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Der Unterschied zwischen Geschichten, die sich zugetragen haben, und solchen, die sich nicht zugetragen haben. – Besitz von Phantasie und Gedächtnis verboten! – Was ist besser: halbe Wahrheit oder halbe Lüge? – Die Lawine gerät ins Rollen: Pythagoras kommt mit dem Sheriff. – Was würde geschehen, falls die Klasse unisono »Setzen!« riefe? – Ausnahmslos hervorragend ... – Ein epochaler Erfolg oder ein globaler Betrug? – Ein Glück, daß Folterung an Schulen gesetzlich verboten ist.

Wie soll eine Geschichte erzählt werden, die sich nie zugetragen hat?

Zu diesem Zweck hat die Natur Wesen erschaffen, die von ihr mit Papier und Phantasie bedacht wurden: die Schriftsteller. Mittels Phantasie und Papier sind sie imstande, eine beliebige Geschichte, die sich nie zugetragen hat, so fesselnd darzustellen, daß sie oft überzeugender klingt als Geschichten, die sich tatsächlich zugetragen haben.

Aber wie soll dann eine Geschichte erzählt werden, die sich tatsächlich zugetragen hat?

Für diesen Zweck hat die Natur Geschöpfe hervorgebracht, die von ihr mit Papier und Gedächtnis ausgestattet wurden: die Chronisten. Mittels Gedächtnis und Papier sind sie fähig, eine Geschichte, die sich zugetragen hat, so eingehend zu schildern, daß sie mitunter ebenso überzeugend klingt wie Geschichten, die sich nicht zugetragen haben.

Doch wie soll mit einer Geschichte verfahren werden, die sich zugetragen hat, obwohl sie sich nie hätte zutragen dürfen?

Dieses Zwecks eingedenk hat die Natur Exemplare erzeugt, die von ihr mit Macht ausgerüstet wurden: die Zensoren. Kraft ihrer Macht können sie jede Geschichte verbieten, sowohl eine, die sich zugetragen hat, als auch eine, die sich nicht zugetragen hat; diese als Ausgeburt einer blühenden Phantasie, jene als Produkt eines trügerischen Gedächtnisses.

Wehe der Phantasie, die vom Gedächtnis beschnitten wird! Wehe dem Gedächtnis, das von der Phantasie verbrämt wird! Aber dreimal wehe dem guten Gedächtnis und der regen Phantasie, wenn beide von der Macht geknebelt werden! Es gibt Zeiten, in denen der Besitz von Phantasie und Gedächtnis ebenso strafbar ist wie der Besitz von Waffen.

Wie soll in solchen Zeiten mit einer Geschichte verfahren werden, über die sich Schriftsteller, Chronist und Zensor in die Haare geraten, einer Geschichte, so wahr, als hätte sie sich niemals zugetragen, so aufregend, weil sie sich tatsächlich zugetragen hat, und so gefährlich, weil sie im Interesse der Macht sich nie hätte zutragen dürfen?

Soll man sie durch Phantasie verharmlosen und ihr so Biß und Stachel nehmen? Sie mit Gedächtnis befrachten und so der eitlen Macht zu nahe treten? Oder sie lieber gar nicht erzählen?

Wie wäre es denn damit: Ein bißchen das Auge des Gedächtnisses zudrücken, ein bißchen die Zügel der Phantasie schleifen lassen, einfach so, damit das Gewissen des Autors nicht zu nagen beginnt und die Wölfe der Macht zu nagen aufhören – und die fabelhafte Geschichte ganz bleibt?

Wird Wahrheit etwa zu Lüge, wenn eine Karla zur Klára wird? Möge die Wahrheit nie eine größere Einbuße erleiden als die Verschiebung dreier Laute! Tut es ihr Abbruch, wenn vom Namen der Stadt nur der Buchstabe S übrigbleibt? Besser eine halbe Wahrheit als eine halbe Lüge!

Und darum, liebe kleine Klára aus der Stadt S., steh auf und wandle, du Kind des Vaters Traum und der Mutter Wirklichkeit; falls jemand dich erkennt, wird er es durch nichts beweisen können.

