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III

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Dienstag, 6. 6. 1944, frühmorgens

Er öffnet die Tür des Herrenhauses und ist wieder in der Landschaft seiner Kindheit. So sehr erinnert ihn hier alles an die Schule in Ingolstadt, wo sein Vater in einem der Objekte der ehemaligen Festung eine Dienstwohnung hatte. Um Karl Kleinburgers Seele kämpften, so war er sich später sicher, bereits von der Wiege an Muse und Mars.

Der Vater, ein Schulmeister, der Nietzsche verehrte und für die örtliche Zeitung nationale Gedichte verfaßte, erzog seinen einzigen Sohn im selben Geist; er schrieb ihm wundersame Fähigkeiten zu, da sein Stammhalter genau in der ersten Minute des ersten Tages eines neuen Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt hatte. Karl junior begann, seine Hoffnungen zu erfüllen, als er mit nur sechzehn bei einem Schülerwettbewerb den ersten Preis für das beste patriotische Poem gewann.

Als der Sohn ein Jahr später zu den Waffen gerufen wurde, meldete sich trotz verzweifelter Bitten seiner Frau auch der Vater als Freiwilliger, und weil er dies mit einer öffentlichen Erklärung tat, um die jüngeren, noch nicht dienstpflichtigen Jahrgänge an seiner Schule für die große Sache zu begeistern, entschied die Behörde, seinem Gesuch stattzugeben. Während der Sohn eine ordentliche Grundausbildung hinter sich brachte, wurden die freiwilligen älteren Reservisten aus dem Zug heraus in den wieder ausgebrochenen Vulkan von Verdun geworfen. Eine Ironie des Schicksals ließ den Vater bei seinem ersten Einsatz fallen, wonach Karl der Jüngere, als einziger Versorger der plötzlich schwer erkrankten Mutter und eines sechsjährigen Bruders, nach dem geltenden Gesetz vorerst vom Dienst freigestellt wurde.

Trotzdem mußten sie die Wohnung schleunigst für den neuen Schuldirektor freimachen, und in einem zerfallenden Staat kümmerte sich um das Schicksal einer von Millionen Witwen niemand. Sie und den jüngeren Sohn raffte barmherzig die Spanische Grippe dahin. Der von Amts wegen weitergeführte Ernährer mit Kriegsabitur schuftete bei Krauss-Maffei im Lokomotivwerk und war kurz vor dem Ende seiner Kräfte, als sich endlich Vaters Münchener Verwandte seiner annahmen. Karl fing in einer Druckerei an, wo der Onkel als Setzer arbeitete, und bestätigte zunächst die Vorgabe der Musen, als er sich bald zum Metteur hinaufarbeitete; allerdings war ihm Mars entschieden behilflich gewesen, der inzwischen an der Front seine Vorgänger verschlungen hatte.

In den Nachkriegswirren hatten sich seine wichtigsten Charaktereigenschaften voll bewährt: Zähigkeit und Besonnenheit. Er widerstand auch den verlockendsten Versprechungen und blieb in der Branche, die von allen Politikern umworben war, weil sie die Schwarze Kunst richtig als einzigartiges Tor zu den Massen verstanden, einer der wenigen weißen Raben, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrten und sich nur ihrem Handwerk widmeten. Für den Betrieb war er ein wahrer Schatz und wurde bald Faktor, da er sich auch mit Hitzköpfen Rat wußte. Eine Karriere stand ihm bevor. Er hörte auf, Verse zu drechseln und zu publizieren, als er gerade über seiner Arbeit, beim Setzen von Versen, begriff, daß er mit einem wirklichen Dichter nicht konkurrieren konnte. Doch die Gedanken und Gefühle, vom Vater ererbt und mit dessen Blut besiegelt, wollte er sich für eine Sache aufsparen, die ihrer würdig wäre.

