Читать книгу Die Heimat - Paul Keller - Страница 7
ОглавлениеIm Garten unter einem Apfelbaume, abseits von der Menge stand Mathias Berger, der Lumpenmann, und hielt mit seinen Armen Heinrich Raschdorf umschlungen. Ringsum standen Tische, Schränke, Stühle, lagen Betten, Kleider, Wirtschaftsgeräte verstreut im Garten.
Der Markt der Unglücklichen!
Die Fackeln des Unheils beleuchteten ihn. Das friedliche Laub der Bäume zitterte vor der Höllenglut, färbte sich rot und sank zur Erde. Und die kahlen Äste starrten dem Feuer entgegen, wie zitternde Tiere vor ringelnden Schlangen beben.
„Heinrich! Du musst ins Haus! Sieh mal, das Wohnhaus brennt nich ab – das is nu vorbei! Du musst ins Warme, Heinrich!“
„Ich will nicht, Mathias – ich – ich muss Wasser tragen!“
„Du kannst nicht mehr! Du bist ja durchnässt, du zitterst ja am ganzen Leibe.“
„Es ist unser Hof – ich – ich – oh – oh – Mathias ...“
Der Knabe war ohnmächtig.
Berger rief über den Garten:
„Ehrenfried, he – Ehrenfried!“
Ein Bauer kam heran.
„Ehrenfried, pass a bissel auf hier, dass niemand was stiehlt! Ich muss den Jungen ins Warme bringen; er holt sich sonst den Tod.“
Der Bauer war zu dem Dienst gern bereit.
„Schaff ihn doch zum Schräger ’rüber ins Wirtshaus“, riet er.
Berger schüttelte den Kopf und trug den ohnmächtigen Knaben ins Wohnhaus. Die Leute machten ihm scheu Platz.
Ein donnerndes Krachen dröhnte durch den Hof. Eine hohe Mauer war eingestürzt. Funken sprühten um das ohnmächtige Kind und seinen Retter.
Drinnen in der Wohnstube war der grosse Ofen noch warm, und Hund und Katze lagen friedlich unter der Ofenbank. Sonst war alles ausgeräumt. Nur die Petroleumlampe brannte noch. Aber ihr trautes Licht wurde schrecklich überstrahlt von der roten Lohe, die von draussen hereinleuchtete. Berger legte den Knaben auf den Fussboden und ging nach dem Garten zurück. Dort raffte er eine Menge Betten auf und trug sie nach der Stube.
Fürsorglich bettete er das kranke Kind, nachdem er es der triefenden Kleider entledigt. Dann kniete er neben dem Lager nieder und drückte einen Kuss auf die kalte Stirn des Knaben.
Da ging die Tür auf. Eine Frau trat langsam in die Stube. Ihre Stirn war marmorweiss, aber auf den Wangen brannte das Fieber, und das Feuer von draussen beleuchtete sie.
„Berger! Was ist denn? O Gott, was ist?“
Der Lumpenmann erhob sich und erschrak.
„Frau Raschdorf, Sie! – Sie sollen doch im Gasthause bleiben! Es ist nicht gut für Sie ...“
„Was ist mit Heinrich? Berger, was ist mit Heinrich?“
„Er ist ohnmächtig, gerade erst ohnmächtig geworden. Er hat sich so sehr angestrengt, und dann die Aufregung ...“
„Heinrich, mein lieber Heinrich!“ Und die Frau kniete aufweinend neben dem Lager nieder.
Berger schlich hinaus. Aus dem grossen Durcheinander im Garten suchte er den Lehnstuhl und eine Decke heraus und trug beides nach der Stube.
„Ich bringe Ihnen Ihren Lehnstuhl, Frau Raschdorf.“
Sie erhob sich. „Mathias, er kommt nicht zu sich. Was wird werden? Was wird mit ihm werden?“
Der Lumpenmann beugte sich über das Kind.
„Er wird schon wärmer. Ich denke, er wird bald aufwachen, gut zugedeckt ist er ja, da wird er schwitzen, und es wird ihm weiter nichts passieren.“
Zitternd stand ihm die Frau gegenüber. Ihre Augen leuchteten heiss auf, als sie ihn ansah; ein Zittern flog über ihren Körper, und mit erregter Stimme sagte sie: „Mathias – du – du hast das einzige gerettet – was ich noch habe.“
Sie streckte die Hände aus und schlug sie über seine Schultern, und ihr Gesicht sank matt an seine Brust in halber Ohnmacht.
