassen drin: Hermann Raschdorf, der Buchenbauer, und Julius Schräger, der Wirt. Man hörte, wie am Leimstengel auf dem Fensterbrett die gefangenen Fliegen zitterten. Die Sonne aber, die bei aller vielen Arbeit immer noch Zeit findet, ein wenig Spass zu treiben, wie alle grossen Leute, gestattete sich ein wunderliches Spiel. Sie beleuchtete die grossen Schnapsflaschen, die im Schanksims standen, und entlockte ihnen wunderbare Lichter; und wer da genau hinsah auf die flimmernden Flaschenleiber, konnte denken, er sähe lauter grosse Edelsteine. Da war der Benediktiner, dunkel wie ein Orthoklas, und daneben glänzte die Kirschflasche wie ein riesiger Rubin; der grüne Magenbitter kam sich sicherlich selber vor wie ein märchenhafter Smaragd, und der Eierkognak war so milchig hell und hatte so sanfte Mondscheinreflexe wie ein echter Opal. Der Branntwein aber, von echtem „Wasser und Feuer“, hielt sich ohne übermässige Bescheidenheit für einen Diamanten. Schade, dass so viele Menschen nicht darauf achten, wenn die Sonne einmal witzig ist. Auch die beiden Männer nicht.

„Die Hauptsache is, Hermann, dass du mir keine Schuld gibst“, sagte der Wirt.

„Aber du hast mir doch am meisten zugeredet, dass ich die verfluchten Aktien gekauft hab’!“ entgegnete der Buchenbauer.

„Zugeredet, was heisst zugeredet? Hätt’ ich dir zugeredet, wenn ich nich gedacht hätte, die Sache wär’ gut, was? Hätt’ ich das? Was? Selber hätt’ ich welche gekauft, wenn ich damals Geld liegen gehabt hätte.“

„Und ich? Hatt’ ich welches liegen? Hatt’ ich’s? Hab’ ich nich ’ne neue Hypothek aufgenommen? Fünftausend Taler, Mensch! Fünftausend Taler! Was das heissen will bei mir!“

Der Gastwirt sprang ärgerlich auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und trat ans Fenster.

„So is ’s! Wenn die Leute Pech haben, schieben sie’s immer auf andere.“

Er drehte sich rasch wieder um.

„Nu, Mensch, siehste das nich ein, dass ich’s bloss gut gemeint hab’? Dass ich bloss dein Bestes wollte? Was? Wenn die Sache richtig gegangen wär’ ...“

„Wenn! Man soll sich mit solchen Lausekerlen nicht einlassen. Herrgott, wenn wirklich, Schräger – es is ja – es is ja gar nich zum Ausdenken ...“

Der kleine, dicke Gastwirt legte dem grossen, stattlichen Bauern beschwichtigend die Hand auf die Schulter.

„Hermann! Was nutzt ’n das alles! Abwarten! Ruhig abwarten!“

„Abwarten! Du hast gut reden. Abwarten! Ich – ich – mir wird die Zeit zur Ewigkeit; drüben liegt mein Weib krank, sie weiss nichts von all dem, die Zinsen bin ich noch schuldig von Johanni – ich – ich ...“

„Weisste, Hermann, trink’n wir ’n Kirsch!“

„Ich mag nich, ich will nich, ich hab’ schon genug!“

„Trink’n wir halt ’n Kirsch! Das wirste mir doch nich abschlagen, Hermann!“

Der Wirt geht nach dem Schanksims, und der Rubin tauchte unter.

„Na also!“ sagte Schräger, indem er langsam mit den gefüllten Gläsern zurückkam. „Nur nich ’n Kopp verlieren! Wird ja noch alles werden. So da! Na, trink mal, Hermann! Auf dein Wohl!“

Da tönten Schritte draussen im Hausflur.

„Der Briefträger“, keuchte Raschdorf und stiess das gefüllte Glas um. Er stand auf und stützte sich schwer auf den Tisch. Ein Landbriefträger trat über die Schwelle, erhitzt und bestaubt.

„Guten Tag!“ sagte er; „’n Korn und a Glas Einfach ...“

„Is was an mich?“ fragte Raschdorf schwer beklommen. Auch der Wirt blickte aufs höchste gespannt nach der schwarzen Ledertasche. „Jawohl, Herr Raschdorf, da ist ein Brief!“

„Vom Rechtsanwalt“, sagte Raschdorf leise und langte über den Tisch.

„Komm mit ins Stübel, Hermann!“ riet der Wirt. Die beiden Männer gingen ins Wohnzimmer des Wirtes. Mit zitternden Fingern löste Hermann Raschdorf den Umschlag des Briefes.

„Setz dich, Hermann, setz dich!“ Der Wirt zwang ihn aufs Sofa.

Und Raschdorf las. Da wurde das Gesicht blass, die Mundwinkel verzogen sich, der Unterkiefer zitterte, und auf der Stirn brannte ein roter Fleck wie eine Wunde.

„Verflucht! Oh – oh – verflucht!“

Das Papier entsank dem starken Mann, und er selbst fiel mit dem Gesicht auf das Sofa und krallte seine Finger in die Polster.

„Was is denn, Hermann, um Gottes willen, was is denn?“

Keine Antwort. Der hünenhafte Körper nur zuckte krampfhaft auf und nieder, die Hände fuhren wie irre hin und her, und der Kopf bohrte sich in den Sofasitz. Der Wirt bückte sich, hob den Brief auf und las.

Eine lange Pause entstand.