Die erweckte ein einfacher Frontsoldat in ihm, der in überfüllten Sälen, inmitten des Geschwafels selbsternannter Demokraten Worte zu finden verstand, die dem Chaos Ordnung gaben. Am Marsch zur Feldherrnhalle im November 1923 beteiligte sich Karl nicht – er mußte die Schicht eines erkrankten Kollegen anführen –, stellte sich aber unmittelbar nach dessen tragischem Ausgang für alles zur Verfügung, was die Besiegten benötigten. Der intelligente, umsichtige und absolut zuverlässige Bursche, in der politischen Szene unbekannt und ohne jeden Eintrag in den Polizeiakten, war für die Bewegung, die jetzt im Zerfallen war, Gold wert. Der Herrgott, an den er noch glaubte, belohnte ihn mit Gertrud; sie verliebte sich auch in seine Ideale.

Der Dienst, den beide Kleinburgers ihrem Führer Adolf Hitler und seinen verfolgten Anhängern ebenso unauffällig wie unschätzbar leisteten, währte viele Jahre. Abwechselnd und gleichzeitig waren sie Boten, gewährten gesuchten Parteigenossen Unterschlupf, versteckten verbotene Drucksachen und Waffen. Belohnung war gelegentlich ein Wort des Dankes – die Geldquellen waren längst versiegt: Wer wollte schon eine Handvoll Abenteurer ohne Chance und ohne Zukunft unterstützen. Die Druckereien waren inzwischen politisch fest in der Hand von Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Betriebsleitung hatte Karl gebeten, Mitglied einer der beiden Parteien zu werden, gleichviel welcher, nur damit er in seiner Funktion verbleiben konnte. Auch die Bewegung riet, es zum Schein zu tun. Das lehnte er ab, weil er seiner Überzeugung nach dazu nicht fähig war. Er wußte zu schweigen, nicht jedoch zu lügen. Beim nächsten Konflikt zog er es vor zu kündigen.

Er hielt sich lieber mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, und Gertrud half ihm tapfer dabei. Als aber Christine geboren wurde, konnten sie nicht länger von der Hand in den Mund leben. Sechsundzwanzigjährig meldete Karl sich zur Reichswehr, die Berufsunteroffiziere suchte, und wurde angenommen. Mehr als der Heldentod seines Vaters sprach für den Anwärter, daß er politisch ein unbeschriebenes Blatt war. Für das Heer, das in einem von revolutionären Wirren geschüttelten Land über den Parteien stehen mußte, war er einer Erscheinung vergleichbar, einer sechsundzwanzigjährigen Jungfrau.

Politische Diskussionen gehörten nicht zum soldatischen Handwerk, und Karls Ansicht von der Notwendigkeit einer Wiedergutmachung der Schmach von Versailles unterschied sich im übrigen nicht von der Meinung der meisten Berufssoldaten. Auch wenn einer seiner Vorgesetzten ahnen sollte, daß mit Kleinburger ein gläubiger Anhänger Hitlers in das Berufsheer gelangt war, überging er das nachsichtig als die unschuldige Marotte eines vorbildlichen Unteroffiziers.

Seine Überlegenheit innerhalb des Vereins stupider Schreihälse von Ausbildern konnte nicht verborgen bleiben. Und als man nachträglich feststellte, daß er Abitur hatte – diese Rubrik fehlte im Fragebogen der Unteroffiziersaspiranten –, schlug man ihn augenblicklich für die Offizierslaufbahn vor.

Nachdem die anhaltende Torheit der Weltmächte, die nicht bereit waren, das Diktat von Versailles zu revidieren, und die Lawine der Weltwirtschaftskrise Adolf Hitler mit atemberaubendem Tempo zur Macht emporgetragen hatten, enttarnte die Bewegung ihre Maulwürfe, um ihren Einfluß im Staatsapparat zu stabilisieren. Die plötzliche Erkenntnis, daß Oberleutnant Kleinburger, bereits Adjutant des Stadtkommandanten von Berlin, ein Nazi war, erfüllte die Stabsoffiziere mit Ekel und Grauen. Der Reichstagsbrand hatte bereits den letzten Kampf entfesselt, der mit unnachsichtiger Vergeltung gegenüber den genauso unbarmherzigen politischen Gegnern von gestern einherging.

