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Montag, 5. 6. 1944, vor Mitternacht

Als sie aus dem stillen und kühlen Korridor in die Dachstube tritt, nimmt sie einen heißen und duftenden Lärm wahr. Sie hört durch das offene Fenster die Grillen zirpen, und dabei fällt ihr ein, daß sie bei ihrer Ankunft in der Festung auf den Wällen Männer mit Sensen gesehen hatte. Der Gestank von Berlin hatte ihr immer wieder Brechreiz verursacht. Den intensiven Duft des welkenden Grases empfindet Christine wie ein Labsal.

Beim Abendessen mit den Eltern fröstelte es sie manchmal. Die Mauern des Herrenhauses sind, wie die ganze Festung, aus Quadersteinen gefügt. Bei geschlossenen Fenstern strahlen sie im Sommer Kälte aus. Sie ist froh, daß sie ihr Fenster offengelassen hat. Sie zieht sich im Dunkeln aus, stützt die Ellenbogen auf den breiten hölzernen Fenstersims und legt die Handflächen der gekreuzten Arme auf die Brüste. Ihr Körper, in den letzten Monaten einem fremden, tückischen Tier ähnlich, gehört ihr wieder.

Es kommt ihr unwirklich vor, daß sie noch heute morgen im Internat aufgewacht war. Zu diesem Traum gehört auch die Direktorin, ‹die Kuh› genannt, die ihr mit säuerlichem Lächeln befahl, sie solle geschwind ihre persönlichen Sachen zusammenpacken. Vor allem gehört dazu jener junge schlanke Offizier mit einem Gesicht, wie sie es seit ihrer Kindheit nur auf Bildern mit Engeln gesehen hatte. Er hatte ihren Koffer zum Wagen getragen, wo der Fahrer des Vaters sie förmlich begrüßte. Unterwegs schlief sie ein.

Erst das Kopfsteinpflaster der schmalen Brücke, in deren Verlängerung die alte Festung emporragte, hatte sie geweckt. Die Sonne, die gerade hinter ihren Dächern und Wällen versank, verwandelte sie in einen riesigen Scherenschnitt aus schwarzem Papier. Vor dem glühenden Himmel bewegten sich jedoch ganz oben im rhythmischen Schwingen der Sensen die winzigen Gestalten der Schnitter.

Dann das mächtige Tor aus dunklen Quadern, das gleich einer Schleuse von zwei schweren Eisentoren mit eingelassenen Türchen verschlossen war. Danach eine kurze Lindenallee und dahinter das zweigeschossige Herrenhaus. Auf seiner Schwelle die Mutter und der Vater, der ihr sogar ein Lächeln entgegenschickte!

Daß er den ganzen Abend über wie gewohnt unnahbar war, konnte ihrer festlichen Stimmung nichts anhaben. Obwohl die Mutter stets Christines Verbündete gewesen war, hatte sie insgeheim ihn von klein auf lieber gemocht. So weit sie zurückdenken konnte, hatte sie ihn nur in Uniform gesehen, mal in dieser oder jener, und fast immer in Gesellschaft von Männern, die ihm unterstanden. Ihr gegenüber gab er sich oft wortkarg und beinah unpersönlich. Im Beisein ihrer Mutter, der er grenzenlos ergeben war, taute er meist ein wenig auf. Untergebene, aber auch Vorgesetzte, alle zollten sie ihm Respekt, der eine Mischung aus Bewunderung und Furcht spüren ließ. Christine liebte den Vater und ertappte sich öfter dabei, daß sie eifersüchtig auf die Mutter war.

