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II

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Zur gleichen Zeit

Gertrud zieht sich aus. Die schweren Mahagonimöbel in diesem steinernen Haus mit den kleinen Fenstern engen auch sie ein. Schon damals, als sie ihnen samt der Wohnung am Anhalter Bahnhof zugeteilt wurden, hatte sie Karl vorgeschlagen, das Zeug zu verkaufen und sich dafür eine modernere Einrichtung aus Metall anzuschaffen. Ihr überkorrekter Gatte jedoch sah in dem Bestand Reichseigentum, das ihm nur von Dienst wegen zur Verfügung gestellt wurde. Dieses Argument benutzte dann sie gegen ihn, als sie feststellte, daß ihre künftige Wohnung in dieser Festung an eine Mannschaftsunterkunft oder eine Sammelstelle leerer Flaschen erinnerte. Der Vorgänger ihres Mannes hatte sich in Trunkenheit auf der Treppe das Genick gebrochen.

Sie ahnte, daß Karli hierher kommandiert worden war, um die Belegschaft eines Augiasstalls in eine vorbildliche Eliteeinheit des Führers zu verwandeln, und dabei wollte sie ihm behilflich sein. Das war ihm natürlich gelungen, noch bevor der Lastwagen aus Berlin die Sachen brachte, auf die er gut hätte verzichten können. Bereits in den ersten sieben Tagen, als er Tag und Nacht wie ein Geist in der Küche, der Kantine, den Lagerräumen, in den Zellen und auf den Außenarbeitsstätten der Gefangenen, auf den Wachtürmen sowie in den Schlafstätten von Mannschaft und Unteroffizieren auftauchte und nebenbei von den Wällen aus, selbst unsichtbar, mit dem Feldstecher jede Bewegung in allen Höfen beobachtete, stellte er siebzehn Männer für die Front frei. Am achten Tag hätte auch die strengste Kontrolle nicht die geringste Laschheit feststellen können.

Gertrud, die sich aus eigenem Antrieb um die hier lebenden Frauen zu kümmern begann, erfaßte sofort, daß hier nicht ein leidenschaftliches Verlangen, dem kämpfenden Vaterland nützlich zu sein, die Ursache für raschen Erfolg war, sondern vielmehr reine Angst. Sie versuchte deshalb, auch den Frauen ein paar der kleinen Freuden des Lebens zu vermitteln, die sie mit ihrem Mann genoß. Die ursprüngliche Einrichtung des Herrenhauses, das irgendeiner tschechoslowakischen Militärverwaltung gehörte, war teils verschwunden, teils verkommen. Die Frauen der Berufssoldaten, die zum größten Teil in den Baracken beim Tor wohnten, teilten die tristen Verhältnisse der Männer und verdarben ihnen die ohnehin schon miserable Laune nur noch mehr.

Als die Möbel aus der Berliner Wohnung ankamen, war der Kommandant verblüfft über die Wirkung. Das erste Kaffeekränzchen, zu dem Gertrud alle zwanzig Frauen seiner Untergebenen eingeladen hatte, kam einer Mustermesse gleich. In den nächsten Wochen wurde die Festung Ziel von Militärlastern und Möbelwagen, die heranschafften, was die einstweilig verlassenen Wohnungen in der Heimat hergaben, was Eltern und Verwandte beisteuerten, die Altmöbelhändler und die Wehrmachtslager, wo man billig Sachen aus Kriegsbeute erstehen konnte. Mit den Stücken von zu Hause schien auch familiärer Geist Einzug zu halten. Die Frauen, Staublappen schwingend und Kissen stickend, wie sie es bei Gertrud bewundert hatten, gaben ihren Männern die Hoffnung wieder, ihr grausames Handwerk würde nicht ewig dauern.

Ein Volltreffer war Gertruds Idee mit der Schule. In der Festung lebten zwei Dutzend Kinder zwischen sechs und elf, die erst danach auf Internatsschulen kommen konnten, sofern im Reich noch welche die Bombennächte überstanden. Mit den Sprößlingen der Offiziere und Beamten im nahen Ghetto fuhren sie täglich in die Kreisstadt Leideneritz, wo sich ihrer an die fünfzig in einer Klasse drängelten.