Zum Schluß dieser Geschichte wird der Untergang einer Stadt vorausgesagt. Doch selbst die vernichtendste Lawine beginnt mit der unmerklichen Bewegung eines lächerlichen Eiskristalls.

Häuptling Tikal, der, von Brož abgesichert, nach dem Klingeln noch blitzschnell auf den leeren Korridor hinausgeschlüpft war, um eigenhändig mit dem Dietrich die Mädchentoilette zuzusperren, riß die Augen auf, schnellte wie ein Hase herum und stürzte in die Klasse mit dem Ausruf:

– Alarmstufe eins! Der Pythagoras kommt mit dem Sheriff!

Soweit das Gedächtnis der neunjährigen Grundschule in S. zurückreichte, war dergleichen erst ein einziges Mal vorgekommen: als vor Jahren fast die gesamte 9. Klasse bei einer Schulaufgabe eine Fünf geschrieben hatte und derselbe Mathematiklehrer, schon damals mit Bürstenhaarschnitt, denselben Direktor, schon damals mit Glatze, mitgebracht hatte, um seiner Warnung Nachdruck zu verleihen.

Sämtliche zweiundvierzig Mädchen und Jungen der Klasse 8 a saßen im Nu auf ihren Plätzen, es herrschte eine Stille, so unverhofft und erregend, wie wenn im Fernsehen der Ton ausfällt. Einundvierzig Blicke, gespannt wie Flitzbogen, durchquerten den Raum. Sie trafen an der dritten Bank am Fenster zusammen. Dort saß ein graziles Mädchen mit langem Haar von der Farbe reifer Kastanien und leicht schrägstehenden Augen von der Form und Farbe ungeschälter Mandeln.

Indes, was wiegt Mädchenschönheit, wenn wir vierzehn sind und unser mannhaftes Herz vor Unmut bebt?

Na warte! dachte Tikal stellvertretend für alle, du kannst was erleben! Diese Gemeinheit wirst du bitter büßen!! Er nahm sich vor, ihr gleich nach dem Pausenklingeln einen Prager Fenstersturz zu bereiten, wobei der Inhalt der Schultasche nicht in den Gang zwischen den Bänken gekippt wird, sondern aus dem Klassenfenster in die Nesseln.

Die Tür. Alle Köpfe fuhren herum, und zweiundvierzig junge Körper schnellten zur Begrüßung hoch. Der kleine dicke Direktor Plavec und der große magere Professor Brunát kamen ins Klassenzimmer hereinmarschiert wie ein Komikerpaar aus dem Stummfilm.

Aber kann man sich kaputtlachen, wenn die Schulaufgaben mitgebracht werden?

Der Mathematiklehrer trat vors Katheder. Der Direktor blieb an der Tür, stieg aufs Podium. Der Größenunterschied zwischen den beiden verringerte sich nur um weniges. Die Klasse hielt Ausschau, wer von ihnen das Zeichen zum Setzen geben würde. Erstaunlicherweise gab es keiner. Beide betrachteten die Klasse schweigend.

Tikal wurde das Gefühl nicht los, daß im Gegenteil die beiden der Aufforderung harrten. Er stellte sich vor, was geschähe, wenn die Klasse unisono »Setzen!« riefe. Würden sie in Lachen ausbrechen? Oder zur Polizei laufen? Oder vor Schreck gehorchen?

Aber die Klasse stand, stumm und starr, wie gefügige Tiger unter der Peitsche von Dompteuren. Und dann wandte der Direktor sich an den Mathematiklehrer.

– Bitte, Herr Kollege!

Alle blieben stehen, und das war noch unheimlicher. Brunát stieg aufs Podium; er wurde um noch einen Kopf größer und hielt mit einer Hand den Stoß Hefte hoch, während er mit der anderen auf sie zeigte.

Tikal konnte sich des Gefühls nicht erwehren, er werde sie nach der Klasse schleudern. Er stellte sich vor, wie die blauen Hefte raketengleich die wehrlosen Schüler niedermähen, während der Lehrer irre lacht. Was dann? Zum Fenster hinaus in die Nesseln springen, oder sich auf ihn stürzen und ihn unschädlich machen? Darf ein Schüler mit einem Lehrer kämpfen, selbst mit einem der Sinne beraubten?