Gerade als der bis dahin nazifeindliche Stadtkommandant und sein Stellvertreter beschlossen, daß sie, ausschließlich der Soldatenehre verpflichtet, zuerst den Verräter und dann sich selbst erschießen würden, trat er zu ihnen, erwies ihnen feierlich die Ehrenbezeigung und übermittelte den Dank des Führers für ihre Treue zu Volk und Reich. Sie hatten der Aufforderung falscher Demokraten nicht Folge geleistet, das Rad der deutschen Geschichte mit Waffengewalt zurückzudrehen. Dann bat er gehorsamst, sich entfernen und seine bisherigen Aufgaben weiter erfüllen zu dürfen.

Dabei blieb es nicht lange, die Beförderungen ließen nicht auf sich warten, obwohl er nie darum nachgesucht hatte. Auch wenn es sich bald herumsprach, daß sein Parteibuch eine dreistellige Nummer hatte – bezeichnend war, daß man es ihm per Post geschickt hatte, weil er nie einer Ortsgruppe der NSDAP angehörte –, war ihm mit der Zeit der Ruf eines «anständigen Nazis» geblieben. Wahrscheinlich deshalb erlangte er später nie den Rang eines Standartenführers, der ihm längst zugestanden hätte.

Für die Funktionäre blieb er weiterhin ein sonderbarer Vogel, der für sie trotzdem unentbehrlich wurde, da er nie müde war, der Partei lebenswichtige Dienste zu leisten. Der weitverzweigte, für Zivilisten schwer faßbare Organismus des Heeres ließ sich unmöglich so einfach vereinnahmen wie alle anderen staatlichen Institutionen oder gleichschalten wie die Wirtschaft. Nur Spezialisten, die viele Jahre darin verbracht hatten, beherrschten ihn. Männer von Kleinburgers Format, die zu erkennen vermochten, ob er den Bedürfnissen der Bewegung nicht zu dienen aufhörte oder sich gar an einem Putsch gegen sie beteiligte, waren rar wie Nickel, eine beliebte Floskel aus jener Zeit, als es der Reichswehr noch immer verwehrt war, sich anständig zu bewaffnen.

Deshalb blieben ihm die innerparteilichen Kämpfe erspart, die mit der berüchtigten Nacht der langen Messer ihren Höhepunkt fanden. An jenem Junitag 1934, als Tamtams die Nachricht von der Exekution zahlreicher hoher SA-Führer in München und Berlin verbreiteten, die einem Gemetzel gleichzukommen schien, erklärte Kleinburger auf einer Besprechung mit Stabsoffizieren – er war inzwischen avanciert –, der Führer sei berufen, Deutschland die Ehre zurückzugeben; wer immer sie gegen Schweinemist eintausche, verdiene das Schlachtmesser. Erwartungsgemäß befriedigten und beruhigten gerade diese ungewohnt scharfen Worte die Soldaten. Einen «grausamen Ehrenmann», nannte ihn ein Stabsoffizier, und das Wort machte die Runde.

Bei Kriegsausbruch meldete er sich wiederholt zur Front, das glaubte er, dem Vater schuldig zu sein. Die Partei wollte ihn aber auch weiterhin als ihren Aufseher in der Höhle des Löwen haben. So ergab es sich, daß ihn seine Frau und die Tochter, die soeben an der Schwelle der Pubertät angelangt war, oft bei sich hatten. Mit ihm gemeinsam kletterte auch Gertrud in all den Jahren auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben, hielt trotzdem an seinen Prinzipien fest, die sie beide der Tochter einzuprägen suchten. Sich an sie zu halten war schwer in Zeiten wie diesen, die die niedrigsten menschlichen Triebe und Sehnsüchte begünstigten, aber das gelebte Vorbild der Eltern trug zum Gelingen entscheidend bei.