Mathias Berger stand wie einer, der plötzlich stirbt und dem nur eine weisse, letzte Lebenswoge noch schmerzhaft und warm durchs Herz schlägt.
Doch er raffte sich zusammen. „Setzen Sie sich, Frau – Frau Raschdorf und wachen Sie bei ihm!“
Langsam ging er aus der Stube. –
Und immer noch stand die Unheilswolke über dem Buchenhofe. Die Feuerflammen schlugen hinauf zu ihr und malten grellrote Lichter auf ihren schwarzen Untergrund. Wie Blutstropfen fiel der leise Regen. Feuer von vollen Garben und duftendem Heu! In wahnsinniger, trunkener, taumelnder Freude erhoben sich die Feuerflammen. Draussen lagen die stillen, abgeernteten Felder, und nun war es, als ob jeder Halm in der Scheuer, jede vertrocknete Blume im Heu sterbend noch einmal das stille Plätzchen im Feldgrund grüssen wollte, da es gegrünt und geblüht und mit Faltern und zarten Winden gekost hatte. Jetzt zuckten über die beraubten Fluren stolze, jubelnde Flammensignale:
„Triumph! Wir sterben einen roten, herrlichen Tod! Erspart bleiben uns Tenne und Mühle. Die Natur ist gross, und der Mensch ist nichts!“
Die Menschen, die mit der Natur gerungen hatten im langen, mühsamen Kampfe, die ihr die Beute abjagten mit Schlauheit und Fleiss: sie standen bleich als die Besiegten, die Geschlagenen, und die Beute war ihnen entrissen, und ihr Bollwerk war zerstört.
Frau Mutter Erde sah schweigend zu, aber die Witwenschleier, die noch am Tage heiss und grau um ihre feuchte Stirn hingen, färbten sich rot. Die Halme und Blumen sind ihre Lieblingskinder, und der Mensch ist nur der Stiefsohn. –– –
Der Bauer Raschdorf sass auf einem umgestülpten Karren. Finsteren Auges sah er der Verheerung zu. Nicht einen Finger rührte er zur Hilfe. Von Zeit zu Zeit nur verzog sich sein Gesicht; seine Hände klammerten sich an die Beine und gruben sich oft schmerzhaft ins Fleisch. Und neben ihm kauerte, Entsetzen in den schönen Kinderaugen, die Magdalene, sein Ebenbild, sein Liebling.
Die beiden Scheuern lagen verwüstet; nun brannte der grosse Stall. Die Rinder zogen hinab ins Dorf. Ihr Brüllen klang dumpf durch die Nacht. Vier oder fünf Spritzen aus dem Dorfe und aus den Nachbarorten waren da. Sie hatten sich bemüht, als die Scheuern brannten, das Wohnhaus und das Gesindehaus zu retten. Das war ihnen auch gelungen; denn der Wind war günstig. Aber die Giebel waren geschwärzt, die Fensterscheiben zerplatzt.
Und abseits von denen, die das Unglück traf, stand die Menge mit ihren Gefühlen. Ein lähmender Schreck hatte sie aus den Stuben gerissen, als die Glocke vom Turme wimmerte und der Feuerruf durch die Gassen heulte. Aber als sie sich überzeugten, dass sie selbst nicht in Gefahr seien, legte sich die Angst sehr rasch. Mitleid kam, Lust zu helfen, Lust zu schauen, Lust, was zu erleben. Niemand von diesen Leuten war müde, alle belebte die Erregung, und so kam es auch hier wie immer, dass dicht neben das Grauen und die Vernichtung der Humor sich unter die Gaffer stellte und sich sein Sprüchlein leistete. Jetzt war nichts mehr zu retten; aber immer, wenn eine neue Spritze ankam, trat sie mit in Tätigkeit, und so fuhren die Wasserstrahlen in den rettungslos weiter brennenden Stall lustig hinein und erzeugten viel Zischen und Dampf.
Zu ganz später Zeit, als das Feuer schon nachliess, kam die Spritze eines Nachbarortes, der nur eine Viertelstunde weit entfernt lag.
„Die sind auch schon munter!“ sagte einer laut.