Sie hatte sich damit abgefunden, nichts über seine Aufgaben zu wissen. Eine gewisse Zeit litt sie darunter, wenn Mitschülerinnen die Briefe ihrer Väter von der Front in der Klasse vorlasen. Die seinen eigneten sich dazu nicht. Er schrieb darin über Bücher, die er sogar ins Feld mitnahm und wünschte, auch Christine würde sie kennen. Neben den Briefen anderer Soldaten, aus denen kämpferische Mannhaftigkeit dröhnte, muteten seine wie die Briefe einer Tante an. Aber es fragte auch niemand nach ihnen, weder Freundinnen noch Lehrerinnen. Seine Autorität vermochte auch aus der Ferne zu wirken.

Er war einer der wenigen Offiziere, die man nach ihrer Verwundung aus der Ukraine ausgeflogen hatte. Erst nach einer Woche rief er zu Hause an, er sei hier in Berlin und sie könnten ihn besuchen. Völlig verstört war sie an Mutters Seite durch die Säle gegangen, die mit verstümmelten Männern überbelegt waren. Ihre Gesichter waren aschfahl und abgehärmt, ihre Augen schienen schon in eine andere Welt zu starren. Der Vater war frisch rasiert, roch nach seinem «Pitralon» und saß in einem sauberen, gestärkten Hemd aufrecht im Bett, als wollte er im nächsten Augenblick eine Stabsbesprechung abhalten. Beim Anblick der beiden lächelte er ein wenig, küßte sie und bat, ihm zuallererst zu berichten, wie es ihnen in den vergangenen Monaten ergangen sei. Außer sich vor Freude, schwatzte Christine allerlei durcheinander und beneidete die Mutter, daß sie seine Rechte halten durfte.

Als sie endlich nach seiner Verletzung fragen konnten, sagte er nur, der Stabswagen sei auf eine Mine gefahren, die Banditen gelegt hatten, und er als einziger von vier habe überlebt. Ihre Begeisterung über dieses Wunder dauerte nur so lange, bis eine abgehetzte Krankenschwester sein Essen brachte und die Mutter bat, ihm das Fleisch kleinzuschneiden. So erfuhren sie es: Man hatte ihm den linken Arm über dem Ellenbogen und das linke Bein oberhalb des Knies amputiert.

Nach Hause kam er nach Monaten mit Prothesen, der Ostmedaille, dem EKI, dem Verwundetenabzeichen in Silber und einem neuen Marschbefehl. Wie gewöhnlich ließ er sie nur den ungefähren Ort wissen: das Protektorat Böhmen und Mähren, Kreis Leideneritz. Dann traf Christine der nächste Schock: Die Mutter war nicht gewillt, den geliebten Mann der gleichgültigen Fürsorge von Sanitätern zu überlassen, und sie beschloß, ihn zu begleiten. Der Tochter fehlten nur noch zwei Jahre bis zum Abitur. Es wäre töricht gewesen, eine Schule zu verlassen, in der sie gut war. So entschied sich die Familie gemeinsam für ein Mädcheninternat. Jammerschade war es, daß Christine nun ihren Ballettunterricht aufgeben mußte. Das Internat lag in Schöneberg, in der Nähe der Schule, und die Anstaltsleitung erlaubte grundsätzlich keinen privaten Ausgang außer am Sonntag.

Erstaunt war sie, wie schnell sie sich eingewöhnte. Strenges Regiment war sie von zu Hause gewöhnt, in der Anonymität des Internats bedeutete es für sie sogar ein gewisses Maß an Freiheit. Die Schule selbst genoß einen Sonderstatus und deshalb auch zahlreiche Privilegien. Arbeitseinsätze fanden nur von Zeit zu Zeit und unter nicht unangenehmen Bedingungen statt. Einmal in der Woche fuhren die Mädchen nach Wannsee, um dort in einer gutgetarnten Fabrik feinen Draht auf Spulen zu wickeln. Danach durften sie sich am See, der in einem Sperrgebiet lag, nach Herzenslust austoben.