Der unerwartete Rückschlag vor Moskau im Spätherbst 1941 hatte die Front erschüttert. Männer wie Kleinburger, die das Vertrauen in Führer und Sieg verbreiteten, wurden plötzlich ganz vorne gebraucht. So wurde Karl zur Waffen-SS versetzt und zum stellvertretenden Divisionsführer der SS-Infanteriedivision «Das Reich» ernannt. Die Kragenspiegel seiner Uniform zierten seither silberfarbene Knöpfe, und an die Stelle des Rangs eines Oberstleutnants trat der ihm entsprechende eines Obersturmbannführers.

Auf die Härte der russischen Front war er durch seine asketische Natur vorbereitet. Strapazen und Gefahren ertrug er mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß niemand in ihm eine «Stabsratte» vermutete. Seine Ankunft hatte die Moral der Frontoffiziere, die die Bewegung längst nur noch an den Berliner Bonzen maßen, beachtlich gestärkt. Dieser Mann, weder ein Fanatiker noch ein Zyniker, imponierte ihnen nicht nur durch seine Ruhe und Beherrschtheit, sondern auch, weil er die Lagekarte genausogut beherrschte, wie er über markige Schillerworte verfügte; Bücher gehörten bei ihm zur eisernen Ration.

Was ihn dagegen beunruhigte, war nicht die zutage tretende Verzagtheit, in der Lage dieser steckengebliebenen und frierenden Armee nur zu begreiflich, sondern die Fälle barbarischer Unmenschlichkeit gegenüber dem tatsächlichen und dem mutmaßlichen Feind, mit der die Truppe an diesem oder jenem Abschnitt ihre Depressionen auszugleichen suchte. Als er zum ersten Mal erfuhr, daß in einem niedergebrannten Dorf, kurz zuvor von den Russen verlassen, alte Frauen, die sich in Erdhütten verkrochen hatten, ohne Urteil aufgehängt worden waren, übergab er den befehlshabenden Offizier dem Kriegsgericht.

Dem Divisionskommandeur, der ihn auf den geheimen Befehl des Armeeführers zur Sonderbehandlung von Banditen hinwies, antwortete er heftiger, als es seine Art war, kein deutscher Offizier könne dabei Mord an Greisinnen im Sinn gehabt haben; sollte sich dergleichen wiederholen, werde er dem Führer persönlich Meldung erstatten. Zum ersten Mal seit Landsberger Zeiten hatte er sich auf ihn berufen. Man brachte diese Drohung schleunigst mit der Nummer seines Parteibuchs in Zusammenhang und war verunsichert. Die ungesetzlichen Eigenmächtigkeiten im Aktionsradius der Division nahmen tatsächlich ab, weil man sie jetzt langwierig durch Gerichtsverfahren legalisieren mußte.

Damit hatte er sich zum ersten Mal in seinem Leben Feinde gemacht und den Spitznamen «Onkel Wanja» bekommen. Als dann unter seinem Kübelwagen eine von Partisanen gelegte Mine hochging, gönnte ihm das so mancher, und fast alle waren froh, nun endlich Krieg führen zu können, wie es dem Zeitgeist und den Umständen entsprach. Einer von ihnen, der über einen Kanal zu Himmler verfügte, meldete nach Berlin, dem Parteigenossen Kleinburger würde, falls er überlebte, eine Schule germanischer Härte nottun.

