Читать книгу Die Heimat - Paul Keller - Страница 5
ОглавлениеDrüben im Buchenkretscham durchmass der Wirt die einsame Gaststube. Er war wohl in schwerer Erregung. An allen Tischen blieb er stehen und trommelte mit den dicken, kurzen Fingern darauf. Immer lockte es ihn ans Fenster, und er hatte doch nicht den Mut, ganz nahe hinzutreten. Die Augen aber richteten sich immer aufs neue nach dem Buchenhofe. So vertieft war er in seine Gedanken und in das Anschauen des stattlichen Gehöftes, dass er nicht einmal bemerkte, wie sich die Tür öffnete und ein Mann erschien, der ihn sekundenlang beobachtete.
„Eine wunderschöne Besitzung, der Buchenhof, was, Schräger?“
„Ah – ah – ja – ja – natürlich – natürlich; ach, du bist’s, Berger, du hast mich ja ...“
„So, erschreckt, gelt ja? Hähä! Is kaum zu glauben, dass ’n Gastwirt erschrickt, wenn a Gast kommt.“
„Ich – ich dachte gerade nur ...“
„Du dachtest gerade nur darüber nach, was doch der Buchenhof für ’ne riesig hübsche Wirtschaft wär’, und da kam ich dummerweise und störte dich in deiner Andacht.“
„Bist doch halt a gespassiger Mensch, Berger. Immer weisste ’n Witz. Was kann ich dir denn einschenken?“
„Gar nischt! Ich will dich bloss was fragen, Schräger. – – Weiss er’s schon?“ und er zeigte mit dem Daumen nach dem Buchenhofe.
„Was – was soll er denn wissen?“
„Von der Pleite und den fünfzehn Prozent!“
„Berger, woher weisst denn du das schon wieder? Das is ja gar nicht möglich!“
Der andere lachte.
„Ja, weisste, wenn man Lumpenmann is wie ich und so mit einer Kurier-Hunde-Post im ganzen Lande ’rumfuhrwerkt, da hört man vieles. Was a richtiger Lumpenmann is, der weiss alles.“
Der Wirt sah Berger mit unruhig flackernden Augen an.
„Na, meinetwegen! A weiss schon. A hat halt Pech!
Mich geht’s ja nischt an, Berger. Was?“
„Nu je! O ja! Doch, doch!“
Der Lumpenmann lachte bei dieser Rede. Schräger fuhr auf.
„Mich soll’s angehen? Mich? Was denn? Was denn zum Beispiel? Möcht’ ich wissen. Was denn, Berger?“
Der lehnte sich gegen das Schanksims, kniff seine Äuglein ein wenig zusammen und sagte ganz ruhig: „Ich werd’ dir mal was sagen, Schräger. Siehste, es könnte einer auf den Gedanken kommen, es wär’ eigentlich ganz hübsch, wenn die beiden Buchenhöfe wieder zusammenkämen. – Lass mich reden, Schräger, reg dich nich uff! Also, wenn alles wieder eine Herrschaft wär’! Das könnte schon einer denken. Nich? Na, aber ’s wär’ ’n sehr dummer Gedanke, Schräger; denn die Raschdorfs gehen da drüben nich ’raus!“
„Ich weiss nich, was du hast, Berger. Ich denk’ doch im Traume nich an so was. Der Raschdorf is mein Freund.“
„Is dein Freund, Schräger. Das ist hübsch von dir! Und weil du nu deinen Freund mit den Aktien so in die Tinte geritten hast ...“
„Berger, das lass ich mir nich gefallen!“
„Weil du ihn so in die Tinte ’reingeritten hast, sag’ ich, wirste ihn wohl jetzt wieder ’rausreiten müssen.“
„Das is ’ne Frechheit von dir, Berger! Wie kommste denn dazu? Das geht dich doch gar nischt an!“
„Geht mich gar nischt an, Schräger, da haste recht! Aber gerade das, was mich nischt angeht, um das kümmer ich mich. Schräger, ich will dir mal in aller Gemütlichkeit was sagen: Wenn du etwa am Raschdorf schuftig handelst, da mach ich dich schlecht im ganzen Vaterlande und im ganzen Waldenburger Kreise. Verstehste? Ich verkauf dich als Lumpen in jedem Hause.“