Auch Karten für die Theater, die wegen der nächtlichen Bombenalarme schon am Nachmittag begannen, sofern sie überhaupt noch spielten, bekamen sie zugeteilt und wurden sogar hin- und zurückgekarrt. Sie vergötterte das Ballett und man wußte, wie sehr sie es vermißte; deshalb war sie immer unter den Auserwählten. Sie lernte mühelos, war Kreissiegerin im Hochsprung, und es stand fest, daß sie ab Herbst Sportführerin des «Bundes deutscher Mädchen» an der Schule sein würde. Das ganze Jahr über hatte sie eigentlich nur drei echte Sorgen: Sie vermißte ihre Eltern sehr, und die häufigen, langen Briefe der Mutter steigerten ihre Sehnsucht nur noch; sie fürchtete sich zunehmend vor den Bombenangriffen, obgleich das Villenviertel, in dem das Internat lag, bislang verschont geblieben war; und immer stärker beunruhigte sie der eigene Körper.

Die Mutter hatte sie zwar beizeiten aufgeklärt. Trotzdem glaubte sie jedesmal, sie müsse sterben. Ihre Tage bekam sie zum ersten Mal mit sechzehn – der Schularzt schrieb dies lobend ihrer sportlichen Ertüchtigung zu –, und sie waren von immer heftigeren Schmerzen und stärkerem Blutverlust begleitet. Im Internat wäre es undenkbar gewesen, deshalb nicht zur Schule zu kommen. Die «Kuh» hätte es als eine Art Hochverrat angesehen. Denkt, Mädchen, an die deutschen Männer! Sie vergießen ihr Blut mit zusammengebissenen Zähnen für Großdeutschland – und auch für euch! Was hätte sie da wohl von der Tochter eines Mannes gehalten, der dem Vaterland Arm und Bein geopfert hatte.

Ihr Leiden wurde immer unerträglicher. Höchstwahrscheinlich war sie das einzige Mädchen in ihrer Klasse, das noch keine erotischen Erfahrungen gemacht hatte. Jede ihrer Mitschülerinnen, alles Töchter von Funktionären und Offizieren, die an allen Ecken und Enden des deutschen Europa Dienst taten, hatten schon eine flüchtige oder sogar ernste Bekanntschaft, meist aus den selben Kreisen stammend. Die «Kuh», von ihrer Moralpredigt zu Tränen gerührt, die deutsche Frau gebe sich dem deutschen Manne erst in der Hochzeitsnacht unberührt hin, hatte dafür auch praktisch gesorgt. Ihre Aufsichtsgewalt als Vorsteherin dieses weltlichen Klosters war allerdings nicht total: Den freien Sonntagnachmittag von zwei bis acht durften die Mädchen außerhalb des Internats verbringen.

Die jungen Männer in den feschen Uniformen aller Waffengattungen oder in modischen Knickerbockern ziviler Dandys, die ihre «Verlobten» oder «Cousinen» in geliehenen Autos zu geliehenen Wohnungen brachten, reizten Christine ebenso wie die Direktorin. Ihr war unbegreiflich, daß sich bisher noch kein einziger auch nur im geringsten für sie interessiert hatte. Und wenn die Mädchen in den verdunkelten Schlafsälen voreinander die Künste ihrer Liebhaber in allen Details priesen und die Gefühle, die diese in ihnen weckten, beschrieben, kam sie sich gedemütigt vor. Ihr wurde oft so übel, daß sie aufstehen und hinausgehen mußte.

Im Gemeinschaftswaschraum ließ sie dann das Nachthemd fallen und betrachtete sich im Spiegel. Obwohl sie sich für ganz hübsch hielt und hörte, wie so manche Kameradin das von ihr behauptete, fand sie immer weniger Gefallen an sich selbst, bis ihr Körper sie fast anekelte. Die unvermeidlichen Begleitumstände ihrer Körperlichkeit erschienen ihr wie ein Gebrechen, von dem allein sie gezeichnet war, und alle Welt wußte davon.