Die erste Dame der Festung wartete nicht ab, bis die zuständige Kommandantur ihren Vorschlag billigte oder eher ablehnte. Als sie von Köpcke, Karlis Fahrer, erfuhr, seine Schwester sei Lehrerin, eine Kriegsbraut, die ihren Mann auf dem Balkan einen Tag früher verloren hatte, als sie ihm in Mannheim durch Ferntrauung verbunden worden war – diesem Schicksalsschlag trotzte sie mit der Entscheidung, die Trauung als vollzogen zu betrachten –, nutzte Gertrud augenblicklich den Umstand, daß seit kurzem auch Familienangehörige Gefallener hier wohnen durften. Und als die Mütter sahen, daß die schwarzgekleidete Kriegswitwe, durchaus imstande, eine anspruchsvolle Einklassenschule zu leiten, außerdem noch Klavier-, Geigen- und Flötenunterricht gab, legten sie gern das Geld für ihren Unterhalt zusammen. Schließlich gab sogar das deutsche Schulamt im Protektorat seine Zustimmung und einen Zuschuß. Daß die Gattin des Kommandanten, deren Tochter in Berlin studierte, all das organisierte und gemeinsam mit ihnen dafür aufkam, steigerte ihre Beliebtheit. So genoß sie in den Augen der Frauen einen Rang, vergleichbar dem ihres Gatten.

Der Kommandant verstand gut, was Gertruds Tätigkeit für seine eigene bedeutete, und ihr war klar, daß er es wußte, auch wenn er ihr kaum einmal anders als mit einem flüchtigen Kopfnicken dankte. Sie fragte nie nach seinem Dienst, das kam für sie als Frau eines deutschen Offiziers gar nicht in Frage. Von selbst erwähnte er seine Aufgaben nur, wenn sie entscheidend Interessen der Familie berührten. Dieses Mal aber erschöpften sie ihn zusehends, denn er hatte bei jedem Schritt und jeder Geste mit den Folgen seiner Verstümmelung zu kämpfen.

Nicht einmal jetzt, als er sich neben sie ins breite Ehebett legt, erlaubt er ihr, ihm die beiden Prothesen abzunehmen. Er erledigt das, den Rücken ihr zugewandt, wie jeden Abend so geschickt selbst, daß sie auch nach einem Jahr deren Mechanismus noch nicht begriff. Auch dieser Rücksichtnahme wegen liebt sie ihn. Zugleich ist das aber der Ausdruck seiner Unerbittlichkeit, die er sich und anderen abverlangt, und Gertrud wird manchmal ganz bang bei dem Gedanken, diese Härte könnte jemals auch sie treffen. Zum Glück beweist ihr aber jede neue schweigende Umarmung, wie leidenschaftlich er sie begehrt.

Heute ist es genau eine Woche her, daß sie den Mut faßte, ihn zu bitten, einen Weg zu finden, wie man Christine aus dem jetzt nahezu täglich bombardierten Berlin hierherbekommen könnte. Er beugte sich gerade zum linken Schenkel hinab, als er ihre Frage mit einer anderen beantwortete.

«Wann ist Schulschluß?»

«In drei Wochen ...»

«Wie kann sie dann früher weg?»

«Ich hab’ dir doch ihren Brief vorgelesen. Man hat sie bereits benotet, vorsichtshalber ...»

«Aha ... Warum läßt man sie dann nicht von sich aus heim?»

«Angeblich, um kein schlechtes Beispiel zu geben. Deshalb hält man die Kinder dort, obwohl sie so gut wie keinen Unterricht mehr haben. Begreifst du das?»

«Ja.»

«Karli, wenn sie wenigstens Verwundete pflegen dürften, oder was weiß ich, aber die haben Angst, weil es dort so viele Prominentenkinder gibt, und so läßt man sie lieber Tag und Nacht im Keller hocken. Das findest du richtig?»

Er war fertig und schlüpfte so geschickt unter die Decke, daß der halbleere Ärmel und das halbleere Hosenbein vom vollen nicht zu unterscheiden waren. Mit der gesunden Rechten knipste er das Nachttischlämpchen an, nahm Gustav Schwabs «Sagen des Klassischen Altertums» zur Hand und öffnete das dicke, schwere Buch, wo er unterbrochen hatte, mit dem Daumen, mit dem er geschickt umblättern konnte. Dabei schaute er Gertrud an.