„Um die is ’s nich schade“, bemerkte sein Nachbar ebenso vernehmlich. „Der ihre Spritze is a Unikum. Bei der vertrocknen im Sommer immer die Messingventile.“
Die verspäteten Rettungsmannschaften machten ob solch vorlauter und sehr belachter Rede grimmige Gesichter. Aber da die Spötter recht behielten, mühten sie sich ein wenig um ihre Spritze ab, pumpten, schraubten, rüttelten, besahen sie mit verständigen Mienen von allen Seiten, überzeugten sich aber, dass nichts zu machen sei, und fuhren deshalb kopfschüttelnd wieder heim. Und das schöne Bewusstsein, das Gute wenigstens gewollt zu haben, begleitete sie.
Dort, wo die Weiber standen, war viel Lärm. Jede hohe, stolze Flamme wurde mit viel Geschrei begleitet; über alles, was geschah, wurde laut verhandelt, gezetert, gejammert oder gelacht.
Als Mathias Berger den Heinrich ins Haus trug, wurden Rufe des Mitleids laut, auch als Frau Anna müde und krank über die Strasse geschritten kam. Aber als Berger den Stuhl und die Decke holte, zwinkerten sich ein paar Weiber wortlos zu.
Und dann schritt der Bauer Raschdorf schweigend an ihnen vorbei, ohne sie anzusehen.
Die Weiber sahen ihm nach und atmeten schwer; aber sie schwiegen, bis er weit genug war. Dann wollten sie alle gern über ihn reden, aber keine hatte den Mut, anzufangen. Nur zögernd, tropfenweise beginnend, aber immer anwachsend, entstand ihre Rede wie ein kunstgerecht gezogener Wasserfall.
„O je“, seufzte die Mutigste und Ungeduldigste.
„Den trifft’s auch ordentlich“, sagte eine zweite.
„Nu, da!“ sagte eine dritte. „Und wenn man bedenkt, wie er doch – wie er doch eigentlich ...“
Pause. Sie mochte nicht vollenden – die dritte. Aber alle waren gespannt, geladen, übervoll von innerem Rededrange. Inzwischen stürzte abermals eine Mauer dröhnend zusammen. Eine Schuttwolke, durch die Millionen Funken blitzten, fuhr wirbelnd in die Höhe. Die Weiber waren bei dem Krachen zusammengefahren, aber sie vergassen deshalb nicht, was sie bewegte. Ein paar Sekunden sahen sie nach dem rauchenden Trümmerhaufen, dann kehrte ihr Interesse zu Hermann Raschdorf zurück.
„Na, Gott verzeih mir die Sünde!“ sagte wieder die erste, Mutigste, Ungeduldigste. „Man soll ja keinem was Schlechtes nachsagen, überhaupt bei so was, aber stolz war der Raschdorf ...“
Sie konnte nicht vollenden, der Bann war gebrochen, die Schleuse gezogen, die Fluten dröhnten. Es war ein Chaos. Da kam über den Garten eine hässliche, dürre Frau daher. Sie stellte sich zu ihren Mitschwestern, hörte ihr Lärmen und lächelte sein. Das waren ja alles dumme Gänse gegen das, was sie wusste.
Allmählich brauste der Wasserfall schwächer – verlief sich. Die Weiber sahen die Neue an. Sie ahnten mit feinem Instinkt, dass sie etwas Besonderes wisse.
„Was haste denn, Glasen?“ fragte eine. „Haste was gesehen oder gehört?“
„Sie weiss was!“ „Natürlich weiss sie was!“ „Na, seht och, wie sie tut!“ „Warum will sie’s denn nich sagen?“
„Wir sagen doch nischt weiter!“
So sprudelte es durcheinander.
Frau Glase blähte sich vor Stolz und Überlegenheit.
„Was ich weiss, weiss niemand“, sagte sie kühl.
Nun brach das Chaos wieder los.
Das wäre doch unrecht, so was nicht zu sagen. Man hätte doch keine Geheimnisse. Es wär’ doch nichts dabei. Überhaupt sei das gar nicht recht, erst so zu tun. Weitergesagt würde doch nichts. Es seien doch alle immer sehr freundlich zur Glasen gewesen. Eine habe gar bei ihr Pate gestanden. Und sie seien doch unter sich. Oder vielleicht wisse sie überhaupt nichts. Das letzte Argument allein zündete; Frau Glase richtete sich auf. Sie sah die Zweiflerin verächtlich an und wandte sich darauf an die Allgemeinheit.