Dabei war die Sache doch ganz einfach: Ihre zunehmende Ratlosigkeit und Gereiztheit schufen eine Barriere, die sie von Vertraulichkeiten im voraus ausschloß, und der Nimbus des Vaters zwang die möglichen Verehrer noch dazu zur Vorsicht. Sie fand darin aber nur ihren Unwert bestätigt.

Im Mai dieses Jahres erlebte Berlin den bisher schlimmsten Luftangriff. Den Meldungen des Oberkommandos der Wehrmacht zufolge waren daran mehr als zweitausend anglo-amerikanische Bomber beteiligt. Das Stadtzentrum hörte auf zu existieren. Zwar gingen auch diesmal an der Peripherie in unmittelbarer Nähe des Internats keine Bomben nieder, doch hingen dichter Qualm und der Gestank nach schmorendem Asphalt und versengtem Menschenfleisch bald wie schwerer Nebel auch über dem Villenviertel. In den Stunden, die sie im Luftschutzkeller verbringen mußte, tat Christine, als schliefe sie, in Wirklichkeit aber betete sie verzweifelt.

Der Gott von Familie und Internat war selbstverständlich der Führer. Seine historische Mission, das natürliche Recht des deutschen Volkes auf Weltherrschaft zu verwirklichen, wozu die Vorsehung ihn berufen hatte, wurde tagtäglich durch das Blut von Tausenden von Feinden bestätigt. Diese Nacht im Luftschutzkeller aber, der nur noch fragwürdigen Schutz bot, wenn auch bei entfernteren Detonationen Staub und Mörtel von der Decke rieselten, schien den Führer der Deutschen zu überführen, weder unfehlbar noch unsterblich zu sein. In ihrer Todesangst wandte sich Christine seinem allmächtigen Vorgänger zu.

Die Eltern waren evangelisch und hatten auch die Tochter taufen lassen, im Jahre sechsundzwanzig war die Bewegung in dieser Hinsicht noch recht liberal und ließ positives Christentum gelten. Bald nach der Machtübernahme geriet der Vater in Rage, als die Kirche in der Sternstunde der Nation eine vage Position einnahm, ja sogar Rücksicht gegenüber den offenkundigen Volksfeinden verlangte. Die Familie trat geschlossen aus der Kirche aus.

Religionsstunden hatte Christine nur in der ersten und zweiten Klasse besucht. Bleibenden Eindruck hinterließ allerdings bei ihr die Geschichte vom Schöpfer, dem Allmächtigen, der für die Menschheit seinen einzigen Sohn opferte, um ihn dann vom Grabe auferstehen zu lassen und zu sich in den Himmel zu holen. Wann immer sie eine Statue oder ein Gemälde des Gekreuzigten sah, wuchs in ihr mit den Jahren ein sonderbares, ehrfurchtsvolles Vertrauen zu ihm heran. Hatte man ihr nicht bei der Taufe die weibliche Form seines Namens gegeben? Als nun das Internatsgebäude in seinen Grundfesten erzitterte, daß man meinte, es müßte jeden Augenblick wie eine Kinderburg aus Sand zusammenfallen, betete Christine zum Vater jenes Christus, er möge auch sie aus diesem Kellergrab erlösen. Sie wußte nicht, was sie mit dem Himmel anfangen sollte, und bat ihn flehentlich, sie den Eltern zurückzugeben.

Davon wagte sie dem eigenen Vater natürlich kein Wort zu schreiben, auch der Mutter nicht, weil sie wußte, sie würde bei ihm ein gutes Wort für die Tochter einlegen. Weder mit Zärtlichkeiten noch mit Kümmernissen hatte sie ihn jemals belästigt. Ihr Leben lang hatte sie sich innigst danach gesehnt, er möge sie ebenso schätzen wie sie ihn. Als ihr die «Kuh» einige Tage darauf verlegen mitteilte, sie müsse auf höhere Weisung das Schuljahr vorzeitig beenden und den Eltern ins Protektorat folgen, glaubte Christine fest, dieser Gott sei auch allwissend. Sie gelobte, die Botschaft der Barmherzigkeit an den ersten Nächsten weiterzugeben, der sie darum bitten würde.