Aber der Mathematiklehrer sprach mit einer Stimme, die vor feierlicher Erregung zitterte.

– Meine lieben Schüler ... Es ist etwas Außergewöhnliches geschehen ... Zum erstenmal in der Geschichte unserer Schule, vielleicht sogar in der Geschichte des Schulwesens, ist eine Mathematikarbeit ausgefallen wie folgt: Ausnahmslos –

er schüttelte den Stoß Hefte, der wie ein Lebewesen reagierte, indem er das Gebiß weißer Heftseiten bleckte

– hervorragend!

Ein eigenartiger Laut wurde vernehmbar. Die Klasse hatte vor Verblüffung nach Luft geschnappt.

– In den zweiundvierzig Arbeiten findet sich in keinem der fünf Beispiele auch nur ein einziger Fehler. Alle –

seine Stimme versagte vor Empörung, er mußte schlucken und Atem holen, um weitersprechen zu können

– sind richtig. Man könnte sagen, sie seien alle gleich richtig. Bitte, Genosse Direktor ...

Er verbeugte sich hölzern, legte den Stoß Hefte aufs Katheder und stieg vom Podium. Der Direktor trat vor die Tafel. Er war so auf seine Mitteilung konzentriert, daß er sich ebenfalls unbewußt verbeugte.

– Meine lieben Schüler, ich sollte euch also im Namen der gesamten Lehrerschaft gratulieren und ein derart glänzendes Ergebnis dem Unterrichtsministerium mitteilen. Ja, vielleicht sollte ich es auch euren Eltern und der Öffentlichkeit bekanntgeben und in der Aula eine Feier veranstalten, um euch sämtlichen Jahrgängen als Beispiel vorzuhalten!

Ein anderer Laut wurde vernehmbar. Die Klasse begann vor Begeisterung zu raunen.

– Doch zuvor müssen wir uns eine Frage stellen!

Seine Stimme veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit. Er und der Mathematiklehrer bekamen plötzlich eiskalte Augen wie Detektive.

– Wurde hier nicht –

sein Zeigefinger zitterte über dem Stoß Hefte wie über einer Zeitbombe

– ein unglaublich dreister, geradezu globaler Betrug verübt?

In der Klasse breitete sich Grabesstille aus, während in sämtlichen Gemütern eine Höllenmaschine tickte.

– Meine lieben Schüler! Ich will dem Schuldigen Gelegenheit geben, freiwillig ein Geständnis abzulegen. In diesem Fall wären Kollege Brunát und ich bereit, das Ganze als dummen Scherz aufzufassen, als einen Bubenstreich, der unter uns bleibt. Nun? So ein Angebot werdet ihr doch nicht ausschlagen, hab ich recht?

Tikal überzeugte sich durch einen Seitenblick, wie die Situation in der dritten Bank am Fenster aussah. Das mandeläugige, kastanienhaarige Mädchen schaute den Direktor gelassen interessiert an. Dafür verriet ihre pummelige Nachbarin höchste Beunruhigung; ihr Kinn zitterte, als hielte sie nur mühsam die Tränen zurück.

Das krampfhaft freundliche Lächeln auf dem Gesicht des obersten Pädagogen der Schule erlosch jäh. Er schlug mit der Faust auf den Stoß Hefte, und seine Stimme knatterte los wie ein Colt; sie bestätigte die Richtigkeit seines Spitznamens.

– Na schön! Dann versuchen wir’s anders. Genosse Brunát, rufen Sie den Schulwart! Einer nach dem anderen zu mir!

Tikal stellte sich ein feuchtes Kellergewölbe vor, von züngelnden Fackeln geschwärzt. Auf schräger Leiter festgeschnallt ein Jüngling in Fetzen: Tikal. Der Direktor befragt ihn, der Schulwart dreht die Winde, der Mathematiklehrer brennt ihn mit glühenden Eisen.

Tikal verspürte tiefe Erleichterung darüber, daß er in einem Jahrhundert lebte, in dem Folterung an Schulen gesetzlich verboten ist.

Die Einfälle der heiligen Klara

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