„Aber, dass ihr nischt weitersagt!“
Über ein Schock Finger fuhr beteuernd nach der Gegend des Schürzenlatzes.
„Ich hab’ durchs Fenster gesehen, bloss wegen des Jungen, es tut einem leid um das Kind, es war ganz durchnässt ...“
„Natürlich tut’s einem schrecklich leid. Weiter!“
„Na, also da war erst der Berger allein und dann ...“
„Dann? Weiter, Glasen!“
„Dann kam die Frau.“
„Wir haben sie gesehen! Wir haben ja gesehen! Weiter, Glasen! Dann kam die Frau. Und, und was war da?“
Frau Glase machte eine Kunstpause und weidete sich an der Spannung ihrer Mitschwestern. Ein so grosses und stolzes Gefühl hatte sie noch nie empfunden in ihrem Leben.
„Weiter, Glasen! Erzähl doch weiter!“
„Um den Hals genommen hat a sie.“
„Um den Hals genommen!“ Da wieherten sie.
„Um den Hals genommen und geküsst!“
„Geküsst!“
Das Wort kam von allen zu gleicher Zeit. Dann war es still. Es arbeitete zu sehr in diesen Weibern; sie konnten nicht reden. Schreck, Freude, Sensationslust fuhren wie ein jäher Sturm über ihre flachen Seelen, und der eigene Schlamm rührte sich und warf Blasen. Allmählich nur beruhigten sie sich. Aber jetzt waren sie stiller. Sie traten dichter zusammen und tuschelten und raunten und taten entrüstet und verbargen ein Lachen, und waren alle sehr vergnügt.
Ein Riese nahte der Gruppe; er trug zwei schwere Eimer mit Wasser in den Händen. Schweigend, ohne auch nur hinzusehen, wollte er vorübergehen.
Da drang ein Laut an sein Ohr, der ihn verwirrte. Er machte ein unbeholfenes Gesicht und glaubte, er habe sich getäuscht; aber ein zweites und drittes Wort fing er wider Willen auf. Da wurden ihm die Eimer schwer, und er stellte sie auf die Erde. Noch so ein böses Wort, noch eins. Da reckte sich der Riese.
„Dreckschleudern, sauelendige! Wollt ihr die Fresse halten! Wollt ihr wohl gleich die Fresse halten?!“
Und ein Eimer eiskaltes Wasser ergoss sich über die Köpfe der Weiber, ihm folgte blitzschnell der zweite.
Kreischen, Gellen, eilige Flucht, Lachen oder auch zornige Zurufe der Männer, und August Reichel, der Schaffer, stand allein und zitterte zum ersten Mal in seinem Leben.
Eine Weile stand er ganz stumm und dumm da. Hilflos blickte er in die leeren Eimer. Es war richtig, er hatte sie ausgegossen und eine laute lange Rede dazu gehalten. Es wunderte ihn, dass er etwas gesagt hatte. Das Ausgiessen fand er ohne weiteres in Ordnung. Einem Manne, der lachend herankam und fragte, was denn der Schaffer mit den Weibern habe, gab er keine Antwort. Er ergriff nun seine Eimer und ging verdrossen nach dem Bache zurück, von wo er gekommen war.
Es soll wenig so peinliche Dinge auf der Welt geben, wie wenn jemand, der gerade mit Lust und Begeisterung schimpft, unvermutet mit Wasser begossen wird. Bei irgendeinem Heidenvolke hatte einmal der Gott der Gerechtigkeit den Einfall, das unverhoffte Wasserbad vom Himmel aus für alle schimpfenden und verleumdenden Menschen einzuführen; aber der Gott der Weisheit widerriet ihm und sagte, da käme die Welt aus der Sündflut nicht mehr heraus.
Ein Teil der Weiber schlich still nach Hause. Das waren jene, die nicht bloss froren, sondern sich auch schämten; denn es waren auch viele gutmütige dabei. Die anderen liefen zu ihren Männern und schimpften mehr als zuvor, und die Männer nahmen sich der durchnässten Ehefrauen an und schimpften mit.
So hatte August Reichel, der dumme, gute Riese, mit seinen zwei Eimern Wasser nichts gelöscht, er hatte nur Öl in ein böses Feuer geschüttet.
