Читать книгу Die fünf Waldstädte - Paul Keller - Страница 7
Der Geistergrund.
ОглавлениеDer Geistergrund war der einzige Ort im Gebiet der fünf Waldstädte, von dem die Leute im Dorfe etwas Genaueres wussten. Während so ein Bauer achtlos durch Ameisenfeld stapfte und dort nicht einmal den Bürgermeister kannte, während er an der tausendjährigen Donarseiche dumm und achtlos vorüberging, ja selbst nach den Herrlichkeiten von Heinrichsburg kaum hinüberschielte, ging sein träges Herz sofort rascher, wenn er in die Nähe von Geistergrund kam.
Was spielten auch dort für schauerliche Geschichten an dem dunklen Moor und dem Graben mit dem schwarzen Wasser, Geschichten, die Hunderte von Jahren alt waren und an den Winterabenden beim flackernden Kienspanfeuer erzählt wurden, bis alle Wangen rot und alle Herzen bange waren.
Da war die Geschichte von der Bäuerin, die ihren Mann umgebracht hatte, indem sie ihm ein Mahl von giftigen Pilzen bereitete. Noch am gleichen Tage kam die schwere Übeltat ans Tageslicht, und am anderen Morgen errichtete die Obrigkeit einen Galgen und hängte die Bäuerin auf. Aber ihr Leichnam verschwand, und auch der Leichnam des Mannes verschwand, und lange Zeit wusste niemand, wohin beide gekommen seien, bis eine Frau im Geistergrund einen grossen giftigen Pilz sah, der den Hut vor ihr abnahm und sagte: „Erbarme dich meiner, erbarme dich meiner!“ Als die Frau sich vor Schreck nicht rühren konnte, kam eine Schlange gekrochen und wickelte sich dem Pilz ums Bein. Und die Schlange sprach: „Ich fresse den Pilz; ich fresse den hässlichen, geizigen Pilz!“ Sie funkelte dabei mit den Augen.
Da ist die Frau schreiend davongelaufen und hat im Dorfe alles erzählt, und es hat sich lange Zeit niemand an den Geistergrund herangewagt.
Als aber einmal der Schuster Humpel erzählte, er habe nun die beiden auch gesehen, nur hätte diesmal der Pilz die Schlange gefressen, glaubte ihm niemand; denn die Leute waren sehr aufgeklärt, und Humpel war oft betrunken. — — —
Da war die andere Geschichte von dem Müller Eisert. Der war in der Zeit, da der alte Fritz Krieg führte, ins Lager der Russen übergegangen und war ein so schlechter Kerl geworden, dass er gegen seinen eigenen König kämpfte. Eisert besiegte auch den alten Fritz in der Schlacht bei Cunnersdorf und zog dann mit seinen Russen als ein prahlender Kriegsheld bis vor sein Heimatsdorf. Dort liess er Kanonen auffahren und alles zusammenschiessen und in Brand stecken. Dann ritt er auf einem pechschwarzen Ross durch das brennende Dorf und verhöhnte die Leute und zwang sie: „Gnädiger Herr!“ und „Euer Wohlgeboren!“ zu ihm zu sagen. Für diese Missetat wurde er bestraft. Als er wieder fortritt, begann auf dem Turme die Glocke zu läuten. Den Turm und die Kirche hatten die Russen, weil sie Christen sind, verschont.
O, wie drang der Ton der Heimatglocke dem argen Sünder so anklagend ins Ohr! Sie dröhnte ihm in die Seele wie Posaunenton des jüngsten Gerichts und versetzte sein Herz in eine ganz schreckliche Angst. Und plötzlich wandte sich das Ross, jagte zurück auf das Dorf zu, warf den bösen Mann am Eingang des Dorfes auf die Erde und galoppierte ganz allein in die finstere Nacht hinaus.
Der Müller schlich sich an den Turm, um zu sehen, wer da so schrecklich an der Glocke zöge. Da sah er, dass niemand in dem Turm war, dass die Glocke ganz von selber läutete. Darüber wurde er ganz unsinnig vor Angst. Schreiend und winselnd lief er um das Dorf herum, fand auf dem Wege einen Strick und erhängte sich in der Verzweiflung seines Herzens im Geistergrund, wie sich Judas erhängte, als er den Herrn Jesus verraten hatte.
Jetzt noch stand die Weide im Geistergrund, an der der Verräter sein elendes Leben selbst beendet hatte. — —
Das waren unfreundliche Geschichten. Und da war noch eine Geschichte, von der wir Kinder etwas gehört hatten, ohne sie recht zu verstehen. Und eben, weil ich sie nicht verstand, machte ich ein Gedicht darüber. Das Gedicht aber war so!
Das Mädchen.
Weil sie so schwer gesündigt hat,
Da wurd’ sie in den Sumpf gesenkt,
Nun wohnt sie in der Geisterstadt,
Wo niemand ihrer denkt.