Der erste Nächste wartete beim Pförtner und bat sie um Koffer und Tasche. In den Gesichtern der Kameradinnen, die sie zum Abschied begleiteten, las sie die neidvolle Bestätigung ihres eigenen Eindrucks, wohl nie zuvor einen so schönen jungen Mann gesehen zu haben. Der Offizier in der schwarzen Uniform, dessen Name sie in der Aufregung überhört hatte, mußte mindestens einsneunzig sein, er hatte eine Taille wie eine Ballettänzerin. Daß er trotzdem nicht weiblich wirkte, verdankte er den breiten Schultern, den kräftigen, wenn auch schmalen Händen und vor allem seinem Kopf.

Während die feine faltenlose Haut seine Jugend verriet und die hellblauen Augen die durch nichts getrübte Seele eines Kindes widerzuspiegeln schienen, war sein Gesicht eine Mustersammlung all dessen, was man üblicherweise als männlich bezeichnete. Die Stirn und die ausdrucksvollen Wangenknochen zeigten Intellekt an, Kiefer und Kinn strahlten Energie aus. Feines blondes Gekräusel lugte unter der Mütze hervor. Das Symbol des Todes darauf verlieh seiner Erscheinung eine unirdische Wirkung. Christine erschien es, als habe der liebe Gott ihr einen seiner Cherubim gesandt.

Er bat sie um Verständnis, daß er als Wagenkommandant vorn sitzen müsse, und das war alles. Die belanglosen Fragen, mit denen sie anfangs ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, beantwortete er einsilbig. Vaters Fahrer fühlte sich indes verpflichtet, sie mit einem Schwall von Nichtigkeiten zu überschütten, und sein Geschwätz war genauso langweilig wie die Landschaft rechts und links der Autobahn. Beleidigt beschloß sie so zu tun, als schliefe sie. Und schließlich fiel sie, von all den Eindrücken mitgenommen, in einen echten, tiefen Schlaf.

Jetzt spürt sie, wie der warme Duft und die eintönige Melodie der Grillen sie wieder betäuben. Gleichzeitig nimmt sie wahr, daß ihr der Bauch nicht mehr weh tut, der gerade heute morgen zu schmerzen anfing. Eine Woche zu früh, wahrscheinlich vor lauter Aufregung. Im letzten Moment ging sie ins Haus zurück, um sich noch rasch zu versorgen. Sie kannte sich und hatte keine Ahnung, wie sie die lange Fahrt überleben würde. An der Pförtnerloge jedoch stand der blonde Offizier, und Christine wird jetzt mit einem Mal klar, daß sie von jenem Augenblick an die Schmerzen los war.

Schrill pfeift eine Lokomotive, und gleichzeitig ertönt das Stakkato der Dampfstöße. Irgendwo ganz in ihrer Nähe kommt ein schwerbeladener Zug in Fahrt. Ihre Berliner Wohnung hatte am Anhalter Bahnhof gelegen. Der Vormieter, ein Rechtsanwalt, Jude wahrscheinlich, der aus gutem Grund rechtzeitig auf und davon war, hatte sie mit Holztäfelung und gepolsterten Türen ausstaffieren lassen und mit massiven Möbeln eingerichtet. Christine fühlte sich durch all das eingeengt, verliebte sich aber bald schon in den Ausblick von ihrem Balkon auf die Schienenstränge, die sich aus der riesigen Halle wanden. Züge schläferten sie ein und weckten sie auf. Eine sie immer wieder von neuem erregende Erscheinung waren die Perlenketten der leuchtenden Waggonfenster. Sie schienen von dem über der Großstadt sich wölbenden Nachthimmel herabzuschweben, um dann wieder zu ihm aufzusteigen. Im Krieg erloschen die Lichter.