Die Aufgeregten zogen sich ein wenig zurück und standen beratend beieinander.
Und es kam einer heran, der bisher mit offenem Munde und blöden, glänzenden Augen ganz dicht am Feuer gestanden hatte – Gustav Schräger, der idiotische Sohn des Gastwirts. Immer nach drei Schritten blieb er stehen und starrte in die lodernde Glut. Und dann reckte er die Hände in die Luft, als wolle er die Flammen aneifern, immer höher emporzuschlagen.
„O je, es wird kleiner! Es ist nicht gross! Uff! Uff! Hu! Brr! Aah!“
Die Weiber deuteten auf den Idioten und lachten. Dann riefen sie ihn an. Er kam langsam näher, grinste und sagte ganz unvermittelt:
„Der Herr Raschdorf hat’s angezündet!“
Die Gesellschaft schrak bei diesem Wort zusammen.
„Gustav, wirste still sein! Das sagt man doch nich! Aber Gustav!“
Der Idiot schnitt eine Grimasse.
„Ich weiss es! Er hat’s angezündet! O! Ah! Dort, das is fein! Hoch! Hoch! Brr!“
Er wollte wieder zum Feuer zurück, aber ein Weib hielt ihn am Arm fest.
„Wie kannste denn sowas sagen, Gustav? Das darfste doch nich.“
Er sah sie grinsend an: „Es is schön! Und es wird noch ein Mann verbrennen! Pass auf! Und sie werden ihn tragen! Siehst du! Siehst du! Dort! Ooh – ooh!“
Er wollte sich losreissen, aber das Weib hielt ihn fest.
„Gustav, du musst’s uns sagen. Wie kannste denn sagen: der Herr Raschdorf hat’s angezündet? Du wirst ja eingesperrt, wenn das ’rauskommt.“
Der Idiot sah sie an und zog ein weinerliches Gesicht. „Ich lass mich nich einsperren! Ich will nich! Ich will zum Feuer! Ich sag’s meinem Vater! Lass mich doch los! Du zwickst mich in meinen Arm!“
„Aber woher weisste denn das vom Herrn Raschdorf, Gustav?“
„Er will mich ’rausschmeissen! Gar nischt zu sagen! Es war kalt! Es war so kalt!“
„Aber a hat doch nich angezündet?“
„A hat’s gesagt. A hat gesagt, a zünd’t an. Lass mich los! A hat’s gesagt! Und ich soll ’raus – ’raus – du zwickst mich so – alte Gans!“
Der Idiot brach in Heulen aus. Vergebens versuchten die Weiber, ihn zu beruhigen. Er riss sich los und lief nach Hause.
Der Gastwirt Julius Schräger kam keuchend heran.
„Was habt ihr mit dem Jungen? Was habt ihr mit dem unglücklichen Kinde?“
Er war in grosser Erregung. Ein Mann trat vor.
„Herr Schräger, wir haben ihm bloss gutt zugered’t, weil a – weil a was gesagt hat ...“
„Was hat a gesagt? Was hat a gesagt?“
Sie schwiegen.
„Was a gesagt hat, will ich wissen! Was ihr mit mein’m Jungen habt, will ich wissen!“
Ein Mann fasste Mut. „Nu, ich sag’s halt! Ich sag’s ja bloss nach. Mir kann keiner was anhaben.“
„Was a gesagt hat, will ich wissen!“
Schräger wurde feuerrot. Da trat der Mann an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die anderen waren totenstill.
„Das is Unsinn! Das sagt halt der dumme Junge so. Das hat a vielleicht nich richtig verstanden. Gesagt hat der Raschdorf was; aber das war gewiss nich so gemeint.“
Schräger ging seinem Sohne nach, und die Menge blieb erregt in flüsternder Unterhaltung zurück. Das Feuer liess langsam nach, aber die Unglückswolke stand über dem Buchenhof schwärzer als zuvor.
*
Ein grauer Herbstmorgen kam. Die Spritzen und alle die neugierigen Zuschauer waren fort. Mathias Berger und August Reichel trugen aus dem Garten die letzte Truhe ins Wohnhaus. Als sie den schweren Kasten aufhoben, sah Berger, dass ein umgebrochenes hölzernes Kreuzlein darunter lag; darauf stand zu lesen: „Hier ruht unser liebes Hühnchen.“
Von der Herrschaft war nichts zu sehen. Die Frau lag schwerkrank zu Bett, und der Herr hatte sich in eine Stube eingeschlossen. Auf einem Sofa in feuchten Kleidern lag Magdalene Raschdorf und schlief. Sie hatte rote Wangen und lachte im Traum. Zwei Schritte davon entfernt hatte sich Hannes auf die blosse Diele gebettet und lag regungslos wie ein Toter.