„Nu is aber genug, Berger! Das sagste mir in meinem Hause? Ich verklag dich, und wenn du noch ’n einziges Wort sagst, dann ...“
„Da schmeisste mich ’raus. Wachste recht, Schräger, tät’ ich auch machen! Aber ich geh’ schon alleine. Meine Meinung weisste! Leb gesund, Schräger!“
Berger hörte nur noch, dass ihm der Wirt etwas nachzischelte, aber er kümmerte sich nicht darum. Aus der sauersüss riechenden Wirtsstube trat er wieder hinaus auf die sonnenbeglänzte, freie Strasse. Ein kleiner Planwagen stand da, vor den ein grosser schwarz- und weisshaariger Hund gespannt war. Der schielte seinen Herrn mit einem verliebten Seitenblick an und klopfte in drei gleichmässigen Zwischenräumen mit seinem mächtigen Schweife an die Wagendeichsel. Der Lumpenmann stutzte und betrachtete aufmerksam sein Gefährt, in dem sich leise etwas regte.
„Haste etwa a Raschdorf Heinrich gesehen, Pluto?“
Der Hund bellte freudig.
„Oder vielleicht gar a Schaffer-Hannes?“
Der Hund bellte noch lauter.
„Haste sie wirklich gesehen, Pluto? Möcht’ ich wissen, wo sie stecken.“
Der Hund bellte wie toll und zerrte und riss an seinem Geschirr. Der Lumpenmann bückte sich und machte ihn frei.
„Na, da such, Pluto, da such!“
Ein Satz, und der mächtige Hund war unter der Plane verschwunden. Ein Zeter- und Mordgeschrei erhob sich in dem kleinen Wagen, dazwischen ertönte ein ganz rasendes Hundegebell. Der Lumpenmann stand da und lachte, und die Tränen liefen ihm über das runzlige, bestaubte Gesicht. Ein Paar Gamaschen wurden auf der Deichsel sichtbar, in denen steckten zwei Quartanerfüsse, und nach und nach kam der ganze junge Akademiker zum Vorschein. Unterdessen war ein wüstes Gebrülle und Gebelle im Wagen.
„Du bist verrückt, Pluto! Mein Gesicht, au, mein Gesicht!“
Der kleine Wagen wankte und bebte von dem gewaltigen Kampfe, der sich in ihm abspielte, und dann wurde in seiner dunklen Össnung ein animalischer Knäuel sichtbar, und rechts von der Deichsel fiel ein Hund auf die Strasse, und links von der Deichsel ein Junge.
Hannes erhob sich mit zerkratztem Gesicht.
„Wir kommen vom Begräbnis“, sagte er kläglich und betrachtete zerknirscht den demolierten Paradehut seines Vaters. „Da macht man sich ’n kleinen Spass und kriecht mal in den Lumpenwagen, und gleich hetzt a mit Hunden. Was bloss mein Vater zu seinem Zylinder sagen wird! Pfui, Mathias, das werd’ ich mir merken! Das ist ruppig von Ihn’n!“
Der Lumpenmann lachte, dass er sich schüttelte.
„Ihr Halunken! Gelt, das wär’ a Spass gewesen, wenn euch der Mathias Berger ins Dorf gezogen hätte! Na, heul nich etwa, Hannes! Sagen wird dein Vater zum kaputten Zylinder nischt; a sagt ja nie was; höchstens durchhauen wird a dich.“
In diesen Worten vermochte Hannes einen erheblichen Trost nicht zu erblicken, und so versprach ihm Mathias Berger einen neuen Zylinderhut. Er habe zwei Stück. Einer rühre von seiner Hochzeit her, den anderen habe er geerbt. Der Hannes solle sich den schönsten gleich abholen, ehe der Vater vom Felde heimkehre und gewahr werde, was mit seiner „Trauertonne“ passiert sei.
