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IV

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Zur gleichen Zeit

Gertrud kämmt ihr langes dichtes Haar und betrachtet dabei jede einzelne Strähne. Nicht einmal die unbarmherzige Morgensonne entdeckt im Schwarz ein Grau. Ein Leben lang wecken diese Haare bei ihr ängstliche Verwunderung. Einst waren sie der einzige Reichtum des mageren, verstörten Bayernmädels. Nie hatte sie erfahren, wer ihr Vater war, es kam ihr erst viel später zu Ohren, daß es ein junger Adeliger sein sollte, der dann über Jahre hinweg das Schweigen der Landarbeiterin mit einer bescheidenen Rente lohnte.

Als die wilde Inflation der Nachkriegszeit das Gut des leichtsinnigen Barons verschlungen hatte und seine Unterstützung nunmehr ausblieb, zog die Mutter samt Tochter der warme Sog Münchens wie frierende Fliegen an. Der schlaue Wirt, den sie um die gewöhnlichste Arbeit baten, schätzte den Wert von Gertruds Haarpracht im Kampf um die wenigen noch zahlungsfähigen Gäste richtig ein. Die Mutter als Küchenhilfe und am Waschtrog garantierte, daß er die reizvolle Tochter in der Schenke behielt. Dank ihrer konnte er bald auch den Garten aufmachen. Und in jenem Garten hatten diese Haare Karl Kleinburger bezaubert und hielten ihn bis heute gefesselt.

Jetzt wallen sie zwischen den noch immer festen Brüsten beinahe zu den Knien herab. Wie so oft denkt sie: Was haben die Haarspitzen nicht schon alles gesehen! Um mehr als zehn Zentimeter werden sie jedes Jahr länger. Jetzt flicht sie die Flut zu einem Zopf und seufzt. Ihr Haar kommt ihr oft wie ein Seil vor, das sie an das Jahr 1938 bindet, das Jahr des bejubelten Anschlusses, in dem später auch das Sudetenland dank des Führers genialer Taktik kampflos heim ins Reich kam. Das ganze Deutschland glich für sie einem Ast voll praller Knospen, die allesamt wundersame Blüten hervorbrachten ... und auch Gertrud wollte nicht abseits stehen!

Bei der Geburt der Tochter wäre sie fast gestorben, und die Ärzte verboten ihr strikt ein weiteres Kind. Sie versuchte, Karl zu überreden, wußte, wie sehr er sich ein Karlchen wünschte, aber er ließ es nicht zu. Nur einmal im Leben sagte er, er habe dem Reich genug gegeben, als daß er vielleicht wegen eines einzigen Soldaten auch sie verlieren sollte. In diesem berauschenden Jahr der Hoffnungen überlistete sie ihn jedoch und wurde erneut schwanger. Sie überstand die Geburt ziemlich gut; der Junge jedoch kam tot zur Welt. Jetzt ließ sie die Haare über alle Längen wachsen, als wollte sie sich dadurch von jener Hoffnung noch nicht trennen.

Aus den geflochtenen Zöpfen bildet sie auf dem Kopf ein Gebäude. Sie spürt das Gewicht aller dieser Jahre, gerät darunter fast ins Wanken. Freilich glaubt sie an den Sieg Deutschlands, und der Führer wie auch Karl sind ihr dafür Garanten, aber ihre Seele, die immer so hell und gütig war und erfreut über jedes Geschenk des Lebens, wird seit Karls schrecklicher Verstümmelung immer bedrückter.

Ihr Mann irrt nicht: Sie war zu Gott zurückgekehrt. Vor Karl hält sie den wirklichen Charakter und die Stärke dieser Heimkehr verborgen, weil sie spürt, daß es ein Ausdruck von Angst vor der Zukunft ist und damit auch von Mißtrauen gegenüber allem, woran sie glauben will. Aber dem ist doch gar nicht so, berichtigt sie sich selbst; sie glaubt doch nach wie vor gleich fest an den Sieg und bittet Gott allein darum, das Heil der gerechten Sache nicht mit dem Verlust ihrer Lieben bezahlen zu müssen. Sie seufzt und verläßt das Bad.