Wissen konnte er es nicht, aber er ahnte, daß er irgendwo in Ungnade gefallen war, als man ihn nicht, wie er erwarten durfte, in den Generalstab zurückberief, sondern als Kommandanten in diese kleine Burg versetzte – sein Name wurde zum bösen Omen. Die pathetisch klingende Begründung, seine Aufgabe sei es, die gefährlichsten Feinde des Reiches aus ganz Europa zu bewachen, die entweder zum Tode verurteilt waren oder ganz im Gegenteil in dieser Isolation als Objekte eines möglichen politischen Kuhhandels heil überleben sollten – verbarg sich da nicht etwa der landesverräterische Gedanke einer deutschen Niederlage? –, konnte an der Tatsache nichts ändern, daß man einen Soldaten jählings zum Kerkermeister gemacht hatte.

Das war hart. Es traf ihn schwerer als die Splitter der Mine, beschädigte aber nicht seine Seele. Er war überzeugt, daß er in den zwanzig Jahren, die er der Bewegung diente, in den elf Jahren, die er ihr Mitglied war, und in mehr als vier Kriegsjahren nicht nur keinen Menschen umgebracht oder unrechtmäßig hatte umbringen lassen, sondern auch seine Träume und seinen menschlichen Anstand durch blutigen Sumpf hindurch gerettet hatte. Das konnte auch seinen Vorgesetzten nicht verborgen geblieben sein. Er hatte sich langsam zu der Überzeugung durchgerungen, daß darin wohl auch der Sinn dieses befremdlichen Kommandos zu suchen war. Dieser scheinbar verlorene Posten, auf dem sein Befehl Gesetz war, ermöglichte es ihm vorzuführen, daß die deutsche Gerechtigkeit streng, aber menschlich sein konnte.

So, wie er war, setzte er die Existenz vieler ähnlich Denkender voraus, die sich nach dem Vorbild des Führers richteten. Seine Fronterfahrung hatte es ihm erlaubt, den weiteren Verlauf des Rußlandfeldzugs realistisch einzuschätzen. Der Rückzug, nach Stalingrad unvermeidlich, mußte vorübergehend Panik auslösen, die alle Parasiten am künftigen Deutschland, jenen trüben Abschaum von Fanatikern und Zynikern an den Fronten und im Hinterland, aufdeckt und wegschwemmt. Und des Führers Getreue werden dann unter seinem Kommando mit neuer Begeisterung und fürchterlichen Waffen die rote Lawine zum Stillstand bringen, einen würdevollen Frieden mit den Staaten der westlichen Kultur schließen, mit dem Endsieg über die Russen die Welt vor dem Bolschewismus retten und ihr für Jahrhunderte eine Pax Germanica – den Deutschen Frieden zu bescheren.

Er war kein Weichling. Schickte er einerseits deutsche Männer wegen disziplinarischer Verstöße an die Front, so verhielt er sich gegenüber jenen um so weniger sentimental, die sein Volk daran hinderten, seine historische Mission zu vollenden. Todesurteile der Gerichtshöfe in Oslo, Prag, Paris und vielen anderen Städten ließ er auf vorgeschriebene Weise in der vorgeschriebenen Frist vollstrecken. Das Verschulden prüfte er nicht nach, dazu war er nicht befugt, und die rechtens Verurteilten erregten bei ihm kein Mitleid, solange er nicht einem formellen Fehler auf die Spur kam.

Nahm er jedoch die geringste Unstimmigkeit wahr – und als ihm aufging, daß sein Stellvertreter Grube zu den unzuverlässigen Zynikern gehörte, überprüfte er die Todesurteile persönlich –, legte er kompromißlos gegen die Exekution sein Veto ein. Der Chef der Prager Gestapo, dem zu Ohren kam, daß eine kommunistische Agitatorin nur deswegen nicht hingerichtet worden war, weil sie in den Begleitpapieren irrtümlich einen Tag älter als in der Urteilsausfertigung angegeben war, kam höchstpersönlich angereist, um diesem beschissenen Bürokraten einzuheizen. Er fand heraus, daß seine Leute eine andere Person, eine Gemüsefrau und Konfidentin, zum Schein wegen geringfügiger Schiebereien eingesperrt, vor die Gewehrläufe geschickt hatten, und konnte sich bei dem Festungskommandanten gar nicht genug entschuldigen.