Da war die Not des Buben behoben. Und nachdem Hannes durch einige kritische Fragen, die das Erbstück betrafen, die tröstliche Versicherung erhalten hatte, dass die beiden Hüte Bergers wirklich Prachtexemplare ihrer Art seien, spannte er sich selbst neben den von ihm sonst heissgeliebten Pluto und zog mit ihm das Wägelchen die Strasse hinab dem Dorfe zu.
Mathias Berger und Heinrich Raschdorf folgten in einiger Entfernung. Es war Abend geworden. Einzelne Schnitter kamen heim vom Felde. Irgendwo draussen waren die ersten Halme gefallen. Wie die Leute am Anfang der Ernte so stolz daherschreiten! In ihren Muskeln ist aufgespeicherte Kraft, und die Gewissheit wohnt in ihren Herzen, dass ihr Körper kräftig und tüchtig ist. Diese Menschen sind die glücklichsten Leute der Erde. Sicher aber die leidlosesten, die ruhigsten, die ungeängstigtsten. Was ihnen fehlt, wissen sie nicht, und was sie haben, steht über aller Wertung nach Geld. Die anderen haben viel, was Plunder ist, und das Schlimmere: sie wissen, was ihnen fehlt, grübeln darüber nach und sehnen sich müde. Es ist kein Wunder, dass ein wortkarger Stolz im Bauern wohnt. Lächelt der Städter über den Landmann, wenn er ihn unbeholfen über seine Strassen trotten sieht, der Bauer lacht unendlich verächtlicher über den Städter, wenn der neben seinen Erdfurchen und strotzenden Saaten so vorsichtig und blass und müde daherwandelt.
Mathias Berger sah seinen jungen Begleiter an, der einen grauen Anzug mit kurzen Hosen, einen weissen Strohhut und Gamaschen trug. „Eigentlich siehst du dich komisch an hier auf der Dorfstrasse“, sagte er.
„Ja, Mathias, wissen Sie, und ich wär’ auch viel lieber wieder zu Hause.“
„Gefällt dir’s nicht auf der Schule in Breslau?“
„O ja, wenn man der Siebente ist von achtunddreissig, das ist schon ganz anständig. Im Französischen hab’ ich bloss ‚genügend‘, sonst steh’ ich ganz gut. Aber wissen Sie, Mathias, das Schlimme ist, dass mir immer so bange ist.“
„Du hast wohl manchmal das Heimweh, Heinrich?“
Der Knabe mässigte seine Stimme.
„Ja, aber das sag’ ich bloss Ihnen, Mathias! Sonst müsst’ ich mich ja zu sehr schämen. Und meine Kameraden würden sagen, ich sei eine Memme, und ich kriegte Klassenkeile. Aber mir ist halt immer so bange. Ich kann nicht dafür, Überhaupt nach den Ferien! Einmal hab’ ich nach den Ferien meine Wochentagsschuhe vier Wochen lang nicht angehabt. Ich mochte sie nicht abbürsten, weil – weil Boden von zu Hause dran war.“
Der Lumpenmann wandte sich ab und sagte mit verstellter, etwas heiserer Stimme:
„Das wirste schon noch überwinden lernen, Heinrich! Oder willste nicht gern Doktor werden oder Pfarrer oder sowas?“
„Nein, Mathias, ich will nicht! Ich will wieder zu Hause sein, wo ihr alle seid.“
„Willste denn Bauer werden, Heinrich?“
„Ja. Sehn Sie mal, Mathias, es wär’ doch schade um unser schönes Gut. Sehn Sie, hier gerade an dem wilden Kirschbaum kann man unsere ganzen Felder übersehen. Das sind doch viel! Nicht, Mathias? Eigentlich sind wir doch reich. Aber das sag’ ich gar nicht in Breslau. Ich denk’ bloss immer dran, dass wir so ein schönes Gut haben.“
Der Lumpenmann bückte sich hastig nach dem Wegrande, riss einen Stengel Sauerampfer ab, biss darauf herum und spuckte dann alles weit von sich.