Auf dem Herd in der Küche dampft schwach eine riesige Kupferkanne mit Wasser. Gertrud holt den im Backrohr versteckten Schlüssel hervor – so hatte sie es von der Mutter, Gott hab sie selig, gelernt – und schließt die Speisekammer auf. Auf zwei Silbertabletts thronen ein hoher Marmorkuchen und eine ausladende Sachertorte nebeneinander. Nach ihrer Heirat hörte Gertrud auf, zudringlichen Gästen Maßkrüge zu servieren, und half statt dessen bei einem Konditor aus, auch er, ein heimlicher Anhänger der Partei. Mit dem Fingernagel kratzt sie nun ein winziges Bröckchen von der Torte ab, kostet mit geschlossenen Augen. Sie ist zufrieden. Sie nimmt den Kuchen mit und schließt die Speisekammer ab.

Sie tut den Schlüssel in sein Versteck zurück, zuckert die duftende Marmorkuppel und trägt sie ins Speisezimmer. Es liegt auf der anderen Seite des breiten Ganges. Der Gang schneidet die Etage und auch die Wohnung in zwei Teile. Das Herrenhaus ist nur dem Namen nach herrschaftlich, diente stets Soldaten, später Beamten als Unterkunft. Um deren Bedürfnisse kümmerten sich früher Marketenderinnen, dann Offiziersburschen und schließlich Dienstmädchen. Der vorige deutsche Kommandant holte sich gegen gewisse Hafterleichterungen weibliche Gefangene, am liebsten Französinnen. Er ließ für sie im Hause sogar eine ziemlich bequeme Zelle mit einem breiten Bett einrichten. So entstand ein behagliches Bordell, das die meisten Dienstgrade der Wacheinheit gern besuchten. Damals führte die Festung weit vor dem Ghetto, wo nur Jüdinnen zu haben waren.

Die Soldatenfrauen, die die Baracken auf dem äußeren Hof bewohnten und die Innenhöfe nicht betreten durften, hießen Gertrud wie eine Heilige willkommen. Nachdem ihr Mann der Hurerei und Sauferei schlagartig Einhalt geboten hatte, erhielten sie von ihr die weibliche Würde zurück. Einmal in der Woche durften sie das Herrenhaus besuchen und sich ihre bis dahin trübseligen Unterkünfte nach ihrem Geschmack, ganz wie zu Hause herrichten. Gertrud hatte längst begriffen, daß Karl sich gerade durch seine Vorzüge auch erbitterte Feinde schuf, glaubte jedoch, daß zumindest diese Frauen ihm zutiefst dankbar waren – für sie.

Das Dachgeschoß des Herrenhauses, in dem einst Ordonnanzen gehaust hatten, ließ Gertrud für hohe Gäste einrichten und setzte zutreffend voraus, daß sie dem Aufenthalt in Leideneritz den Vorrang geben würden; dort harrten ihrer erlesenere Genüsse als in dieser steinernen Burg. Im hübschesten Zimmer stellte sie das alte Bett ihrer Tochter auf. Hierher kam sie, um heimlich zu beten ... Die rechte Seite des ersten Geschosses hatte sie ihnen beiden zugedacht: Für Karl einen privaten Arbeitsraum, daran schloß sich ein riesiges Bad, zu dem ein ehemaliges Büro umgebaut wurde, das eheliche Schlafzimmer, aus dem man in den familiären Speiseraum, in eine geräumige Küche und die nicht minder große Speisekammer gelangte.

Die sechs Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges hatte sie durch Herausnehmen der Zwischenwände zu einem einzigen Raum verbinden lassen, der mit vier schweren, dunkelroten Vorhängen je nach Bedarf verkleinert oder vergrößert werden konnte. Neben einem beliebig geräumigen Eßzimmer für Besuche war auf diese Weise eine geeignete Räumlichkeit für ihre gesellschaftlichen Betätigungen entstanden: Jeden Mittwoch kamen die Frauen aus der Festung zur Kaffeestunde hierher, die man mit Geplauder und Strikken verbrachte; letztes Weihnachten hatte sie hier ein unvergeßliches Festmahl für die Familien aller Offiziere und Unteroffiziere aufgetischt.

Gestern hatte sie den vorderen Vorhang zugezogen, um in gemütlicher Atmosphäre alles Notwendige für das Frühstück zu neunt vorzubereiten. Das festliche Geschirr, aus der übernommenen Berliner Wohnung rechtzeitig vor den Bomben gerettet, glänzt hier bereits in voller Meißener Schönheit, der Kuchen, den sie jetzt mitten auf den Tisch stellt, krönt das Werk. Dann tritt Gertrud auf den Gang hinaus, steigt die Steintreppe hinauf, öffnet die Tür zum Dachgeschoß und geht zum mittleren Zimmer, das erste Mal ohne Wehmut: Der barmherzige Gott hatte ihre inständigen Gebete erhört.