Als sie im letzten Vorkriegsjahr auch in der Oberprima lauter Einsen hatte, machte ihr der Vater ein wunderbares Geschenk: Sie durfte mit der Mutter in die Ferien an der See bis Stralsund Erster Klasse fahren. Der schwere Duft von Plüsch und das helle Klirren der silbernen Tabletts, auf denen ihnen ein befrackter Ober das Frühstück im Coupé servierte, begleiteten sie bis heute.

Voriges Jahr sollten die Mädchen einen Aufsatz schreiben, wie sie sich den Frieden vorstellten. Die Palette der Wünsche, inspiriert meist von den Schilderungen der Eltern, reichte vom Diner im Pariser Maxim über ein Feuerwerk am Berliner Funkturm bis zu einer Modenschau mit Astrachan-Pelzen in Moskau. Christine erntete Erfolg für ihre Idee, in einem nicht mehr verdunkelten Zug durch das wieder strahlende Europa fahren zu können. Erster, versteht sich. Jeder Zug schien ihr der Bote einer herrlichen weiten Welt zu sein, die ihrer harrte.

Jetzt war diese Welt von Fronten zerrissen, ihren Balkon gab es nicht mehr, und Christine fand nicht den Mut, sich die Trümmer ihres einstigen Zuhause anzuschauen. Ausgerechnet die häßlichen Möbel hatte die Mutter mitgenommen, nun standen sie hier wieder herum. Die Lokomotive war in Fahrt gekommen und schnauft ganz in der Nähe vorbei. Falls es keine durch einen günstigen Wind hervorgerufene akustische Täuschung war, mußte die Bahnstrecke unmittelbar hinter dem Festungswall verlaufen. Christine freut sich darauf, gleich morgen mit einem Buch in der Hand auf den Wall zu klettern, im weichen Gras zu sitzen, zu lesen und den Zügen nachzuwinken.

Ihr fällt eine Bemerkung des Vaters beim Abendessen ein über die Grenze des privaten Sektors der Festung, an der eine streng bewachte Zone beginnt. Noch hat sie jedoch die kleinen Gestalten der fleißigen Schnitter vor Augen. Die Wälle aus Maria Theresias Zeiten können doch heutzutage keinen militärischen Wert mehr haben – und falls doch, dann wird sie sich eben einen Fußbreit davon zum Geburtstag wünschen.

Ein Gefühl von Glückseligkeit erfüllt sie: Wenn sie übermorgen aufwacht, wird sie achtzehn sein. Diese Zahl, obwohl sie ihr eigentlich nur die Tür zu Filmen für Erwachsene öffnet, erscheint ihr schon lange wie der Schlüssel zu einer Schatzkammer. Von deren Kleinodien hat sie nur verschwommene Vorstellungen, aber sie ist fest überzeugt, mit achtzehn werde ihr etwas ganz Großes begegnen. Sie lächelt in die Dunkelheit hinaus und zählt, wie sie es gewohnt ist, die Waggons, die wie mit eisernem Stempel die nächstliegenden Schienenverbindungen markieren. Siebenundvierzig. Sie addiert die beiden Ziffern: Sieben und vier sind elf. Sie addiert weiter: Eins und eins ist zwei. Ihre Glückszahl!

Der unsichtbare Zug verstummt endlich, doch über die nächtliche Stille, die nun wieder vom knarrenden Zirpen erfüllt ist, legt sich ein neues Geräusch. Das Gästezimmer befindet sich an der Schmalseite des Hauses. Erst jetzt bemerkt Christine, daß über der hohen Sträuchergruppe fast am Fuß des Festungswalls ein Turm ragt. Er sieht wie eine hohe, breit gespreizte Leiter aus, auf der ganz oben ein Brett balanciert. Eine Gestalt klettert die Sprossen empor.