„Was macht denn deine Mutter?“ fragte er.
„Die ist wieder ganz krank. Am Mittwoch, wie Wochenmarkt in Waldenburg war, war sie mit beim Doktor.“
„Und was hat der gesagt?“
„Das weiss ich nicht. Sie hat geweint, als sie heimkam. Das ist es auch, was mir immer so bange macht, dass die Mutter nicht gesund ist.“
Sie gingen eine Weile schweigend weiter.
„Sieh nur, dass du weiter auf der Schule fortkommst, Heinrich! Gelt, bis in die Prima musst du, eh’ du den Einjährigen hast?“
„Bloss bis Obersekunda!“
„Das wär’n also reichlich noch drei Jahre. Sieh och, Heinrich, ’s is schon gutt, wenn du was lernst. Auf alle Fälle is gutt. ’s is ja ganz erbärmlich, wenn einer so tumm is wie zum Beispiel ich. Kannste denn eine Stellung kriegen, wenn du einjährig bist, Heinrich?“
„O ja, es war einer mit auf unserer Bude, der ist nach ’m Einjährigen abgegangen, und jetzt ist er Schreiber auf einem Landratsamte, und dann wird er Kreissekretär oder so ähnlich. Aber ich mag nicht Kreissekretär werden. Ich will Bauer werden.“
„Schon, schon, Heinrich! Aber sieh mal, am Ende könnt’st du dich doch später anders besinnen.“
„Nie, Mathias, nie! Ich übernehm’ das Gut. Das ist tausendmal besser, als wenn ich so in einer Schreibstube sitzen muss.“
Ein Blick des Lumpenmannes glitt über die goldenen Fluren, die sich rechts und links von ihm ausdehnten und die alle jetzt noch den Raschdorfs gehörten.
„Wir werden schon sehen, dass du ein Bauer werden kannst. Wir werden schon sehen!“ sagte er. – –
Hannes hielt mit der Hundefuhre mitten auf dem Wege an. Aus einem Feldraine bog ein Trupp Schnitter ein, und an ihrer Spitze schritt schwer und gewichtig August Reichel, der Vater des Hannes.
„Na, da komm mal schnell, Heinrich, sonst passiert da unten ein Unglück!“ sagte der Lumpenmann und schritt mit seinem Begleiter rüstig aus.
Sie kamen ziemlich gleichzeitig mit den Schnittern an den Wagen an. August Reichel, ein Riese von Gestalt, blieb stehen und betrachtete höchst beängstigenden Blikkes seinen Sprössling, der da beklommen vor ihm stand und mit der einen Hand krampfhaft hinter dem Rücken etwas versteckte. Der Riese reckte ein wenig den Hals und konnte so ganz bequem auch aus einiger Entfernung die Rückseite seines Nachkömmlings einer genauen Musterung unterziehen. Ein Zucken ging über das Gesicht des Goliath.
„Her!“ sagte er lakonisch und streckte die Hand aus.
Hannes reichte ihm die ruinierte „Trauertonne“ und schielte halb ängstlich, halb abwartend durch die Haare, die ihm in die Stirn hingen, zu seinem muskulösen Vater hinauf.
Der betrachtete den Zylinder, nahm den Strohhut vom Kopfe, probierte den Zylinder auf, fand, dass er ihm passe, prüfte dann das Schweissleder und hieb plötzlich dem Knirps vor ihm den Hut mit solcher Wucht auf den Kopf, dass dieser bis übers Kinn darin versank und mit beiden Beinen zugleich auf der Strasse kniete.
„August, halb und halb bin ich schuld“, sagte der Lumpenmann beschwichtigend, „ich hab’ zwei Zylinderhüte zu Hause; ich schick dir einen.“
Über das breite Gesicht des Riesen ging ein Lächeln.
