Читать книгу Die fünf Waldstädte - Paul Keller - Страница 8
Heinrichsburg.
ОглавлениеDie Stadt lag auf einer Insel, die ringsum von dem Wasser eines Stromes umgeben war. Wenn ein starker Regen fiel, wurde dieser Strom so tief, dass wir uns die Hosen aufstreifen mussten, um ihn durchwaten zu können. In trockenen Zeitläuften blies der Wind den Staub vom Flussgrunde bis in unsere Stadt. Wir warfen uns dann platt auf die Erde und redeten vom Samum.
Die Insel war mehrere Steinwürfe lang und fast eben so breit. Ihr Gebiet umfasste die Hohkönigsburg, die Stadt selbst, das Felsengebirge, einen Kriegs- und einen Handelshafen, ein Jagdschloss, eine Meierei und eine Hundehütte. In der Stadt gab es ein Rathaus, eine katholische, evangelische, jüdische und heidnische Kirche, ein Museum, ein Hotel, sehr viele Geschäfts- und Wohnhäuser und einen Reichstag.
Die grössten Gebäude waren die Hohkönigsburg, das Hotel und die Hundehütte. Die Burg war im 19. Jahrhundert vom Zimmermann Schadel erbaut, und der Bau hatte über 70 Mark verschlungen. Dafür war er aber auch prächtig und stattlich. Die Burg umfasst nur den Thronsaal; für mindere Räume war kein Platz. Eine stolze Fahne wehte vom Dache, und an der Pforte zeigten zwei angeklebte Bilder grimmiger Löwen, von denen der eine ein Tiger war, dass hier im Schloss Macht und Grösse wohne und jeder ein Kind des Todes sei, der sich den hier herrschenden Gewalten widersetze. Bei Regenwetter wurden sämtliche Hauptteile der Stadt mit Wachsleinwand überdeckt.
Das Hotel hatte früher dem Pächter einer Kirschenallee gehört, der darin sein Wächteramt ausgeübt hatte. Kinder unter vier Jahren konnten erhobenen Hauptes durch seine Pforten schreiten, und auch wir brauchten uns nicht sonderlich zu bücken, wenn wir eintraten. Es hiess „Hotel Bristol“ und trug an seiner Front viele Schilder, als: „Zivile Preise“, „Warme und kalte Speisen zu jeder Jahreszeit“, „Eintritt verboten!“ und was etwa sonst noch an ein gutes Hotel an Anschlägen gehört.
Der einzige ständig bewohnte Raum von Heinrichsburg war die Hundehütte. Hier hauste Pluto, der Wachhund. Er war von strengem Charakter, aber gutem Appetit, deswegen geriet er in Verlegenheit, wenn ihm einer, den er eigentlich bekämpfen sollte, einen Knochen anbot. Auf diese Weise hat Pluto es leider nicht verhütet, dass uns eines Nachts das Hotel gestohlen wurde. Er stand am Morgen nach der Unglücksnacht mit albernem Gesicht auf der leeren Baustelle, wedelte verlegen mit dem Schwanze und bellte nach dem Ufer hin, wie einer bellt, der kein gutes Gewissen hat. Den Bestechungsknochen hatte er an einer leicht kenntlichen Stelle verscharrt.
Bei der letzten Volkszählung in Heinrichsburg wurde Plutos Flohbestand in Fell und Hütte auf zusammen 250 Stück lebend angegeben. Natürlich nur schätzungsweise, wie es bei wilden Stämmen immer geschieht. All dieses Kleinvolk hielt Pluto in guter Zucht; Übergriffe ahndete er mit scharfer Kralle.
Pluto war sehr vielseitig von Beruf: des Nachts musste er wachen, am Tage zog er als prächtig aufgeschirrtes Ross den Triumphwagen des Königs, Sonntags trat er in der Stierkampfarena mit grimmem Mute als Bulle auf, und oft spielte er im Felsengebirge den Drachen oder fing in der Stadt Mäuse, welche sehr lästig waren, weil sie uns bereits die Rathaustreppe und einen Nachtwächter aufgefressen hatten. Nur als Delphin hatte Pluto kein Talent; denn allemal, wenn wir auf seinem Rücken durch die Fluten des Stromes ziehen wollten, warf er uns ab, sprang ans Ufer und schüttelte sein Fell, was kein Delphin tun darf.
Das Felsengebirge war ein Steilgebirge von durchaus alpinem Charakter. Seine grösste Erhebung, die Adlerkoppe, hatte eine relative Höhe von 2500 Zentimetern; sie war im Winter mit „ewigem Schnee“ bedeckt und fiel steil zum Flusse ab, von dessen Seite her sie nur von den geübtesten Bergsteigern mit Nagelschuhen, Eispickel und nach vorangegangener Anseilung zu erreichen war. Ein prächtiger Aussichtsturm von 30 Zentimeter Höhe krönte ihren stolzen Gipfel, und wer sich auf die Erde legte und über diesen Aussichtsturm hinweg in die Ferne sah, genoss die herrlichsten Landschaftsbilder. Dicht unter ihm das wildzerklüftete Gebirge, an dessen Fuss der Strom mit seinen weissen Segelbooten und seinem Spiritusdampfer brandete, dann die Stadt, die „wie eine Spielzeugschachtel“ ausgebreitet lag, die trotzige Hohkönigsburg, die dunkel aufragende Hundehütte, der weite Wald und das grüne Wiesenland bis weit hinaus an den Horizont in das Gebiet von Geistergrund und Ameisenfeld.