Der Himmel ist sternenübersät, aber mondlos. Entweder ist der Mond noch nicht aufgegangen, oder er kreist auf einer anderen Bahn, oder, Christine weiß es nicht genau, es ist gerade Neumond. Irgendwo auf einem anderen Wall, den sie von ihrem Fenster aus nicht sehen kann, müssen starke Lampen strahlen. Ehe sie eine Erklärung dafür findet – aus Berlin kennt sie kein strengeres Gesetz als die Verdunkelung – erkennt sie über ein halbes Hundert Meter hinweg hellblondes Haar und auch die hohe, schlanke Figur. Ohne Zweifel – er!

Als er sich auf das Brett schwingt, wird noch deutlicher, wie groß er ist. Seine Haut schimmert vor der dunklen Steinmauer. Plötzlich weiß Christine, er ist nackt. Sie erzittert. Ihre Hände, noch immer regungslos gekreuzt, beginnen sich zu bewegen. Sie streichelt leicht ihre Brüste und erlebt, wie sie sich spannen. Eine seltsame Empfindung durchfährt ihren Unterleib. Sie kriegt Angst, der Schmerz könnte von neuem ausbrechen, spürt aber nur ein ungewohntes Vibrieren. Es erregt sie genauso wie einst der geheimnisvoll phosphoreszierende Stab, mit dem Mutters Friseuse ihr die Kopfhaut massierte.

Der junge Mann betritt das schwankende Brett. Fast hätte sie aufgeschrien vor Angst, er werde umkippen und in die Tiefe stürzen. Sie sieht ihn sich federnd vorwärtsbewegen, wie sie es vor dem Krieg im Circus Busch bei den Lipizzanern bewunderte, und sie ertappt sich bei dem Gedanken, er könnte wirklich fliegen. Er nähert sich nun dem Rand des Brettes, das auf jeden seiner Schritte mit immer stärkerem Schwingen reagiert, geht auf die Zehenspitzen, stößt sich ab, steigt kerzengerade nach oben, knickt aber plötzlich in der Hüfte ab und fällt durchgestreckt senkrecht nach unten. Christine hört, wie der Körper den Wasserspiegel bricht.

Der Druck auf der Brust zwingt sie, die Arme zu öffnen, und im gedämpften Widerschein der unsichtbaren Lampen sieht sie auf der Haut dunkle Abdrücke ihrer Finger. Die Angstsekunde hat das wohlige Gefühl weggeschwemmt. Aber die Spannung in ihr bleibt. Sie lauscht dem gleichmäßigen Platschen des Wassers, nur dann unterbrochen, wenn der Schwimmer wendet. Sie zählt – sie zählt insgeheim, weil sie sich für ihre Abergläubigkeit schämt, alles auf der Welt – kommt immer wieder auf elf. Sie selbst schwimmt Wettkämpfe und vermutet dann, daß hinter der Wand aus Sträuchern ein Fünfundzwanzig-Meter-Becken liegen muß.

Christine will auf das Fensterbrett steigen, vielleicht sieht sie dann mehr. Mit einem Knie schon auf dem Sims, erstarrt sie. Jemand schleicht unter dem Fenster entlang, offenbar bedacht, ungesehen zu bleiben. Statt den Weg zu nehmen, der sich vom Herrenhaus zum Schwimmbecken um die Sträucher windet, zieht die Gestalt geradenwegs dorthin, mitten durchs aufgeschossene Gras, das noch auf die Sense wartet. Eine Frau in einer Art geblümtem Kimono. Er paßt sich der Umgebung besser an als jeder Tarnumhang.

Christine beobachtet, wie die Frau den Stoff rafft, damit der Tau ihn nicht benetzt, und es sieht beinahe so aus, als schwebte sie. Bei den Sträuchern hält sie inne, schaut zurück zum Herrenhaus. Christine zwingt sich, nicht ins Zimmer zurückzuspringen. Regungslos verharrt sie auf dem Knie, sie vertraut dem dunklen Hintergrund. Und wenn sie sich auch täuscht: Hier ist jetzt ihr Zuhause, und sie hatte schon vorher am Fenster gestanden! Die Unbekannte löst sich in den Sträuchern auf.

