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die heilige Stadt.

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Da stand ein kleiner Tempel. In dem Tempel war eine Figur des Heilands, die war so weiss wie Schnee. Vor dem Heiland stand ein Knabe, und über der Gruppe waren in goldenen Lettern zwei Sprüche in die Wand geschrieben:

„Dieses Kind wird der Grösste sein im Himmelreich!“ und:

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen!“

Der Knabe aber, der vor dem Heiland stand, war Heinrichs Bruder Ludwig, der frühzeitig aus dem Leben geschieden war.

Als Ludwig starb, war ein solches Herzeleid auch über uns Kinder gekommen, dass ich mit Heinrich nach der Insel ging, um unsere schöne Stadt Heinrichsburg niederzureissen.

„Wenn Ludwig nicht mehr bei uns ist,“ sagten wir zueinander, „so macht uns die Stadt keine Freude mehr.“

Wir stiegen in bitteren Schmerzen auf die Adlerkoppe. Noch einmal schaute ich über den Aussichtsturm hinaus ins weite Land, dann löste ich ihn aus der Erde und nahm ihn unter den Arm. Heinrich packte den Bahnhof in seine Mütze, und eben wollten wir den Alpenjäger und die Gemse von der Felskuppe holen, als Heinrichs Mutter uns nachkam. Ihr Gesicht war weiss, und sie ging ganz langsam; aber sie lächelte doch, als sie uns über die Köpfe strich und sprach:

„Lasst nur eure Stadt stehen; Ludwig hat jetzt eine viel schönere Stadt als ihr!“

Da nahm Heinrich den Bahnhof wieder aus der Mütze, und ich trug den Turm wieder auf den Berg, richtete ihn dort auf und überzeugte mich, dass die Aussicht über ihn hinweg wieder ganz herrlich schön sei.

Dann gingen wir drei nach Hause. Wir sprachen nicht. Es war gegen Abend, und der erste Stern tauchte auf am Himmel. Da holte Heinrich tief Atem und fragte mit stockender Stimme:

„Was für eine Stadt hat Ludwig?“

Die Mutter zog ihn an sich und sagte:

„Der liebe Gott kann ihm eine Stadt aufbauen aus lauter Gold.“

„Und hat er auch einen Berg und einen Turm darauf?“ fragte ich beklommen.

„Er steht auf einem Berg, der höher ist als alle Berge, und er kann von da über die ganze Welt sehen.“

„Bis Berlin zum Kaiser?“ fragte Heinrich verwundert.

„Bis Berlin zum Kaiser,“ sagte die Mutter, „und — bis zu uns dreien.“

„Sieht er uns jetzt gehen?“

„Ja, ich glaube, er sieht uns gehen.“

Da blies der Abendwind übers Feld, und ich fror.

„Dieser ist der Grösste im Himmelreich!“

Der goldene Spruch stand über Ludwigs Marmorbild, das vor dem Heiland stand. Mit scheuer Ehrfurcht dachten wir an den Spielkameraden, der mit einem Kranz weisser Rosen um die Stirn in jenes ferne Land gewandert und nun dort ein Fürst und Herrscher war. Da habe ich oft auf der Adlerkoppe neben dem Aussichtsturm gelegen und hinaufgeschaut in das ewige blaue Land und im tiefsten Herzen gewünscht, dass ich auch einmal den Weg finden möge dorthin.

Oft pilgerten wir nach der heiligen Stadt. Ja, selbst der Förster kam manchmal mit; er stand dann ganz still und hielt seinen grünen Hut in der Hand. Meist war unsere gute Fee mit uns dort. Ich habe sie nie weinen sehen um ihr totes Kind. Ein ruhiges Leuchten war immer in ihren Augen. Und sie ging mit uns aus der heiligen Stadt freundlich nach Heinrichsburg, nach Ameisenfeld und zu der Donarseiche, und sprach mit friedlicher, fröhlicher Seele mit uns von allen wichtigen Dingen, die im Walde zu sehen waren.

Sie war selbst wie die Kinder, und darum hatte sie schon hier auf Erden ein Himmelreich im Herzen.

Meinem Freunde Heinrich und mir aber ist durch unser ganzes Leben der goldene Spruch aus der Heiligen Stadt nachgegangen:

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen!“

Die fünf Waldstädte

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