Wie ich inzwischen auch herumgekommen bin in fremden Landen und Erdteilen: die Aussicht von der Adlerkoppe bei Heinrichsburg ist die einzige, die ich in dem Reisebuch meines Lebens mit drei Sternen bezeichnen mag.
Der Abstieg von der Adlerkoppe nach der Stadt bot nur mässige Schwierigkeiten und war ohne Lebensgefahr zu bewerkstelligen. Er führte an einer grünen Alm vorüber, auf der eine Herde buntgescheckter Kühe weidete und ein Hirtenbub vor seinem Alpenhäuslein sass und lieblich auf einer Schalmei spielte. Nur eine drohende Kuppe ragte noch auf. Dort legte ein kühner Alpenjäger eben auf eine Gemse an. Wenn man sich die hohlen Hände als Fernglas vor die Augen hielt, konnte man die aufregende Szene so oft beobachten, wie man vorbeikam.
Etwa in halber Höhe des Gebirges war der „Gebirgsbahnhof“ angelegt. Er hatte einen sehr schmuck eingerichteten Wartesaal, eine Wegeschranke und eine Telegraphenstange ohne Draht. Der Zug bestand aus einer Lokomotive und drei allerliebsten Aussichtswagen. Die Passagiere waren immer dieselben: ein Engländer, ein Professor mit einer Botanisiertrommel und eine Köchin mit einem Korb am Arm, die jedenfalls auf der Höhe nach Suppengemüse gesucht hatte. Wenn nun auch der Zug nicht übermässig besetzt war, so war es doch herrlich anzusehen, wenn er in die Tiefe fuhr. Er machte die kühnsten Kurven, setzte über Viadukte, die über schauerliche Abgründe gespannt waren, raste durch pechdunkle Tunnel, durchbrauste die Ebene und fuhr endlich donnernd in den Bahnhof von Heinrichsburg ein, wo es sich bei dem Kommando: „Alles aussteigen!“ ärgerlicherweise meist herausstellte, dass der Professor, der Engländer und die Köchin auf der raschen Fahrt von den Sitzen gepurzelt waren und auf dem Fussboden lagen. Ein Eisenbahnunfall wurde trotzdem, wie auf allen Gebirgsbahnen, nie bekannt.
O, und die Stadt Heinrichsburg selbst! Fürwahr, ein Fremdling hätte sich in ihrem Gewirr von Strassen und Plätzen rettungslos verlaufen. Auf dem Marktplatz stand das Rathaus; da guckte der Bürgermeister den ganzen Tag zum Fenster heraus. In der katholischen Kirche war beständig Hochzeit, in der evangelischen immer Kindtaufen. Im Judentempel sassen tagaus, tagein drei Männer mit Zylinderhüten auf dem Kopf, und in der heidnischen Kirche schlachtete ein Priester, namens Mohammed, ständig ein Kind. Das Museum umfasste vier Bilder und zwei Statuen, der Reichstag war immer geschlossen. Wir haben ihn, da wir nichts Rechtes mit ihm anzufangen wussten, später in eine „Aktien-Brauerei“ umgewandelt.
Die Pracht der Auslagen, die sich die Geschäftshäuser leisteten, war erstaunlich. Allein der Fleischerladen mit seinen feuerroten Schinken und brennend braunen Würsten war ein kleines Weltwunder. Majestät sprach nebst hohem Gefolge täglich persönlich in diesem Geschäfte vor, dessen Warenbestand immer pünktlich erneuert wurde.
Heinrichsburg war eine werktätige Stadt: da sass der Schuster vor seinem Haus und zog den Pechdraht, da hieb in seiner dunklen Höhle der Schmied auf den Amboss, da sass der Weber am Webstuhl. Lastwagen fuhren die Strasse entlang oder hielten vor dem Wirtshaus; der Postillon sass hoch auf dem Bock und blies sein lustiges Signal. Alle Handwerker waren vertreten, und wo ein Gewerbe fehlte, da wurde zu Weihnachten oder zum Geburtstag Seiner Majestät König Heinrichs I. Abhilfe geschafft.
Nur eine Schule gab es in Heinrichsburg nicht. Majestät meinten, das sei nicht lustig und verderbe den Spass. Dafür marschierten glänzende Soldaten auf den Strassen, und die Musikkapelle zog den ganzen Tag mit Tiradebumdieh durch die glückliche Stadt.