Sie hatte ein so weisses Kleid,
Doch einen schwarzen Fleck darauf;
Da steht sie um die Sternenzeit
Oft aus dem Modergrabe auf
Und wäscht mit heisser Tränen Flut
Sich aus dem Kleid den schwarzen Fleck;
Passt auf, Ihr Leute, Gott ist gut:
Das Kleid wird weiss, der Fleck geht weg!
Das war das Gedicht, für das mir unsere gute Fee drüben in Eichenhofen den Kranz schenkte. —
Es gab Zeiten, wo Heinrich und ich uns sehr vor dem Geistergrund fürchteten. Um die Dämmerzeit wären wir nicht hingegangen, und auch wenn die Nebelmänner zwischen den Erlen hin und herkrochen, wagten wir uns nicht in diese Gegend. Heinrich machte sogar einmal den Vorschlag, den Geistergrund abzusetzen. Was ihm nicht passte, wollte er immer „absetzen“: den Förster, den Geistergrund, die Kreuzottern und die lateinische Grammatik. Es ist aber leider alles bestehen geblieben.
Unsere Fee hatte im allgemeinen nichts dagegen, wenn wir uns mal etwas fürchteten. Wenn wir sie fragten, ob es Räuber gebe, sagte sie „Ja!“, und wenn wir wissen wollten, ob wohl die Räuber je in unsere Gegend kommen könnten, sagte sie auch „Ja“! Dann bekamen wir allemal knallrote Backen, und unsere Stimmen wurden weniger krähend, als sie sonst waren. —
Einmal, als wir mit dem Förster zufällig wieder auf freundschaftlichem Fusse lebten, hätten wir ihm gar zu gern eine zahme Dohle abgebettelt, die er in seinem Forsthause hielt. Er machte eine geheimnisvolle Miene und sagte:
„Die kann ich euch nicht geben. Die ist ein ganz seltsamer Vogel. Ich habe sie auf der Judasweide gefangen. Dort hatte sie ihr Nest. Und sie ist eine verwunschene Prinzessin.“
Wir Jungen versuchten, ein ungläubiges Gelächter anzuschlagen, aber es klang ganz meckrig, und wir sahen mit Unbehagen auf den Vogel, der plötzlich auf uns zukam, so dass wir einige Schritte zurückwichen. Die Dohle funkelte uns mit ihren Äuglein an, schlug mit den beschnittenen Flügeln und schrie: „Beatrice! „Beatrice!“
Da sagten wir schnell: „Guten Abend“ und gingen davon. Der Förster kam uns nach.
„Ich sehe es ja ein, dass ihr die Dohle durchaus haben wollt,“ sagte er; „aber es würde euch nichts nützen, wenn ich sie euch schenkte, denn sie würde euch trotz ihrer beschnittenen Flügel entwischen. Wollt ihr die Dohle haben und behalten, so müsst ihr in die Judasweide abends in der Dämmerung einen Nagel einschlagen. Einer muss den Nagel halten, der andere muss hämmern.“
Darauf sagten wir, wir hätten es uns überlegt: eigentlich wüssten wir gar nicht recht, was wir mit einer Dohle anfangen sollten. Er, der Förster, brauche eigentlich einen solchen Vogel viel notwendiger als wir.
Der Förster spuckte auf den Boden, uns gerade dicht vor die Zehen, und sagte: „Wenn ich nicht wüsste, was ihr für mutige und kluge Kerle seid, würde ich denken, ihr fürchtet euch. Aber damit habt ihr recht, dass ich den Vogel notwendig brauche.“
„Wozu brauchst du ihn denn?“ fragte ich neugierig.
„Zum Geschichtenerzählen.“
„Zum Geschichtenerzählen? Ei, wieso?“
„Hm. Wenn ich abends müde aus dem Walde komme, ziehe ich mir die Stiefel aus, sperre die Hunde aus der Stube hinaus, setze mich in den Lehnstuhl und dann sag’ ich zu der Dohle: Beatrice, leg’ los!“
„Und — und dann legt sie los?“
„Legt sie los! Jawohl! Sie erzählt famos. Aber leider bloss lauter Räuber-, Gespenster- und Indianergeschichten. Andere weiss sie nicht. Alles zum Gruseln.“
Räuber-, Gespenster- und Indianergeschichten! Das hielten Heinrich und ich damals für das Schönste auf der ganzen Welt. Wir hatten uns heimlich solche Bücher geliehen und einige davon gelesen, bis es die Fee erfuhr und uns sagte: sie hätte uns nicht mehr lieb, wenn wir so etwas wieder täten, denn solche Geschichten seien schlecht und dumm und erlogen. Da hatten wir es aus Liebe zur Fee unterlassen. Aber wenn wir nun eine Dohle hätten, die so etwas erzählen könnte, das wäre doch etwas anderes, denn eine Dohle ist doch kein Buch. Und man käme dann auf ehrliche Weise zu interessanten Geschichten.