„Ich brauch’ keinen!“ sagte er und nickte dem Lumpenmann freundlich zu. Darauf setzte er sich wieder an die Spitze seiner Schnitterschar und schritt in breitbeiniger Majestät die Anhöhe hinauf dem Buchenhofe zu.
Hannes arbeitete sich ans Tageslicht. Er sah seinem Vater halb ärgerlich, halb schadenfroh nach und sagte, indem er sich die Stirn rieb und dem Vater mit dem Finger nachdrohte: „Na wart nur! Wenn ich heute abend Kopfschmerzen hab’, da wirste mir ja Tee kochen müssen!“
Mathias Berger lachte, Pluto bellte einen kleinen Jubelhymnus, Hannes fasste ihn um den Hals, und die kleine Karawane zog weiter.
So kamen sie bei dem kleinen Hause des Lumpenmannes an. Die Liese kam ihnen entgegen. Eine ganze Woche lang hatte sie den Vater wieder nicht gesehen. Nun schmiegte sie sich zärtlich an ihn. Er aber schlang den Arm um sie und fuhr mit der Hand über ihren flachsblonden Kopf.
„Liese! Nu, Liese! Nu, mei Madel du!“
Ein ganzer Strom von Liebe ging durch diese paar Worte. Dann kam auch die Schwester Bergers, die ihm seit dem frühen Tode seiner Frau die Hauswirtschaft besorgte. Unterdessen spannten die Knaben den Hund aus und schoben den Wagen in einen kleinen Schuppen. Mathias Berger folgte ihnen. Er hob einen riesigen Sack aus dem Wagen, der prall mit Lumpen gefüllt war, und schüttelte ihn aus.
„Na, da seht mal! Wenn ich die sortieren werd’, das ist ganz int’ressant. Da ist alles dabei. Wollflecke von Grossmutterkleidern und Kattun von Kinderschürzen, Übrigbleibsel vom Brautstaate und Leinwand von einem Totenhemde. A Lumpenmann kann alles sehen. Es kommt von allem was in seinen Sack.“
Heinrich folgte gedankenvoll diesen Worten; aber Hannes hörte nicht darauf und machte sich mit einem kleinen Holzkasten zu schaffen.
In der Stube wurde dieses Schatzkästlein geöffnet. Ein Kinderherz konnte bei solchem Anblick selig sein. Es gab ja auch einige langweilige Dinge in dem Kasten, wie: Fingerhüte, Nähnadeln, Zwirn, Jerusalemer Balsam und Federhalter. Aber sonst? Soldatenbilder, allerhand andere Bilder mit schönen Versen von Gustav Kühn aus Neuruppin, Peitschenschnüre, Pfeifen, Kreisel, Spielmarken, Papierorden, kleine Pistolen, Vogelpfeifen, „goldene und silberne“ Uhren und Fingerringe die schwere Masse mit den prachtvollsten Steinen.
„Ich möchte gerne a Fingerringel für die Raschdorf-Lene“, sagte Hannes, „weil die mir ofte manchmal a Stückel Wurstschnitte gibt.“
„Such dir einen aus, Hannes“, sagte der Lumpenmann.
Der Knabe wühlte mit zitternden Fingern in den Schätzen.
So mag den Märchenprinzen zumute gewesen sein, die nach dem Wunderring suchten.
Heinrich stand etwas abseits. Er hielt es wohl mit seiner Gymnasiastenwürde unvereinbar, sich noch für solche Dinge zu interessieren, aber er wandte doch kein Auge von dem Kasten. Schliesslich trat er mit gewaltsam erzwungener Gleichgültigkeit näher.
„Was ist denn da eigentlich alles?“ fragte er mit ungeheurem Gleichmut.
„Wenn dir was gefällt, Heinrich, such’ dir nur aus“, sagte Berger freundlich.