Vorsichtig klopft sie an. Niemand antwortet. Leise betritt sie die Stube. Das Fenster geht als einziges im Haus nach Westen, der nahe Festungswall bewahrt hier immer noch die Dämmerung. Christine liegt auf dem Rücken, beide Hände neben dem Kopf, ein Akt wehrloser Ergebenheit. Erst jetzt sieht die Mutter, daß ihr Kind in diesem Jahr zur Frau geworden ist. Sie nimmt sich vor, der Tochter durch Liebe alles zurückzugeben, was sie durch ihr langes Alleinsein in Berlin entbehren mußte.

Sie will die Schlafende streicheln, aber schon bei der ersten Berührung erschrickt sie, als der regungslose Körper emporschnellt. Schlanke Hände legen sich um ihren Hals, warme Lippen bedecken ihr Gesicht mit kleinen Küssen, und eine fröhliche Stimme ruft, wie sie es vor vielen, vielen Jahren von ihr gelernt hatte.

«Guten Morgen, Geburtstagskind!»

Glücksgefühl vertreibt den Schreck. Als Gertrud die Tochter gestern nach einem Jahr wiedersah, nahm sie sie zunächst nur als bloße Einbildung wahr, wie sie sich bei ihren heimlichen Gebeten oft einstellte. Karl hatte den ganzen Abend nur kurze Fragen gestellt, Christine ausführlich geantwortet und Gertrud den Sinn der Worte eigentlich nicht verstanden, nur ihre Musik vernommen. Nun hatte sie beide wieder bei sich, die Säulen ihres Lebens, und verstand nicht mehr, wie sie ohne eine von ihnen je hatte leben können.

Doch war sie – so war ihr bewußt, und sie prägte sich das immer wieder ein – eine deutsche Frau, ihr Volk kämpfte auf Leben und Tod gegen die Kräfte des Bösen, die ihre Welt, die von den Ariern geschaffene Kultur zerstören wollten, und sie konnte ihm in diesem schicksalsschweren Kampf einzig und allein durch Entsagen helfen. Dafür belohnte Gott sie jetzt mit einem Geschenk, von dem Millionen Volksgenossen nicht einmal zu träumen wagten. Sie durfte mit einem angebeteten Gatten zusammensein, den seine Verwundungen noch begehrenswerter machten, und nun auch mit der heißgeliebten Tochter, die das Leben und Treiben im Berlin dieser gefährlichen Jahre nicht um ihre kindliche Reinheit gebracht hatten.

Sie beginnt zu weinen. Jetzt erschrickt Christine.

«Was ist passiert?»

Doch die Tränen schwemmen nur die angesammelte Angst all der vielen Monate hinweg, die niemals ausgesprochen werden durfte. Gertrud schluchzt.

«Ich bin ... dir so dankbar ...»

«Wofür ...? Mami, wofür?»

«Daß du’s geblieben bist ... mein Mädelchen ...»

«Das bin ich doch immer gewesen. Deins und Vaters!»

«Ja, aber ... da warst du klein und bei uns ... jetzt bist du schon erwachsen und warst so lange allein ...»

«Ja und ...?»

«Bist du ...?»

«Was ...?»

Vertrauten sie denn nicht immer einander wie zwei gleichaltrige Freundinnen? Gertrud bringt es über die Lippen.

«Du hast noch keinen ... du bist noch Jungfrau, nicht wahr?»

«Ja ...»

«Ich habe ... also, ich habe nicht geglaubt, daß du es dort durchhalten kannst!»

«Warum denn nicht?»

«Mir hat gereicht, was du vor Vater erzählt hast.»

«Darüber hab’ ich doch kein Wort ...»

«Vor allem hast du mit keinem Wort auch nur eine deiner Klassenkameradinnen erwähnt. Das heißt, daß du unter ihnen keine Freundin hast. Täusche ich mich da?»

«Nein.»

«Und ist das nicht der Grund? Ich meine, bist du so einsam, weil du immer noch ...?»