Kurz darauf verstummt das Peitschen des Wassers. Lautes Plätschern verrät, daß sich der Schwimmer auf den Beckenrand geschwungen hat. Das Lärmen der Grillen schafft eine Schallwand, die entfernte Worte nicht durchbrechen. Was sollte es dort schon zu reden geben? Er ist nackt, und sie hatte auch nicht wie eine Nonne ausgesehen. Christine versucht, sich die Zärtlichkeiten vorzustellen, die da getauscht werden, doch nichts von den Beschreibungen, die sie im Dunkel des Internatsschlafraums hatte anhören müssen, will zu ihm passen. Wie liebt wohl ein SS-Engel? Ach, zum Teufel mit ihm!

Sie kennt ihn ja gar nicht, und auf der Fahrt hatte er es geschafft, daß sie vor Langeweile eingeschlafen war. Sie kennt auch die Frau nicht und hat nicht das geringste Recht, Anspruch auf ihn zu erheben, noch weniger einen Grund, sich seinetwegen zu grämen. Doch das geahnte Bild des Paars, das sich ganz in ihrer Nähe umarmt, lockt wieder ihre Zweifel herbei. Christine leidet.

Selbstmitleid überkommt sie, und sie springt ins Zimmer zurück. Am liebsten würde sie das Fenster zuknallen, damit die beiden wenigstens erschreckten, dann die Vorhänge zuziehen und sich in ihr gutes altes Bett, dessen Häßlichkeit ihr plötzlich ganz vertraut vorkommt, hineinkuscheln, mit jenem noch immer vertrauten Freund, der ihr von klein auf Scham, Ängste und Unsicherheiten nimmt – ein Buch. Im Bücherschrank des Vaters hatte sie nach dem Essen die «Jugend» von Max Halbe entdeckt, die sie schon mit vierzehn lesen durfte. Damals war sie in ohnmächtige Wut auf den erbarmungslosen Kaplan geraten, was der Vater vielleicht sogar erreichen wollte. Wie wird es ihr jetzt damit ergehen?

Da sieht sie: Lautlos eilt ein hoher Schatten den Weg vom Becken zum Haus entlang, um den Hals ein Handtuch, um die Lenden eine enge Badehose, deren Farbe mit der sonnengebräunten Haut verschmilzt und für die optische Täuschung sorgte. Auf dem Kopf trägt er seine Mütze, in der Hand die schwarze Uniform und die Stiefel. Hinter der Hausecke rasselt ein Schlüsselbund, eine schwere Tür fällt zu. Sie wohnt mit ihm unter dem selben Dach!

Sie verharrt noch ein paar Minuten. Die Frau kommt nicht. Nun erscheint plötzlich der Mond, unvergleichlich größer und klarer als in Berlin, satt orangenfarben. Zufrieden sieht Christine, daß ihm zum Vollmond noch eine schmale Sichel fehlt, dünn wie Apfelsinenschale. Die hebt er sich zu ihrem Geburtstag auf!

Mit einemmal sind die trüben Gedanken weg. Sie will jetzt nicht mehr lesen und entschließt sich, bei offenem Fenster zu schlafen. Sie legt sich auf die Bettdecke und betrachtet in der hellen Finsternis ihren Körper. Er braucht das Sonnenbad, beschließt sie, hat er erst seine mehlige Blässe verloren, würde er gar nicht so übel aussehen. Als sie die Augen schließt, vernimmt sie leise Töne. Was? Eine Orgel mit «Lili Marleen» ...? Dann glaubt sie, eine Mundharmonika zu hören. Mit ihrem letzten Gedanken nimmt sie wahr, daß sie trotz geschlossener Augen lächelt. Bin ich denn etwa glücklich? wundert sie sich. Aber warum ...?

Tanz- und Liebesstunde

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