Heinrich tat so, als ob er das durchaus nicht beabsichtige; aber schliesslich prüfte er doch eine kleine Zündblattpistole und liess sich durch einiges Zureden Bergers bewegen, sie nebst einer Schachtel Munition zu behalten. Auch einen silbernen Ordensstern nahm er noch an sich. Dann aber fühlte er das Bedürfnis, wieder ernsthafter aufzutreten.
„Wissen Sie, Mathias, wer die Lumpenmänner eigentlich in Schlesien eingeführt hat?“
„Nein“, sagte Mathias, „das weiss ich nicht.“
„Das hat der Alte Fritz getan“, belehrte ihn Heinrich.
„Vor der Zeit des Alten Fritz gab’s keine Lumpenmänner in Schlesien.“
„Da hat der Alte Fritz was sehr Kluges gemacht“, entgegnete Berger.
„Is überhaupt sehr tüchtig gewesen“, sagte Hannes wohlwollend, um damit zu zeigen, dass er auch in der Geschichte bewandert sei. Dabei stellte er drei Ringe in die engere Wahl: einen Diamantring, einen Rubinring und einen einfachen Silberreif, auf dem das Wort „Liebe“ eingeprägt war.
„Ja“, nahm Heinrich wieder das Wort, „der Alte Fritz war sehr sparsam, und er wollte nicht, dass die Leute was wegwarfen: Lumpen, Knochen, altes Eisen und so ähnlich. Da setzte er die Lumpenmänner im Lande ein. Und die mussten solche Dinge im Kasten haben wie Sie, Mathias. Und das nennt man Tauschhandel. Wobei es auch auf die neuen Papierfabriken ankam.“
Bergers Augen leuchteten. „Sieh mal, Heinrich, das is doch hübsch, wenn einer das alles weiss. Ich bin nu schon so lange Lumpenmann, und ich bin es auch gerne; aber ich hab’ noch nie gewusst, wer uns eigentlich erfunden hat. Es wär’ doch hübsch, wenn du weiter studiertest und ein Gelehrter würdest. Nich, Heinrich? Sieh mal, Bauern gibt’s doch massenhaft auf der Welt?“
Der Knabe fühlte sich geschmeichelt, aber er schüttelte doch den Kopf.
„Nein, ich will Bauer sein. Ich will den Hof übernehmen. Ich will immer hier sein.“
„Das is richtig“, stimmte Hannes bei; „wenn du nich da bist, is nischt los zu Hause. Sieh mal, Heinrich, welchen nehm’ ich nu: den mit dem weissen oder den mit dem roten Stein? Den silbernen mit ‚Liebe‘ mag ich nich; da gäb’ mir die Lene am Ende ’ne Backpfeife. Ich denke, ich nehm’ den roten.“
„Nimm sie beide, Hannes“, sagte der Lumpenmann.
„Wer die Wahl hat, hat die Qual.“
„Aber der silberne ist auch niedlich – sehr hübsch ist er“, sagte Heinrich.
„So behalt ihn“, sagte Berger.
„Den mit ‚Liebe‘?“ fragte Hannes erstaunt. „Wem willste denn den mit ‚Liebe‘ schenken, Heinrich?“
Der Quartaner wurde blutrot.
„Ach, niemand“, stotterte er, „niemand, vielleicht der Liese.“
Und er gab das unechte kleine Ringlein der Liese, der Tochter Bergers, die schon lange mit roten Wangen hinter ihm gestanden hatte.
*
Am Abend noch, als die Sonne im Verlöschen war, ging Mathias Berger die Dorfstrasse hinab nach der Schule. Die beiden Knaben waren längst zu Hause; die kleine Liese lag im Bett und schlief und hatte das silberne Ringlein am Finger.
Der alte Dorfkantor Johannes Henschel sass an einem Harmonium und spielte aus einer Orgelpartitur.
„Es ist eine schwere Sache, eine sehr schwere Sache, Herr Kantor, wegen der ich komme“, sagte Berger.