Jetzt umarmt sie die Tochter, und Christine schmiegt sich an die Mutter wie damals in der Wohnung am Anhalter Bahnhof, als Gewitter sie nachts aufgeweckt hatten, und später, als sie im Keller des Hauses nächtelang die ersten Luftangriffe überstanden, die sie damals eher aufregten als erschreckten. Die Eltern hatte sie nie belogen. Beim Vater wagte sie es nicht, die Mutter war immer ihr Beichtstuhl gewesen. Auch jetzt sagt sie ihr die Wahrheit.

«Ja.»

«Alle anderen ... schlafen schon mit Männern?»

«Ja.»

«Beneidest du sie?»

Die Tochter antwortet nicht. Gertrud streichelt sie, und erst dabei entdecken ihre Hände, was die weitgeschnittene Bluse gestern den Augen verborgen hatte. Christine, vor einem Jahr noch knabenhaft schlank, hat Brüste, fast wie sie. Diese Veränderung rührt sie von neuem.

«Ich verstehe dich, Tinchen. Mit achtzehn dachte ich, ich verbrenne. Aber da war der Krieg schon vorbei, ich hatte Zeit zu warten und auszuwählen. Für dich muß alles hundertmal schwieriger sein, nicht wahr?»

Christine flüstert kaum hörbar.

«Ich hab’ Angst, Mami ...»

«Wovor ...? Daß ... du es nicht erwarten würdest?»

Der Mädchenkopf auf ihrer Schulter bebt vor Zustimmung.

«Sehnst du dich so sehr danach ...?»

Die gleiche stumme Antwort.

«Mein Gott, warum ... worauf wartest du dann?»

Christine hebt den Kopf und schaut die Mutter an, verblüfft und mißtrauisch.

«Das sagst du mir?»

«Das sag’ ich dir.»

«Aber gerade du hast mir doch immer gesagt, dies sei ein Geschenk, das sich eine Frau aufbewahren soll für ... den Richtigen! Das hab’ ich als einziges sogar der ‹Kuh› geglaubt.»

«Wem?»

«So nennen wir die Internatsleiterin. Die hat den Mund voll erhabener Phrasen, die sie aber mit jeder Tat in Abrede stellt. Sie ist Parteimitglied und dabei feige, verlogen, neidisch, käuflich und rachsüchtig. Sie sagt und tut nur, was gerade gefragt ist und ihr persönlich in den Kram paßt. Aber damit hatte sogar sie recht! Ich will erst den Richtigen – wie du!»

«Und wie soll der sein?»

«Weiß ich nicht, dafür weiß ich aber genau, wie er nicht sein darf. Wie all die Kasperlpuppen mit und ohne Uniform, immer gebügelt und parfümiert, die sich dank Beziehungen oder Geld in Berlin vor der Front drücken. Mami, die Mädels haben mir von privaten Luftschutzkellern erzählt, die wie noble Stundenhotels ausgestattet sind! Das ganze Jahr ist mir kein einziger Mann über den Weg gelaufen, der nur im entferntesten Vater ähnlich gewesen wäre!»

«An ihm kannst du doch sowieso keinen messen ...!»

«An wem sonst?»

«Vater hat unendliche Erfahrung hinter sich. Aber auch er ist mal jung gewesen.»

«Und war er anders?»

«Selbstverständlich hatte er schon damals all die bewundernswerten Eigenschaften, die ich aber erst später erkannte. Auf den ersten Blick unterschied er sich kaum von seinen Altersgenossen. Sogar sein erster Satz unterschied sich nicht von dem, was ich mir damals tagtäglich anhören mußte.»

«Daß er anstelle des Biers, das du ihm nicht gebracht hast, dich nimmt?»

«Ja, siehst du!»

«Aber du hast erkannt, daß er es ernst meinte!»

«Das schon ...»

«Wie?»

«Das weiß ich nicht ...»

«Aber von diesem Augenblick an war es dir ganz klar, daß er es ist.»

«Ja ...»

«Warum wunderst du dich dann über mich? Zu mir hat bis heute keiner auch nur etwas annähernd Ähnliches gesagt. Ja, Mami, es ist nicht schwer, einen Schatz zu bewahren, der niemanden reizt!»

Gertrud ist ehrlich empört.

«Ich bitte dich, was erzählst du da?»