«Nein, ich würde sie natürlich zu Verwundeten schicken oder Trümmer wegräumen lassen. Wenn das ganze Volk unter totalem Einsatz aller Kräfte um Sein oder Nichtsein kämpft, gelten andere Gesetze als in normalen Zeiten. Ich meine auch das Gesetz der Ehre, das vor allen Dingen.»

Er begriff, wie sehr er sie verletzte und wollte sie aufmuntern.

«Glaub ans Schicksal, Trudl, das war mir in Rußland gnädig und hat euch beide rechtzeitig vom Anhalter Bahnhof weggebracht!»

Sie überhörte es.

«Karli, deine Ehre war immer auch die meine, das kannst du nicht anders sagen. Aber Christine schreibt, ein gutes Drittel ihrer Mitschülerinnen ist bereits abgefahren. Immerhin sind es doch zukünftige Mütter, ohne die Deutschland seine Verluste nicht ersetzen kann. Welcher Ehre würde sie wohl dienen, wenn sie in einem Keller verschüttet ist? Wenn du schon nicht als Vater fühlen willst, dann denk wenigstens über deine Pflichten als Deutscher nach!»

Er hatte die aufgeschlagene Seite vor Augen, auf der es um die zweite Niederlage der Griechen vor Troja ging, blickte aber Gertrud an, als entdeckte er etwas Neues an ihr. Auf einmal klappte er den Band zu und legte ihn auf den Nachttisch.

«Du magst recht haben. Vielleicht sind es nur noch die bekannten Krämpfe von Fanatikern, die höchstwahrscheinlich vielmehr käuflich sind. Christine nützt Deutschland als Mutter am meisten, da bin ich deiner Meinung. Aber was soll sie denn hier anfangen?»

«Sie wäre einfach bei uns ...»

«Denk mal daran, wie es dir die ersten Tage hier erging! Ich bin Soldat, erfülle hier meine Pflicht, trotzdem sind meine Gefühle nicht abgestorben. Ich bin ein Mensch geblieben, für den nicht einmal eine gerechte Maßnahme an Grausamkeit verloren hat. Bist du hier glücklich?»

«Ja. Weil ich bei dir sein kann.»

«Weich nicht aus! Du bist bei mir, sorgst für mich, für die Frauen und die Schule, du solltest zufrieden sein und mit einem guten Gewissen einschlafen. Weshalb betest du dann?»

«Ich ...»

«Du betest. Ich habe schon mehrmals beobachtet, wie sich deine Lippen im Dunkeln bewegten. Für wen betest du?»

«Für Christine ...»

«Und für mich nicht?»

«Doch ...»

Er wandte den Kopf zum verdunkelten Fenster.

«Und für die dort vielleicht auch?»

«Karli!»

«Warum nicht? Das sind doch auch menschliche Wesen. Gottlob hast du an meiner Seite erlebt, wozu der Feind fähig ist. Diese Erfahrung fehlt Christine. Du hast es verstanden, und das werde ich dir niemals genug danken können, daß sie auch in so schweren Zeiten eine schöne Kindheit erlebte. Gut, ich habe dabei geholfen, aber ich mußte andere für mich sprechen lassen, die Dichter. So bin ich nun mal, ich rede eben nicht viel. Von dir hat sie alle ihre Musikalität! In ein, zwei Jahren muß der Krieg vorbei sein, der Führer hat mit seinem Rückzug die Russen in eine Falle gelockt und auf preußischem Boden ihren westlichen Verbündeten gleichzeitig klargemacht, daß auch sie an Europas Schicksal denken müssen, das heute nur Deutschland verteidigt. Ich weiß, wir werden bald die Vergeltung erleben, die vernichtenden Geheimwaffen. Du zweifelst doch nicht an unserem Sieg?»

«Nein! Aber was hat das mit ...»

«Trudl, wir sollten uns darum kümmern, daß unsere Tochter ihn ohne Schrammen an der Seele erlebt, die wir beide an uns erfahren haben.»

«Ich bete schon dafür, daß sie am Leben bleiben darf.»

«Schau dir den Weißmüller an! Der ist ein paar Jahre älter als Christine. Willst du vielleicht, daß sie so wie der überlebt?»

«Er macht den Eindruck eines wohlerzogenen, zuverlässigen jungen Mannes ... Was ist los mit ihm?»

Sie war verblüfft. Eigentlich war es das erste Mal seit jenen längst vergangenen Zeiten, als die Bewegung in den Anfängen stand und sie beide endlose Gespräche über alles und jeden führten, daß er einen seiner Mitarbeiter erwähnte. Und sogar fortfuhr.