„Was ist denn?“
„Herr Kantor, eh’ ’s Ihnen die anderen sagen: Ihr Schwiegersohn, der Herr Raschdorf, verliert bei der Fabrik sein Geld.“
Das blasse Gesicht des alten Lehrers wurde noch um einen Schein fahler, und die welke Rechte fuhr nach der Brust. „Bei den Aktien?! Ist das möglich, Berger? Ist das möglich?“
Mathias Berger sah den Alten mitleidig an.
„Es ist so, Herr Kantor. In Altwasser drüben der Teichmann verliert auch dreitausend. Von dem weiss ich’s. Fünfzehn Prozent kriegen die Aktionäre ’raus, das ist alles.“
Ein Zittern ging über das Antlitz des alten Mannes. Dann stützte er den Kopf schwer auf die Hand.
„O mein Gott!“
Es war ganz still in der Stube, nur die Uhr tickte leise. Draussen erhob sich ein matter Nachtwind und fuhr müde durch die alten Bäume des Schulgartens.
Mathias Berger nahm wieder das Wort.
„Sehn Sie, Herr Kantor, das ist ja eigentlich nicht meine Sache. Es geht mich gar nischt an. Aber Sie wissen ja, ich bin Ihn’n viel Dank schuldig. Wie ich a blutarmer Junge war, ohne Vater und Mutter, da haben Sie mich aufgenommen und mich grossgefüttert. Das vergess’ ich nich, und wenn ich hundert Jahr werd’. Was mir das jetzt leid tut, kann ich gar nicht sagen. Aber, Herr Kantor, der Herr Raschdorf sollte sich nich mit ’m Schräger einlassen. Das is a grundschlechter Kerl!“
„Der Gastwirt? Ach nein, Berger! Der hat ja meinem Schwiegersohn immer noch ausgeholfen, wenn’s einmal fehlte.“
„Ausgeholfen, Herr Kantor! Warum denn? Warum denn? Weil a ihn nach und nach ganz in seine Gewalt kriegen will. Bloss darum! Ich sag Ihnen, dem dicken Kerle wird erst ganz wohl sein, wenn a beide Höfe hat. Darauf spekuliert a, darauf hat a’s abgesehn! Schräger is Raschdorfs grösster Feind!“
Der alte Kantor schüttelte unwillig den Kopf.
„Das müssen Sie nicht sagen, Berger, das ist unrecht! Schräger hat sein Geld auf die letzte Hypothek gegeben. Der ist ein Freund von meinem Schwiegersohn.“
Mathias Berger erhob sich.
„Na, da – da tut mir’s leid, dass ich was gesagt hab’.“
„Setzen Sie sich, Berger, setzen Sie sich doch wieder! Sie sehen zu schwarz. Der Schräger und mein Schwiegersohn sind Freunde. Sie sind zusammen in die Schule gegangen, sie sind zusammen aufgewachsen. Schräger ist nicht schuld. Das ist halt Unglück, Berger, schreckliches Unglück! O Gott, ich weiss ja nicht, was werden soll! Fünftausend Taler! Und mir hat er immer nichts gesagt, wie’s steht, nichts!“
Eine Pause entstand. Beide Männer starrten vor sich hin.
„Um Ihre Tochter tut mir’s leid“, sagte Berger endlich leise.
Der alte Lehrer wandte sich ab.
„Und um den Jungen, um den Heinrich! Heute sagt a mir, a will nich studieren; a will Bauer werden – übernehmen die Wirtschaft –, das is ja a Jammer.“
Ernst und gross wandte der Alte die Augen dem schlichten Manne gegenüber zu.
„Ich hab’ ein Unrecht begangen, Mathias – ich, nicht der Schräger. Ich musste dem Raschdorf die Anna nicht geben. In so einem Gut muss Geld sein! Was waren da die paar Pfennige, die ich ihr mitgeben konnte? Gar nichts! Gar nichts! – Und nun ist das Elend da. Ich bin schuld daran, Mathias, – ich!“
Berger richtete sich auf.