«Die Wahrheit! In einem Jahr hat sich kein Mann gefunden, außer den Lehrern natürlich, der mich angesprochen, geschweige denn irgendwohin eingeladen hätte. Sonntag nachmittags bin ich fast regelmäßig allein in den Zoo gegangen, bis er zerbombt wurde, damit die Mädchen wenigstens glaubten, ich würde mich heimlich mit jemandem treffen, der verheiratet sein mußte. Aber keine einzige hat mich danach auch nur gefragt. Sie sind gar nicht auf den Gedanken gekommen!»

«Tinchen ... weißt du, daß du sehr, wirklich sehr hübsch bist?»

«Nein. Anfangs hab’ ich gedacht, ich sei nicht häßlich, auf alle Fälle nicht häßlicher als ein paar echte Vogelscheuchen in der Klasse. Nur sind die meisten von denen sogar schon verlobt. Was soll ich jetzt davon halten?»

«Dann ... muß es an etwas anderem liegen, Tinchen ...!»

«Aber an was denn?»

«Laß uns überlegen.»

«Ich tue ja fast nichts anderes mehr. Mir geht das schon auf den Wecker!»

«Bist du nicht vielleicht zu abweisend? Ich meine – zugeknöpft? Gibst du den Männern nicht zu verstehen, daß sie deinen Ansprüchen nicht genügen, noch bevor sie es überhaupt versuchen konnten? Und falls sie wissen, wessen Tochter du bist, könnten sie von dir nicht den Eindruck haben, du verlangst, sie müßten unbedingt dem Karli ... deinem Vater gleichkommen?»

Sie liegen sich nicht mehr in den Armen, Christine kaut aufgeregt am rechten Daumennagel, wie von klein auf immer, wenn ihr etwas um keinen Preis gelingen wollte. Dafür hält Gertrud ihre Linke fest, legt sie in den Schoß und streichelt sie beschwichtigend. Die Ehrlichkeit der Tochter besticht sie, sie ist auch während der Trennung die gleiche geblieben.

«Vielleicht hast du recht, Mami, es ist gewiß so gewesen, jedenfalls bis vor kurzem. Aber jetzt hab’ ich sogar selber was versucht – und wieder nichts!»

«Hast du doch jemand gefunden, der es wert ist?»

«Ach, nein. Ich hab’s erst gestern ...»

Die Mutter hört einen Vorwurf heraus, und das macht sie unglücklich.

«Das hab’ ich doch nicht ahnen können, Tinchen, ich wollte dich hier in Sicherheit wissen ... So ein Pech! Hast du ihm wenigstens gesagt, wohin er dir schreiben kann?»

«Wer ...?»

«Na der ... von dem du sprichst.»

«Er hat mich doch hergebracht!»

«Hierher? Du meinst ...»

«Den Namen hab’ ich überhört.»

«Weißmüller ...?»

«Der große Blonde ...»

«Ja! Und der kam dir also ...»

«Er kam mir jedenfalls anders als all die Berliner Laffen vor. Zum ersten Mal im Leben schien mir, daß jemand Vater ähnlich sein könnte.»

Sie hört auf, an dem Daumen herumzukauen und schaut die Mutter mit einer Eindringlichkeit an, die nach Zustimmung verlangt. Gertrud entsinnt sich der Bedenken, die Karl kürzlich über Weißmüller geäußert hatte. Sie traut sich jedoch nicht, es der Tochter gerade jetzt zu wiederholen, als könnte sie damit den Faden ihres neuen Selbstvertrauens zerreißen. Sie behilft sich mit einer Halbwahrheit.

«Ja, Karl sprach kürzlich über seinen Diensteifer.»

«Und wie gefällt er dir, Mami?»

«Ein hübscher Bursche ...»

«Er trägt keinen Ring, geht er hier mit einer?»

«Wo soll er hier eine hernehmen?»

«Wirklich nicht?»

«Ich glaube es wenigstens ...»

«Und außerhalb?»

«Woher soll ich das wissen, Tinchen?»

«Entschuldige, ich bin unmöglich!»

Aus ihrer Verlegenheit rettet sich Gertrud mit einer weiteren Frage.

«Warte, du hast gesagt, du hättest was versucht ... was denn eigentlich?»

«Mit ihm anzubändeln. Eben, um nicht zugeknöpft und abweisend dazustehen, wie du sagst, damit gerade er nicht dachte, ich würde über ihn als Vaters Untergebenen die Nase rümpfen, hab’ ich ihn während der Fahrt nach allem möglichen ausgefragt.»

«Über was?»