Kleinburger hatte gleich in den ersten drei Tagen seiner hiesigen Tätigkeit nach und nach allen drei Wachmannschaften zu verstehen gegeben, was er bedingungslos verlangte. Unter anderen Selbstverständlichkeiten auch die strengste Einhaltung der Gefängnisordnung seitens des Wachpersonals. Alle drei Ansprachen beendete er mit denselben Worten.

«Offiziere, Unteroffiziere, Männer der SS! In seinem Werk ‹Mein Kampf› hat unser Führer klar und für jeden verständlich dargelegt, welche Eigenschaften ein deutscher Mann besitzen muß, damit seine Rasse Anspruch auf Weltherrschaft hat. Die harten Kriegsjahre sind eine Feuerprobe, die alles verbrennen soll, was Plutokraten und Judenbolschewisten in die deutsche Seele gesät haben. Unser Volk muß die Verkörperung der unbesiegbaren Kraft werden. Ihr untrennbarer Bestandteil ist auch die Gesetzlichkeit. Ein Herr bestraft seinen Hund streng, aber gerecht, will er dessen Ergebenheit oder mindestens seine treuen Dienste nicht verlieren. Die hier festgesetzten Personen, ob in Schutzhaft genommen oder zur höchsten Strafe verurteilt, auf deren Bestätigung und Vollstreckung sie hier warten, haben die deutsche Strenge bereits kennengelernt. Aus unserem Verhalten ihnen gegenüber müssen sie begreifen, daß sie sich einer neuen Zivilisation barbarisch widersetzt haben, die wir hier verkörpern. Soldaten des Führers! Nehmt meine Worte nicht auf die leichte Schulter. Ich sage das ein für allemal, denn ich bin es nicht gewohnt, mich zu wiederholen, und vor allem: Wer die Ideen des Führers jetzt nicht verstanden hat, der wird sie nie verstehen können. Die Folgen hat sich dann jeder selbst zuzuschreiben!»

Die Männer der Wachtruppe hörten eine solche Rede zum ersten Mal. Dafür hatten sie schon mehr als ein Großmaul erlebt, das mit ähnlichen Phrasen zu verdecken suchte, daß es weit hinten in der Etappe, mit allen ihren Annehmlichkeiten, Privilegien und Vorzügen, überleben durfte. Deshalb machten sie unbeirrt weiter. Für die meisten von ihnen waren die Gefangenen nur rechtloses Vieh, an dem sie ihre Wut und Ängste auslassen konnten, die ihnen die Meldungen von der Front, die Briefe aus dem zerbombten Reich oder aber die Verluste im Casino einjagten. Ein paar Sadisten befriedigten hier ihre perversen Gelüste.

Am siebten Tag nach Antritt des neuen Kommandanten erhielten ein Offizier, fünf Unteroffiziere und elf Männer die Anweisung, ihre Siebensachen zusammenzupacken und sich beim Ersatztruppenteil der Waffen-SS in Aussig an der Elbe zu melden. Was das bedeutete, wußten sie, und auch, daß über die meisten von ihnen, ehe ihre eventuelle Beschwerde verhandelt würde, bereits Gras gewachsen war. Fluchen half nicht, sie konnten nur beten, falls sie es noch konnten. Als Kleinburger am achten Tag unterwegs zu seinem Dienstzimmer war, wußte er, daß zumindest in seiner kleinen Garnison deutsche Ordnung herrschte.