«Ja, er ist zuverlässiger als der Grube, aber gerade seine Erziehung jagt einem Angst ein. Was ich aus Überzeugung tue, aus dem Bewußtsein erkannter Notwendigkeit, tut er aus Fanatismus.»

«Der Führer sagt, Fanatismus ist Ausdruck des höchsten Patriotismus.»

Sie bekam keine Antwort.

«Stimmt das etwa nicht?»

Mit der gesunden Hand zog er die Bettdecke bis ans Kinn. Er schaute vor sich hin.

«Ich habe weder Rang noch Bildung, um mit dem zu streiten, der gerade jetzt der Welt eine neue Dimension eröffnet und dem Leben einen neuen Sinn gibt. Aber ich bin mir sicher, daß er damit nicht Fanatismus meinte, dessen Quelle blinder Gehorsam ist, der leicht gegen das eigene Volk und die eigene Rasse mißbraucht werden kann!»

«Was hat Christine damit zu tun?»

«Weißmüller wird vom Geist dieser Festung geformt, weil er noch keine andere Erfahrung gemacht hat. Während für mich Härte gegenüber dem Feind das äußerste Mittel im Kampf für unsere Ideale ist, bedeutet es für ihn das Ziel. Was ich als schicksalhaft unerläßlich ansehe, was ich in Demut und in der Zuversicht ausführe, das kommende Glück meines Volkes möge es reinwaschen, ist für ihn nur Handwerk, reines Handwerk. Es scheint, als machte ihm das sogar Spaß.»

«Was tut Weißmüller hier eigentlich ...?»

«Lassen wir das!»

Sein schroffer Ton überraschte ihn selbst, und er sprach wieder besänftigend.

«Verzeih ... Mir ist bei dem Gedanken, Christine sollte in diesen Mauern leben, einfach nicht wohl.»

Der Apparat auf dem Nachttisch klingelte. Stellvertreter Grube meldete, einige Bomberverbände seien angekündigt, die von Nürnberg nach Nordosten abdrehen; er habe bereits befohlen, die Scheinwerfer abzuschalten, und die üblichen Maßnahmen veranlaßt. Der Kommandant gab sich einverstanden und kurbelte ab. Die scharf abgerichteten Schäferhunde begannen zu bellen, von den Hundeführern auf den Wall gebracht, um mit ihrem Spürsinn das erloschene Licht zu ersetzen. Gertrud wußte Bescheid.

«Sind sie wieder unterwegs?»

«Ja.»

«Viele?»

«Zwei oder drei Verbände.»

Beide wußten, daß dies eine beliebte Himmelsschiene der Anglo-Amerikaner Richtung Berlin war. Vater und Mutter dachten an die Tochter. Das gab ihr neue Kraft.

«Karli, wenn uns je etwas gelungen ist, dann ihre Erziehung. Ich werd’ ihr hier nähen beibringen, kochen ...»

«Gertrud!» Wie immer, wenn er die Geduld verlor, nannte er sie beim vollen Namen. «Sie liebt Musik und Tanz. Dort kann sie zumindest ins Theater und ins Ballett gehen.»

Ihr Gespür sagte ihr, daß sie ihm diesmal überlegen war, und sie ließ nicht locker.

«Wegen uns beiden mußte sie die Ballettstunden aufgeben! Warum sollte sie eigentlich gerade hier nicht weitertanzen?»

«Soll Köpckes Schwester sie unterrichten? Und auftreten wird sie mit dem Kinderhort?»

«Darüber hab’ ich mir schon Gedanken gemacht, Karli ... Erinnerst du dich, wie Kolatschek kürzlich geprahlt haben soll, wie viele berühmte Künstler er dort hat? Behauptete er nicht, sein Casino im Ghetto steht der Berliner Oper in nichts nach? Grube hat das doch erzählt!»

«Na, und ...?»

«Und wenn du den Kolatschek anrufen würdest?»

«Warum sollte ich den anrufen ...?»

«Damit er uns einen Tanzlehrer borgt!»

Er richtete sich im Bett auf wie damals, als sie ihn im Lazarett besuchten.

«Mit dem Kolatschek will ich privat überhaupt nie etwas zu tun haben!»

«Warum denn?»

Er zögerte. Dann versuchte er, seinen Einwand zu umschreiben.