«Wie es euch beiden geht, wie es hier so läuft, was er hier tut, mit was man sich hier amüsiert. Was Mädchen eben so fragen – denke ich wenigstens!»

«Auf das meiste durfte er dir als Soldat keine Antwort geben!»

«Schade, dafür aber Vaters Fahrer. Der hat so ein Zeug zusammengequasselt, daß ich lieber eingeschlafen bin.»

Gertrud denkt angestrengt nach.

«Warum sagst du nichts, Mami?»

«Vielleicht ist er schüchtern ...»

«Mit so einer Figur? Auf den müssen doch die Weiber nur so fliegen!»

«Tinchen! Du bist ja eifersüchtig! Also ist Schluß mit den Hemmungen?»

Beide lachen. Christine beichtet weiter.

«Ich habe ihn dann nachts gesehen.»

«Nein ...! Du hast dich mit ihm ...»

Jetzt erst wird Gertrud bewußt, daß der junge Mann und ihre Tochter unter dem gleichen Dach wohnen.

«Nein, das nicht! Ich hab’ ihn nur aus einer gewaltigen Höhe springen sehen, mir blieb fast das Herz stehen. Ich ahnte ja nicht, daß es hier ein Schwimmbecken gibt.»

«Ja, Vaters Vorgänger hat es anlegen lassen, du kannst da jederzeit baden ...»

Sie erwähnt nicht, wie empört Karl darüber war, daß es auch in diesem Fall zum unerlaubten Einsatz von Gefangenen gekommen war, doch obwohl sie selbst ein eher unsportlicher Typ war, stieg sie gern in das immer frische Wasser, das ein französischer Architekt, der hier sein Ende erwartete, aus dem Festungsbach hierher geleitet hatte. In diesem Winkel währte für sie die verflossene Friedenszeit weiter.

Vorsichtig sagt Christine.

«Nach ihm ist eine Frau dorthin gegangen.»

Erstaunlicherweise erzählt sie der Mutter nichts von den verdächtigen Umständen; das überrascht sie selbst.

«Das konnte nur die Monika sein.»

«Monika?»

«Ich meine, sie ist mit mir die einzige, die es bislang durfte. Jetzt kommst auch du dazu, versteht sich!»

Christine ist die Neugier selbst.

«Und wer ist das?»

«Die Frau von Karlis – von Vaters Stellvertreter Grube.»

«Wie alt ist die?»

«Etwas jünger als ich.»

Christine ist beruhigt. Auf Großmütter ist man nicht eifersüchtig. In diesem Augenblick denkt sie auch nicht daran, daß die andere noch begehrter sein könnte als ihre Mutter. Sie vergißt das ebenso wie den Umstand, daß sie soeben noch Kummer hatte. Sie ist wieder ein Kind, als sie jetzt auf dem Bett herumhüpft, bis Gertrud fast herunterfällt. Aber da kniet Christine schon vor ihr, umarmt ihre Knie und preßt den Kopf in ihren Schoß.

«Mami, liebe Mami, ich bin so froh, daß ich hier bin!»

Gertrud verscheucht alle neuen Zweifel aus ihren Gedanken und freut sich mit dem Kind. Unmittelbar darauf dringt, gedämpft durch das Fenster, eine satte Melodie herein. Ein Walzer. Und eine ganze Kapelle spielt ihn. Auch die Tochter hört es und hebt den Kopf.

«Was ist das ...?»

Gertrud geht ein Licht auf. Lachend seufzt sie.

«Dieser Karli ...! Komm! Mein Gott, du hast ja nichts an ... Zieh dir geschwind was über! Schnell!»

Sogar in diesem Durcheinander greift Christine zielsicher nach einer weißen Bluse und einem weißen Rock, die ihr besonders gut stehen, knöpft beides, schon unterwegs, zu und schlüpft geradezu akrobatisch in die weißen Schuhe, als sie bereits die Treppe hinunterlaufen und über den Gang rennen wie in Berlin bei Bombenalarm. Der Walzer kommt immer näher. In der Küche scheinen sich die Gardinen in seinem Rhythmus zu blähen. Gertrud dreht sich noch schnell zu ihrer Tochter um.

«Bin ich so in Ordnung?»

«Du bist wunderschön, Mami!»

Das weiß Gertrud selbst, als sie aber endlich ans Fenster tritt, ist sie aufgeregt wie ein junges Mädchen.

Tanz- und Liebesstunde

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