Jetzt geht er wieder die Lindenallee entlang, und wie immer, seit er nicht mehr laufen kann, atmet er in tiefen Zügen frische Luft ein, die heute nach welkem Heu duftet. Erstaunlicherweise trübten keine Gewissensbisse die Ankunft der Tochter, und die zärtliche Nachtstunde mit Trudl ließ ihn seine Verkrüppelung vergessen. Nicht einmal die Prothesen schmerzen heute, und außerdem freut er sich auf die Überraschung, die Gertrud Punkt acht erleben soll. Als er davon erfahren hatte, wollte er das Vorhaben verbieten, als unerlaubten Mißbrauch der Mannschaft zu Privatzwecken. Er erfuhr jedoch gleich, daß die Festungsfrauen die Abgeltung der Unkosten für die Mitwirkenden ordnungsgemäß beim Regimentsstab in Leideneritz bezahlt hatten, und ließ dann der Sache gern ihren Lauf.

Um so mehr geht ihm das zweite Versprechen im Kopf herum, das er Gertrud vor einer Woche gegeben hatte. Schon der bloße Gedanke an Kolatschek hob ihm jedesmal den Magen. Hielt er, wie er sie bezeichnete, Fanatiker und Zyniker für das größte Unglück der Bewegung, so verkörperte für ihn Kolatschek deren Verderbnis. Er wußte, daß jeder Umsturz auch den moralischen Abschaum hochspült, es berührte ihn jedoch peinlich, daß dieser sich in erster Linie im Sicherheitsdienst breitmachte.

Grundsätzlich war er für ein Europa ohne Juden, seit ihm verständlich gemacht worden war, daß sie nach den Worten eines deutschen Historikers, den der Führer oft zitierte, ein «Ferment der Dekomposition» seien – Kleinburger hatte sich diese magische Formel eingeprägt und benutzte sie auch gern –, eine stete Bedrohung der nationalen Gesellschaften, die sie für ihre gewinnsüchtigen Ziele zu gegenseitigem Blutvergießen aufhetzten. Als Einzelne waren die Juden trotzdem für ihn Menschen, denen die zivilisierte Welt so manches verdankte. Deshalb war er mit ihrer Konzentration in einer Art Ost-Israel – ja, und warum nicht gerade im Generalgouvernement? – einverstanden, oder in Galizien, wo sie seit jeher in großen Kommunitäten gelebt hatten.

Die immer wieder auftauchenden Gerüchte, sie würden systematisch ausgerottet, hielt er für zionistische Propaganda. Die sollte dem Reich in den Augen der natürlichen Verbündeten im Westen schaden, die sich – für beide Seiten gleichermaßen tragisch – vorübergehend Sowjetrußland angeschlossen hatten. Um so mehr empörten ihn glaubhafte Nachrichten über die Verhältnisse im Ghetto, das sich in Sicht- und Hörweite der Festung befand. Die mangelhaften hygienischen Verhältnisse, so gut wie keine ärztliche Versorgung – für Kleinburger war es selbstverständlich, daß Menschen, die morgen erschossen werden müssen, nicht noch heute unter Zahnschmerzen leiden sollen!–, die willkürliche Verkürzung der Mindestration, Raub und Gewalt seitens des Wachpersonals und insbesondere die Übergriffe bei den nächtlichen Deportationen hielt er für gesetzwidrig und darum für gefährlich und schädlich.

Er war jedoch soweit Soldat, sich in fremde Kompetenzen nicht einzumischen. Er wartete also auf die Kommission, die hier früher oder später erscheinen mußte, und konzentrierte sich lieber darauf, daß wenigstens seine Festung in jeder Hinsicht ein Gegenpol zu Kolatscheks Ghetto war. Diesen Kameraden von gegenüber, der zum Glück einen niedrigeren Rang hatte, mied er, wo er nur konnte. Den früher gemeinsam gefeierten Saufgelagen beider Kommandanturen setzte er bei seinem Dienstantritt mit dem Hinweis ein Ende, sie schwächten den Sicherheitsgrad beider Einheiten. Die Folgen seiner Verwundung erlaubten es ihm, private Einladungen auszuschlagen, und so begegnete er seinem Kontrahenten nur bei gelegentlichen Lagebesprechungen in Leideneritz, was ihm vollauf genügte.