Merkwürdig war der Denkmälerbestand von Heinrichsburg. Von historischen Grössen hatten Kaiser Wilhelm, Blücher, Zieten und der alte Fritz je ein Monument. Dann hatte Majestät selbst ein Denkmal, ebenso seine erlauchten Eltern: Rittergutsbesitzer Gerhardt und Frau. Diese Denkmäler bestanden aus Photographien, die in Steinpyramiden eingemauert waren. Bei Regenwetter wurden Zigarrenschachteln als Schutzdecke darüber gestülpt. Dann aber waren in Standbildern noch verewigt Robinson Crusoe und der „Pfadfinder“. Diese Denkmäler waren aus Holz, von Sr. Majestät selbst entworfen und modelliert. Sie wurden bei Regenwetter nicht zugedeckt; denn sie waren „abgehärtet“. Bei festlichen Gelegenheiten wurden sämtliche Denkmäler illuminiert.
Im Gerichtsgefängnis sassen Napoleon und der Räuberhauptmann Schinderhannes.
Herrlich war es draussen am Hafen. Oft lagen wir da am Ufer und sahen auf die weite, unübersehbare Wasserfläche und sprachen kein Wort. Wenn ein Schiff seine weissen Segel blähte und langsam von dannen fuhr, dann sahen wir ihm nach, dann schaute unsere junge Seele weit hinaus bis in die fernen Länder, nach denen das Schiff fuhr, zu fremdartigen Menschen, die in Zelten auf ewig grünen, ewig weiten Wiesen wohnten und andere Blumen und andere Sterne sahen als wir. Und all die tausend Gefahren, die das Schiff haben würde in Scylla und Charybdis, bei Seeräubern und Meerungeheuern, erwogen wir und kämpften alle Not selbst durch und waren dabei, wenn das siegreiche Schiff eines Tages doch stolz und sicher in den Hafen fuhr.
Manchmal kam unsere gute „Fee“, die Schutzgöttin unseres Insellandes, zu uns herüber. Dann feuerten unsere Strandkanonen Salut, die Ehrenwache stand am Ufer, die ganze Militärkapelle war aufgestellt, und von allen öffentlichen und vielen privaten Häusern wehten Fahnen. Der König ging der „Schutzgöttin“ entgegen und küsste ihr die Hand, und sie ging mit freundlichen Augen durch unsere Stadt, und wo es an etwas fehlte, das sah ihr gütiger Blick und ergänzte alsbald ihre geschickte, freigebige Hand.
Nur Pluto war an solchen Feiertagen eingesperrt. Wurde er losgelassen, so fuhr er in einer unsinnigen Freude durchs ganze Land, riss die Stadt um und brachte den Zug zum Entgleisen.
O, es war schön in Heinrichsburg! Die grössten Ehren habe ich dort genossen: ich war Grosswesir und Stierkämpfer, Hofdichter und Scharfrichter Hotelportier und Mitregent. Ich habe die Strassen ausgebessert und das Gesetzbuch verfasst, ich war Dachdecker und Theaterdirektor, Seeräuber und Staatsanwalt. Selbst die Frau Königin bin ich gewesen; da hatte ich lange gelbe Locken und ein weisses Kleid mit einem Goldgürtel und ein Taschentuch, mit einer Krone gezeichnet. Am liebsten war ich Leuchtturm. Dann trug ich eine Laterne auf dem Kopf und liess ihr Licht nach allen Seiten spielen, bis die Schiffe, die in Wetter und Rot draussen waren, glücklich den Hafen erreicht hatten.
Unsere gute Fee! Wenn ich jetzt, da ich lange, lange schon ein Mann geworden bin, manchmal träumend die Augen schliesse, sehe ich ein weites Gelände vor mir, dadurch ein schmaler Weg führt. Es ist der Weg, den ich durch mein Leben gegangen bin. Grüne Wälder, aber auch öde Schutthalden sind an seiner Seite, und es fehlt nicht an Denksteinen, und mancher der Denksteine ist ein Marterl. Wenn ich nun so sitze und träume, ziehen Hunderte und Tausende von Menschen an meiner Seele vorüber. Ihnen allen bin ich einmal begegnet, bin ein Stücklein mit ihnen gewandert. Aber die meisten schauen mich so fremd an, als hätte ich sie nie gesehen: alle die, die mir gleichgültig waren und alle die, die mir einmal wehe taten. Sie hat mein Herz vergessen. Die aber, die mir etwas Liebes, Gutes erwiesen, reichen mir alle die Hand, und ihre Stimme klingt mir wie die eines Freundes von gestern.
Und wenn sie kommt, die gute Fee meiner Kinderzeit, schlägt mir auch heute noch das Herz in Liebe für sie; ich hasche nach ihrer weissen Hand und küsse die Hand und lege sie auf meine Stirn. Dann wehen ihre blonden Haare im Wind, und ihre Augen sind schön und lieb wie in alten Tagen. Und sie nimmt meine Seele mit sich und führt sie in