«Seine und meine Aufträge sind von absolut unterschiedlicher Natur.»

«Mag sein. Ihr dient aber beide derselben Sache, nicht wahr?»

Daran hegte er ernsten Zweifel, er hatte ihn nur bisher sich selbst gegenüber nicht präzisiert. Es war sein Grundsatz, daß in der Festung, für die er verantwortlich war, auch gegenüber den erbittertsten Gegnern das Gesetz eingehalten werden mußte. Ihm schien, als herrschten dagegen jenseits des Flusses die Gesetze des Dschungels. Er registrierte sehr wohl, was über die Zusammenstellung der Transporte für den Mitternachtszug gemunkelt wurde, der die wechselnden Ghettobewohner in einer Umsiedlungsaktion jetzt täglich irgendwohin nach Polen brachte. Dabei sollte es wiederholt zu Gewalttätigkeiten, Bestechungen und vielleicht sogar zu Diebstahl am persönlichen Eigentum der Aussiedler gekommen sein. Kleinburger wartete nur auf die nächste Inspektion aus Berlin, um mit ihr ein offenes Wort zu reden. Er war überzeugt, daß die da droben von hier gezielt falsch unterrichtet wurden. Es ging doch in erster Linie, sagte er sich, nicht um das Wohl und Wehe der Juden, sondern um die eigene Sache.

Das Ghetto wurde in einer ehemaligen Garnisonsstadt der Donaumonarchie errichtet, deren militärische Geometrie und ausgeklügelte Befestigungen dem neuen Zweck vortrefflich entsprachen. Leider übertraf die Anzahl der jetzigen unfreiwilligen Einwohner den Stand der damaligen Besatzung und deren Familien um ein Mehrfaches. Die eigentliche, gewaltig wirkende, wenn auch viel kleinere angrenzende Festung fand wiederum eine besondere Verwendung. In den alten Kasematten hatten diverse Sicherheitsämter Gefangene untergebracht, deren Verurteilung noch bevorstand, und auch ehemalige politische Prominenz aus den besetzten europäischen Ländern, sofern diese irgendwann noch einmal nützlich sein könnte. Im sogenannten vierten Hof erwarteten die bereits Verurteilten ihren Tod.

Die Meinung des Festungskommandanten über die Judenfrage entsprach der niedrigen Nummer seines Parteibuchs. Er kannte den Führer persönlich noch aus frühen Münchner Zeiten. Nach dessen Verurteilung im Jahre 1923 war er wiederholt als geheimer Kurier nach Landsberg gefahren, um von sympathisierenden Wärtern neue Seiten seines Buches «Mein Kampf» zu übernehmen. Er war grenzenlos stolz darauf, ihr erster Leser zu sein, und verschlang die Blätter immer begieriger. Einige Sätze prägten sich für immer und ewig in sein Gedächtnis ein. Zum Beispiel, wie genial einfach der Führer im Kapitel «Volk und Rasse» das Judenproblem erläutert hatte.

«Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen der gleichen Art. Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin ... Es wird nie ein Fuchs zu finden sein, der seiner inneren Gesinnung nach etwa humane Anwandlungen Gänsen gegenüber haben könnte, wie es ebenso auch keine Katze gibt mit freundlicher Zuneigung zu Mäusen.» Und weiter: «Bei jeder Blutsvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern kam als Ergebnis das Ende des Kulturträgers heraus!»

Karl Kleinburger war völlig einverstanden mit der Zügelung einer Rasse, die die Wirtschaftskrise und bereits zwei Weltkriege auf dem Gewissen hatte. Er war jedoch zutiefst überzeugt, daß die gerechte deutsche Sache von keinerlei Unrecht befleckt sein dürfe. Und Kolatschek kümmerte sich einen Dreck darum.

Gertrud unterbrach ihn in seinen Gedanken.

«Karli, wir sind schon über zwanzig Jahre zusammen, und ich erinnere mich nicht, dir irgendwann Schwierigkeiten gemacht zu haben. Deine Grundsätze hab’ ich immer respektiert, auch dann, wenn ich sie nicht verstanden habe. Ich weiß nicht, was du mit diesem Kolatschek hast, aber überlege bitte, was dagegen spricht, Christine nicht diese kleine Freude zu machen für all die großen, die sie uns schon gemacht hat. Ihre erstaunliche Gelenkigkeit und Ausdauer hat sie wieder von dir. Wenn sie sich aufs Tanzen konzentrieren kann, wird sie auf keine dummen Gedanken kommen. Schatz, in einer Woche haben wir doch beide Geburtstag. Schenk mir sie und ihr die Tanzstunden ...!»