Heinrich stand draussen mitten im Schutt. Ein Mädchen näherte sich ihm und sah ihn mit grossen Träumeraugen lange an.
„Heinrich!“
„Du – ach du bist’s, Schräger-Lotte!“
Sie kam näher und sah ihm mit tiefer Teilnahme ins Gesicht. Er schlug die Augen nieder und presste die Lippen fest aneinander. Er wollte sich beherrschen. Da fasste sie ihn am Arm und lehnte den blonden Mädchenkopf an seine Schulter.
„Es tut mir leid um euch, Heinrich! Ich hab’ die ganze Nacht geweint. Deine Mutter war bei uns und hat auch so geweint.“ Sie schluchzte.
Da hielt er sich nicht länger, ein krampfhafter, dumpfer Schrei kam ihm vom Munde.
„Lotte! Jetzt – jetzt wissen wir nicht mehr, wohin!“
Und er weinte bitterlich.
„Heinrich – lieber Heinrich!“
Es lag ein guter, tröstender Klang in dieser Stimme.
Nach einer Weile beruhigte er sich. Er nahm Lotte an der Hand und zog sie mit sich bis zu dem umgestürzten Karren, auf dem in der Nacht sein Vater gesessen hatte. Dort setzten sich die beiden Kinder nieder und schmiegten sich dicht aneinander.
Mit seltsamer Stimme sagte Heinrich: „Gestern, als ich dort oben fuhr, dort oben auf der Strasse, und unseren Hof sah, da war ich so stolz und wollte ihn gern allen Bekannten in Breslau zeigen und sagen: ‚Seht ihr, das ist unser.‘ Und nachher sagte mein Vater, wir seien bankerott, und in der Nacht brannten wir ab.“
Er fröstelte in sich zusammen, und das Mädchen rückte ihm noch näher. Mit flüsternder Stimme sagte sie: „Sei nur still, Heinrich! Der Vater sagt, ich erb’ einmal unser Haus und unsere Felder. Nachher schenk’ ich dir alles.“
Der Knabe rührte sich nicht. Aber es ging warm durch den jungen Körper. Langsam wandte er den Kopf und sah Lotte an, die mit grossen, schönen Augen tröstend zu ihm aufschaute. Und da beugte er sich zu ihr und küsste sie feierlich auf den Mund.
„Wenn ich gross bin, werd’ ich dich heiraten, Lotte.“
Das sagte er fest und bestimmt.
Das Mädchen lächelte glücklich. „Aber den schönen Fingerring hast du der Liese geschenkt.“
„Das war nur, weil ich mich vor dem Hannes und dem Mathias schämte. Ich wollte ihn eigentlich für dich.“
Dann sassen sie schweigend. Ringsum war trüber Herbst, und der Wind fuhr über die Ruinen und spielte mit Schutt und Staub.
Da sah das Mädchen nach dem Dorfwege.
„Du, Heinrich, da kommt dein Grossvater!“
„Ja, er ist’s“, sagte der Knabe. „Der hat Feuer läuten müssen in der Nacht. Denk’ mal, Lotte, was das ist, in der Nacht über den Kirchhof gehen und auf den finstern Turm klettern. Und dann hat er mit seinen alten Augen vom Turme auf das Feuer gesehen und gewiss an meine Mutter gedacht.“
Das Mädchen legte die Hand prüfend über die Augen.
Auch der Knabe sah wieder scharf nach dem Wege.
„Sieh mal, Lotte, der Grossvater kommt so schnell, und sonst kriegt er doch so schwer Atem – und da hinten, wer kommt da?“
„Das ist der Wachtmeister, Heinrich!“
„Der Wachtmeister? Was will der?“
„Was will der?“ wiederholte das Mädchen unschlüssig.
Heinrich erhob sich erregt. „Ich will hinein, ich muss wissen, was das bedeutet. Geh auch heim, Lotte, es steht so eine finstere Wolke über uns, und es fängt wieder an zu regnen!“