„Herr Kantor, nehmen Sie’s nich übel, aber das is – das is Unsinn, was Sie da sagen! Sie sind nich schuld! Der Raschdorf stand sehr gut da. Der brauchte keine reiche Frau. Bei dem ging’s ohne Mitgift. Aber wie hat a gelebt? Wie a gnädiger Herr! Immer oben ’raus! Und das Schlimmste: a hat sich mit dem Schräger eingelassen, und das is und bleibt a Malefizlump, und wenn a noch so scheinheilig tut, und wenn Sie noch so für ihn reden.“
Der Kantor schüttelte den Kopf.
„Es wäre schlecht, Mathias, einem zweiten die Schuld zu geben, wenn uns ein Unglück trifft. Und selbst, wenn er ihm zugeredet hat, wer konnte das ahnen? Den Ausgang konnte niemand wissen. Es ist eine bittere Sache, Mathias, wenn man alt ist und ein einziges Kind hat, und dem geht’s so!“
Als der Lumpenmann heimging, lag die Sommernacht über dem schlummernden Dorfe. Ernte! In schweren, schwülen Zügen atmete draussen das todgeweihte Feld.
Mathias Berger blieb stehen und sah noch einmal nach dem Schulhause zurück, das ihm in seiner Kindheit ein zweites, besseres Vaterhaus gewesen war, und wohin ihn auch jetzt noch eine leise Sehnsucht immer wieder führte. Er liebte den alten Mann dort, der so gutmütig und kurzsichtig war, dass er die Bosheit der Menschen nicht erkannte, nicht die Bosheit, aber auch nicht die geheimen, tiefen Leiden, die dicht neben ihm bluteten.
Als bettelarmes Kind hatte ihn der Kantor aufgenommen in sein Haus, ihn erzogen, ihn auch ausser der Schulzeit unterrichtet. Da war der Mathias mit der Schul-Anna zusammen aufgewachsen, und sie hatten gelebt wie Bruder und Schwester. Später ging Mathias als Bergmann in die Grube. Aber wenn er einen freien Sonntag hatte, war er im Schulhause. Da war leise, während er heranwuchs, die Liebe in sein Herz gekommen. Es hatte niemand was gewusst, nicht der Kantor und auch nicht die Anna. Es wäre ja so schrecklich frech und undankbar gewesen, wenn er etwas davon gezeigt hätte, er, der arme Kohlenschlepper.
Bis sie sich verlobte. Da war es zu Ende gewesen mit seiner Fassung. Er brachte es nicht mehr über sich, ins Schulhaus zu gehen. Und damals hat es dann die Anna gewusst. Der Kantor hat sich bloss gewundert und über den Abtrünnigen geärgert.
Ach, die schwere Arbeit in der Kohlengrube. So allein sein in den düsteren Stollen unter der Erde und gar keine Hoffnung haben für alle Zukunft. Das hielt Berger nicht aus.
Ein Verwandter von ihm starb und hinterliess ihm ein Häuslein und das Lumpenhandelgeschäft. Der Kantor wollte von dem Berufswechsel nichts wissen; aber Mathias war froh, dass er nun immer im Freien sein konnte, herumwandern in der Welt bei vielen Leuten und nicht mehr allein sein musste mit seinem Herzenskummer. Da wurde er allgemach wieder ruhiger und heiterer. Nach einigen Jahren heiratete er ein braves Mädchen. Er hatte ihr keine trübe Stunde bereitet, sie ihm auch nicht. Aber sie starb schon nach einem Jahr, als die Liese geboren wurde.
Da war er wieder einsam. Und über Ehe und Grab kam manchmal in stillen Stunden aus der Jugendzeit die alte Liebe wieder, ganz wunschlos, aber doch schmerzhaft tief – so wie heute, da sie krank und schwach nun doch der Armut entgegengehen sollte, der Armut, die allein ihm einstmals verbot, sie zu begehren.
Von fernher kam ein Gewitter, und Mathias ging heim.