Kolatschek war ihm vor allem deshalb suspekt, weil er zu jener Gruppe führender Parteigenossen gehörte, die ihn anwiderte. Zu der zählten Feiglinge, die unter gewissen Bedingungen zu gern zu Henkersknechten wurden. Kolatschek war einst österreichischer Sozialist gewesen, der nach dem Bürgerkrieg von 1934 als Schlachthofarbeiter im tschechoslowakischen Exil lebte. Als ihn am 15. März 1939 deutsche Motoren weckten, begann er sich aufzuführen, als hätte er Zeit seines Lebens bloß auf den Führer gewartet. Dem Kampf gegen das Judentum schloß er sich, so wurde erzählt, mit solcher Vehemenz an, daß er sogar alte Kämpfer in den Schatten stellte, bis er es schließlich zum Chef des größten Ghettos im Protektorat gebracht hatte.

Für den Festungskommandanten blieb Kolatschek auch in seiner hohen Funktion, die er vermutlich über Leichen erklommen hatte, ein Schlächter. Das Vieh ersetzten ihm die Juden. Über seine Potenz bei Vergewaltigungen waren Legenden im Umlauf. Die Karrieren solcher Kolatscheks waren nach Kleinburgers Maßstäben ein Schandfleck auf dem Banner der Bewegung. Ein Gedanke tröstete ihn: Daß es in ein paar Tagen zehn Jahre her sein wird, seit der Führer in Bad Wiessee die ähnlich demoralisierte Bande Röhms und seiner Spießgesellen zerschmetterte.

Und diesen Kerl sollte er um einen Gefallen bitten?

Nein, er kann das nicht, und Gertrud muß es begreifen. Christine ahnt ohnehin noch nichts von diesem Einfall ihrer Mutter ...

Es macht ihn froh, daß sie den ganzen Sommer über hierbleiben wird, in Sicherheit und unter seinem und Gertruds Einfluß. Morgen wird sie schon achtzehn! Plötzlich berührt ihn die Vorstellung, was sie in Berlin ganz allein hatte durchmachen und verkraften müssen.

Er sieht sie ständig vor sich, wie sie ihm am letzten gemeinsamen Abend in der Wohnung am Anhalter Bahnhof zum Grammophon eine Improvisation zur Musik des letzten «Tristan»-Akts getanzt hatte. Bis heute spürt er die Beklommenheit, als er ihre damals noch kindlich zarten Bewegungen beobachtete, daß er und Gertrud dieses Kind zurückließen und all den Gefahren des Erwachsenwerdens und des Kriegs aussetzten. Aber Gertrud sagte so entschlossen, wie er es gewöhnlich selbst zu tun pflegte.

«Ich habe dich geheiratet!»

Für ihn hatte sie die Tochter geopfert, und Christine ermöglichte es ihnen, denkt er dankbar, mit ihrer stillen Tapferkeit. Gibt es irgend etwas auf der Welt, was er den beiden verweigern möchte, wenn er auch nur einen Teil dessen ersetzen könnte, was er ihnen nahm? Weshalb will er eigentlich nicht verstehen, daß das Vorhaben, zu dem er vor einer Woche schließlich ja gesagt hatte, später allen seinen Leuten hinter diesen Mauern etwas Freude bringen sollte?

Durch den grünen Laubtunnel gelangt er direkt zum mächtigen Eingangstor der Festung, wo auch sein Dienstzimmer liegt. Er erwidert den korrekten Gruß der Wache, betritt den Vorraum seines Zimmers und befiehlt dem Unteroffizier vom Dienst, der stramme Haltung angenommen hat.

«Verbinden Sie mich mit Sturmbannführer Kolatschek!»

Tanz- und Liebesstunde

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