„Ja,“ sagte der Förster, „meine Grossmutter hört auch mit zu.“ Des Försters Grossmutter war 92 Jahre alt.
„Borg’uns einen Hammer und einen Nagel!“ rief Heinrich; „wir gehen jetzt gleich zur Judasweide! Nimm deine Büchse und deinen Hirschfänger und geh mit.“
„Wäre noch besser,“ meinte der Förster; allein müsst ihr gehen, und morgen abend ist die richtige Zeit; morgen ist Neumond.“ —
Der nächste Abend war trübe und regnerisch. Den ganzen Tag hatten Heinrich und ich in schrecklicher Aufregung zugebracht. Kein Essen hatte uns geschmeckt, kein Spiel hatte uns gefallen und die Fee hatte uns ein paarmal ganz eigentümlich forschend angesehen. Schwache Augenblicke kamen, wo uns die ganze Sache leid wurde; aber dann dachten wir an die verzauberte Dohle, die Räubergeschichten erzählen konnte, und ein Fieberschauer von Glück, einen solch wundersamen Vogel besitzen, packte uns.
Am späten Nachmittag holten wir aus dem Handwerkskasten einen Hammer und einen starken Nagel heraus und verbargen beides unter dem welken, abgefallenen Laub eines Kastanienbaumes.
Als die ersten Lichter angezündet wurden, schauten wir uns starr in die Augen. Unter Heinrichs Wimpern blitzte eine Träne. Aber ich — ich hätte für schöne Geschichten mein Leben hingegeben und fasste ihn an der Hand.
„Soll ich allein gehen?“ fragte ich.
„Nein, ich lass’ dich nicht allein gehen,“ sagte er.
Er war immer ein treuer Freund. Er borgte mir sogar seine Flinte.
So schlichen wir uns aus dem Hof hinaus und gingen über die Felder. Der Wind jagte grauweisse Wolkenfetzen über den Himmel, und es regnete sacht. Wir kamen nach Ameisenfeld. Die ganze Stadt schlief. Wir gingen an der Wotanseiche vorbei. Sie stöhnte leise im Winde. Durch die Brombeerhecken brachen wir. Heinrich trug den Hammer; ich hatte den Nagel in der Hand wie einen spitzen Dolch. Manchmal war es mir, als ob er glühend heiss sei.
Wir sprachen beide kein Wort, denn das hatte uns der Förster eingeschärft. Aber das Schweigen machte unsere Herzen noch beklommener.
Nun tauchte der Geistergrund auf. Die niederen Erlen und Weiden zogen sich am schwarzen Graben entlang, eine hohe Ulme ragte über sie hinweg. Unter ihr sollten der Pilz und die Schlange gesehen worden sein. Und links von ihr, ein Stückchen vom Bachrande weg, war die Judasweide.
Ich schloss die Augen. Wie ein Wirbel war es in meinem Kopf. Rote Ringe sah ich tanzen, ein brennendes Dorf sah ich, durch das auf schwarzem Ross der tolle Müller ritt. Dicker Schweiss rann mir unterm Hut hervor. Aber vorwärts ging es, immer vorwärts, zuletzt im Trab. Fest hielt ich den Nagel in der Hand. Heinrich strauchelte und fiel hin. Der Hammer entglitt ihm. Er hob ihn auf und packte mich fest am Arm. Unsere Herzen schlugen in rasender Schnelligkeit. Wir gingen immer noch vorwärts.
Da — erst sah ich’s — dann sah’s Heinrich — dann fielen wir auf die Knie —
Aus dem Erlengebüsch trat eine weisse Frau.
Die Frau aus dem Moor — die Frau, die ihr Kleid wäscht —
Wir schrieen laut um Hilfe.
Es war nicht die Frau aus dem Moor. Es war Heinrichs Mutter. Es war unsere Fee.
„Was wolltet ihr machen?“ fragte sie freundlich. Da gestanden wir alles.
Sie zürnte uns nicht; sie strich uns beiden über die Köpfe.
„Nun, habt keine Angst; es passiert euch nichts, ich bin ja bei euch!“
Ja, nun wussten wir: es konnte uns nichts passieren, da sie bei uns war. Heinrich schlang den Arm um seine Mutter und küsste sie zweimal, und dann nahm ich sie um den Hals und küsste sie dreimal.
Wir schritten ein paarmal an dem Graben auf und ab, ganz friedlich, als ob wir spazieren gingen, und nachdem wir etwa zehnmal ganz tief und erleichternd aufgeseufzt hatten, fühlten wir, dass unsere Herzen ruhiger wurden.