„Fünfzehn Prozent, nur fünfzehn Prozent!“

Schräger setzte sich auf einen Stuhl. Schweigend betrachtete er den Unglücklichen, der in dumpfes Schluchzen ausbrach. In den grauen Augen des Wirtes zuckte es sonderbar. Ein Weilchen blieb er so ganz still, dann schlich er auf den Zehen hinaus und verkaufte drüben dem wartenden Briefträger Schnaps und Bier.

„Sagen Sie einstweilen von dem Briefe nichts im Dorfe“, sagte er zu dem Briefträger und kassierte die Zeche ein. Dann ging er zurück nach der Wohnstube. Behutsam öffnete er die Tür. Raschdorf lehnte auf dem Sofa, die Füsse weit von sich gestreckt. „Hermann!“

„Na, was sagste? Haste gelesen? Fünfzehn Prozent! Was? Das macht sich! Diese Schweinebande!“

„Aber ’s muss doch ’n Gesetz geben, Hermann!“

„Gesetz geben! Schafkopp! Gesetz! Wenn du ’n Hund ohne Maulkorb ’rumlaufen lässt, oder wenn du die Wagentafel zu Hause vergessen hast, da gibt’s ’n Gesetz, da werden sie dich schon fassen; aber wenn kleine Leute von Spekulanten um ihr Geld begaunert werden, um Tausende, um viele Tausende, um alles – da gibt’s kein Gesetz, da kräht kein Hahn darüber, da kümmert sich kein Teufel drum – Schweinebande!“

Schräger trat nahe an den Sofatisch.

„Es ist schrecklich, Hermann! Und das schlimmste: nu werd’ ich die Schuld kriegen.“

Raschdorf blickte auf.

„Die Schuld kriegen! Du? Hä! Natürlich bist du schuld!“

„Hermann, das verbitt’ ich ...“

„Ach, halt’s Maul! Was hat’s denn für ’n Zweck, wenn ich dir die Schuld geb’? Krieg ich mein Geld wieder? Was? Nee! Hin ist hin! Aber, dass du mir zugeraten hast, dass du mir in a Ohren gelegen hast Tag und Nacht, das steht auf ein’m andern Brette, Schräger!“

„Na, is gut, Hermann! Gut is! Ich werd’ dir ja nich mehr raten! Ich sag’ ja kein Sterbenswort mehr, und wenn du ...“

„Und wenn ich gleich pleite geh’! Weiss ich, Schräger, weiss ich! Is auch ganz gut so.“

„Na, das is ja richtig! Das habe ich mir ja gerade um dich verdient!“

Schräger trat ans Fenster und blickte hinaus auf die staubige Strasse. Raschdorf erhob sich und dehnte die Arme.

„So! Nu werd’ ich’s meinem kranken Weibe sagen, nachher könn’n wir ja die Klappe zumachen und fechten gehen.“

Schräger drehte sich langsam um.

„Hermann“, sagte er, und seine Stimme klang warm, „Hermann, wenn du ’n Freund brauchst!“

Raschdorf sah ihn mit herbem Lächeln an.

„Wenn ich ’n Freund brauch’, komm ich zu dir. Verlass dich darauf, Schräger!“

Sie sahen sich einige Sekunden in die Augen.

„Leb wohl, Schräger!“ – –

Über die Strasse ging Raschdorf und über seinen Hof. Er sah und hörte nicht. Als er in den Hausflur kam, blieb er stehen, als ob er Mut fassen müsse. Von oben herab klang ein hohles Husten. Da raffte sich der Mann auf. Langsam stieg er die Treppe hinauf und öffnete eine Tür.

„Wie geht dir’s, Anna?“

Die sanfte, zarte Frau, die im Bette lag, sah ihn erstaunt an und fragte furchtsam:

„Was ist dir, Hermann?“

„Mir? – Was soll mir sein?“

Die Kranke richtete sich auf.

„Hermann, es ist was passiert! Dir ist was; Hermann, was ist dir?“

Er sank auf den Stuhl neben ihrem Bette und lehnte den Kopf an das kühle Kissen. Und wie sich ein Schuldbekenntnis von Männerlippen immer schwer und schmerzhaft losringt, so auch jetzt.

„Anna, ich – hab’ spekuliert – und ich hab’ verloren.“ Eine heisse Röte zog über das weisse Frauengesicht. Sie sagte nicht gleich etwas, aber dann fragte sie:

„Ist es viel, Hermann?“

„Viel, Anna! Sehr viel! Über – über viertausend Taler.“

Die Kranke sank in die Kissen zurück und legte den rechten Arm über die Stirn und die Augen. Und der Mann sass in finsterem Schweigen an ihrem Bette. Kein Laut. Nur die Frau hustete ein paarmal. Und die Sonne schien schwül in die Stube.

Da klang ein seltsam Tönen in diese Todestraurigkeit. Vom Garten unten drang schwaches Kindersingen: „In der Blüte deiner Jahre.“

Müde erhob sich Raschdorf. Er hatte nicht den Mut, seiner blassen Frau in die Augen zu sehen. So trat er sachte ans Fenster und lehnte sich gegen die Mauer. Ein wunderliches Bild bot sich ihm unten im Garten. Er sah nicht alles, nicht den Hannes, der possenhaft aufgeputzt da unten stand, nicht die fremden Kinder; er sah ein totes Hühnchen, das mit Myrtenzweigen und blauen Bändern geschmückt über einer Grube stand, er sah sein schönes Kind, die Magdalena, und er sah seinen einzigen Sohn, der wie ein Geistlicher angezogen unten stand und vernehmlich sagte:

„Vita brevis! Vita difficilis!“

„Das Leben ist kurz! Das Leben ist schwer!“

Das Wort traf den Mann ins Herz. Er ging zurück zum Bette der Frau und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. –

Die Heimat

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