Bevor er noch antworten konnte, hörten sie, wie zuerst fern in Leideneritz und im Ghetto und kurz darauf auf dem Turm über dem Festungstor die Sirenen ertönten, jenes wild heulende Glissando des Alarms. Der Kommandant hatte sich im Verborgenen bereits seine Prothesen angeschnallt. Dann schaltete er das Licht aus, schob die dichte Gardine beiseite und öffnete das Fenster.

Die dunklen Mauern der Festung verschmolzen mit dem sternenlosen Himmel. Die Sirenen verstummten. Die Erregung der Hunde wurde durch das ferne Bellen der Flak gesteigert. Und als setzten die Kontrabässe eines großen Orchesters ein, nahm das dumpfe Geräusch einer gewaltigen Luftarmada zu, bis es alles andere übertönte. Kleinburger mußte sehr laut sprechen.

«Gut, Trudl. Den Stein der Weisen hab’ ich nicht gefunden. Versuchen wir’s.»

Nun liegt er wieder neben ihr, ihr Karli. Die heutige Nacht ist ruhig, eine Nacht der Grillen und des betörenden Dufts von welkendem Gras, im Lichte der starken Scheinwerfer glitzern wieder die Blätter der Linden, als sei der Wasserspiegel bis zu den Fenstern angeschwollen. Der Krieg ist weit, und vor dem Wüten einheimischer Feinde schützen sie mächtige Festungswälle. Unter dem Dach des Herrenhauses schläft ihre Tochter, ein Kind der Liebe, die nicht einmal zwanzig Jahre, eins schwerer als das andere, abzustumpfen vermochte.

Gertrud sieht sich im Alter ihrer Tochter, sieht sich wieder in Mutters Dirndl, wie sie die Last der Maßkrüge zum Tisch trägt, wo sie der freudige Lärm fröhlicher Burschen empfängt – ihren Dienst als Störtrupps der roten Maiumzüge hatten sie gerade hinter sich –, und einer, der einzige ohne die Hakenkreuzarmbinde, dafür in zugeknöpfter Jacke und mit gestärktem Hemdkragen, als sei er aus der Kirche gekommen, läßt immer, wenn sie mit den schweren Krügen kommt, kein Auge von ihr, sagt als einziger kein Wort, und als sie sich wieder einmal ihrer Last entledigt hat, die erste, zweite, dritte, vierte, fünfte, sechste Maß, ach Gott, sieben sind’s ja, und gerade er hat keines abgekriegt! ärgert er sich trotzdem nicht, und als die Runde ihn auslacht, daß sie ihm als einzigem nichts gegeben hatte, erhebt er sich in seiner ganzen Größe und sagt mit angenehmem Bariton zu ihr – Falls Sie nichts dagegen haben, mein Fräulein, würde ich anstelle der Maß Sie nehmen! – huronisches Gelächter bricht aus, das abreißt, als ihnen aufgeht, daß gerade er bisher nie gescherzt hatte, und tatsächlich: Er meinte, was er sagte, und ihr fiel es nicht leicht, den Worten, die beim Bier in einer Gartenwirtschaft voller Krach und Gejohle gesagt wurden, zu glauben, doch sie war sofort entschlossen, es zu tun, was wiederum ihn überraschte, und beide hatten zwanzig Jahre ihr Wort gehalten, und kein Strudel der Zeit war stärker als diese beiden Worte, und jetzt in diesem Land und dieser Festung, die ihr ewig fremd bleiben werden, erkennt sie wieder die Tiefe ihrer Sicherheit. Er ist es! Fort die Hand, die sie beim Einschlafen hielt, weg das Bein, auf das sie ihres zu legen pflegte, er aber ist immer hier, und sie gehört ihm, und er begehrt sie, dreht sich wie immer zärtlich zu ihr um, jetzt fast körperlos, stützt sich wie gewohnt auf den Ellenbogen, der ihm geblieben ist, und umfängt sie mit der einzigen Hand und entblößt sie und öffnet sie mit dem ihm verbliebenen Knie ... Ach, Karli, ach, du mein Glück!

Tanz- und Liebesstunde

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