„Hat euch der Förster gerade um die jetzige Stunde bestellt?“ fragte die Fee.
„Jawohl, später als 6 Uhr dürfe es nicht sein, hat er gesagt.“
„So wollen wir einmal hinübergehen in den Geistergrund,“ meinte sie. Wir gingen ruhig und ohne Angst mit ihr über den schmalen Steg, der über den schwarzen Graben führte. Sie hielt uns an den Händen und sagte:
„Nun seht, wie still es hier ist, ebenso still wie überall im Walde.“
Dann gingen wir schweigend weiter. Über dem moorigen Grund wuchs dichtes, weiches Moos, und wir gingen ganz unhörbar. Einmal blieb die Fee stehen und sagte leise:
„Wenn euch etwas Seltsames oder Schreckliches auffällt, so erschreckt nicht oder schreit nicht; denn es ist ganz gewiss nichts wirklich Schreckliches.“
Da fassten wir grossen Mut. Plötzlich aber blieben wir doch in jähem Schreck stehen.
Unter der hohen Ulme war der Pilz, ein schrecklich grosser, blutroter Pilz, und unter dem Pilze lag eine Frau. Heinrich begann zu weinen, ich begann zu schlucken, die Fee aber fasste fest unsere Hände und rief ganz laut und ruhig: „Du Pilz und du Pilzweib, kommt einmal beide her!“
Da schnellte plötzlich der verhexte Pilz hoch in die Höhe, das Weib richtete sich auf, und eine tiefe Stimme sagte:
„O jemine, die gnädige Frau!“
„Kommt nur mal näher!“ befahl die Fee.
Unsere Herzen schlugen; aber es war jetzt mehr Neugierde als Angst.
Der Pilz und die Frau wandelten ganz langsam auf uns zu. Und plötzlich brach Heinrich in ein lautes Gelächter aus, und ich lachte unter Tränen mit.
Vor uns stand der Herr Förster. Er hatte sich die Kleider seiner zweiundneunzigjährigen Grossmutter angezogen, und der Pilz war der riesengrosse und brennend rote Regenschirm der alten Frau, der die Verwunderung der ganzen Gemeinde bildete, wenn die Alte noch einmal zur Kirche gehumpelt kam.
„Gnädige Frau — gnädige Frau —“ stammelte der Förster.
Er sah greulich aus. Der weite blumige Rock war ihm viel zu kurz, so dass seine groben Stiefel zum Vorschein kamen, das altmodische Leibchen war ihm viel zu schmal, so dass man seine Weste sah, und die alte Schleifenhaube sass ihm ganz windschief auf seinem struppigen Kopf. Den roten Schirm hatte er nun zugeklappt und quetschte ihn wie ein brennendes dickes Gebund in höchster Verlegenheit unter den Arm.
Die Fee blickte halb streng und halb lächelnd auf den sonderbaren Geist und sagte:
„Schämen Sie sich denn nicht, Förster, solche Faxen zu machen? Denken Sie nicht daran, was den Kindern vor Schreck passieren kann?“
Die Pilzbäuerin raffte in tödlicher Scham an ihrem Kleid herum.
„Gnädige Frau, weil halt — weil halt die beiden solche Schlingel sind.“
„Es gibt viele Schlingel auf der Welt, grosse und kleine,“ sagte die Fee.
Der Förster kraute sich die Schleifenhaube.
„Nun werd’ ich wohl gar meine Stellung verlieren,“ sagte der trostlose Hüter des Waldes. Die Fee lächelte milde.
„Etwas werden Sie schon verlieren: Sie werden den Jungen zur Strafe Ihre Dohle schenken!“
„Können sie kriegen, können sie kriegen!“ schrie da das Zauberweib voll Entzücken und haschte nach der Hand der guten Fee, die sich abwenden musste, weil es wohl mit ihrer Fassung vorbei war.
„Gnädige Frau,“ sagte der Förster, „wenn es erlaubt ist, möcht’ ich mich aus dieser sehr fatalen Begebenheit empfehlen.“
„Gehen Sie nur, gehen Sie nur!“ sagte sie und blieb immer mit dem Gesicht abgewandt.
Da machte er eine Verneigung, wobei ihm der geblümte Rock bis über die Kniekehlen emporrutschte, und dann ging er davon. Als er an den Bach kam, wollte er, wie er’s gewöhnt war, hinüberspringen; aber die Feiertagszier seiner Grossmutter wickelte sich um seine Beine und er plumpste dicht am Rande in die Flut. Das war für uns Kinder der glänzendste Spass. Gleich darauf pudelte er sich ans Ufer und jagte in fliegendem Gewande und mit flatternden Haubenschleifen davon. —
Die Dohle haben wir bekommen; da sie aber tagaus, tagein nichts anderes zu erzählen wusste als: „Beatrice! Beatrice!“, wurde sie uns langweilig.