Читать книгу Die Einfälle der heiligen Klara - Pavel Kohout - Страница 8
V
ОглавлениеJustiz in der Klasse und Klassenjustiz. – Das Marterprogramm. – Věra, das war eine Sünde! – 15,32,51,65 und 99. – Der Bruder des Direktors auf dem Lokus. – Ein Mathematiklehrer trägt keine Insekten in den Taschen mit sich herum. – Die Klasse wird so liegen, wie Bašus sie bettet. – Die grundsätzliche Bedeutung des Punktes. – Ein glücklicher Zufall soll nur verdienten Bürgern begegnen. – Zeig mir, was du da hast! – Kein Ingenieur unter dem Fenstersims. – Wer hat nicht abgegeben?
Eines ließ Hauptmann Urban sich nicht nehmen: wie immer an kritischen Tagen die Tochter bis vor die Schule zu begleiten, um sicherzugehen, daß sie die Schule nicht schwänzte, und um sie obendrein bis zum letzten Moment erziehen zu können. Urban war ein anständiger, fleißiger Mann mit Durchsetzungsvermögen, er hatte sich Rang und Funktion von der Pike auf und ohne Protektion erarbeitet, da er schon in jungen Jahren das Wörtchen »unmöglich« aus seinem Wortschatz gestrichen hatte. Unterwegs nannte er der Tochter zahlreiche belehrende Beispiele aus Geschichte, Literatur und eigenem Leben, bemüht, in ihr die Überzeugung zu verwurzeln, daß Schularbeit sich am leichtesten mit unerschütterlichem Selbstvertrauen, gesundem Ehrgeiz und heiterem Gemüt bewältigen läßt.
Die Urbanová greinte heute ausnahmsweise nicht, daß seine Begleitung sie zur Zielscheibe allgemeinen Gespötts mache, sondern nickte fügsam und blieb mit ihm sogar bis zum ersten Klingelzeichen vor dem Schulgebäude stehen, damit möglichst viele Mitschüler den uniformierten Vater sahen. Sie ahnte, daß dieser Freitag ein schwarzer werden würde, und wäre heilfroh gewesen, wenn sie auch in der Klasse Polizeischutz genossen hätte.
O Jugend, wie grausam, aber auch gerecht vermagst du den Verrat an der gemeinsamen Sache zu bestrafen! Wie einfach und verständlich sind deine Gesetze, wie unbestechlich und unabhängig ist dein Gericht, wie wirkungsvoll deine unblutige Strafe! Auf diese Weise wird die Bestie Verrat an der Kette gehalten, und lassen Hasenfüße oder Hundsfötter sie frei, so werden sie für ihre Hasenfüßigkeit respektive Hundsföttischkeit mit schlagfertigem Wort und treffsicherer Hand entlohnt und obendrein öffentlich als hasenfüßig respektive hundsföttisch angeprangert.
Weiß Gott, wenn Völker in ihre Klassenkämpfe die Grundsätze ihrer Schulklassen einbrächten, dann würden sich nicht so viele Diktatoren auf ihrem Rücken austoben, und Okkupanten würden um sie herumschleichen wie genäschige Kater um die verschlossene Speisekammer. Wie schade, daß diese Justiz am Schultor endet; gleich dahinter werden Tyrannen und Vaterlandsverräter als Stützpfeiler von Recht und Anstand proklamiert und mit Orden, Ämtern und Gütern belohnt.
Weit mehr als die neue Schulaufgabe verursachte der Urbanová die Vorstellung des Spießrutenlaufens eine Gänsehaut, das ihr nicht erspart bleiben würde, selbst wenn sie fünf Väter in Polizeiuniform hätte. Sie wünschte sehnlichst, zu ihrer Bank möge ein Tunnel führen.
Sie bangte durchaus zu Recht. Das empörte Kollektiv plante, der Verräterin Martern ersten Grades, zutreffend »höllische« genannt, angedeihen zu lassen. Unter anderem standen ihr bevor:
Verweigerung brüderlicher Hilfe an der Tafel (verantwortlich: Bašus) und in der Bank (Kollektivhaftung),
Auskippen der Schultasche, auch »Kassensturz« geheißen, vor dem Unterricht (verantwortlich: Brož) und »Prager Fenstersturz« danach (verantwortlich: Ehrenberger),
unbemerktes Schwärzen einer oder mehrerer Backen mit Ruß (zu besorgen, einschließlich des Rußes, von der Slámová),
Zukleben des Russischlehrbuchs für die 8. Klasse mit Sardellenpaste (Tikal),
Einsperren in der Mädchentoilette (Tikal),
vorübergehende Entwendung der Füllfeder, deren Entleerung und anschließende Füllung mit Ketchup (Dušek),
gewaltsame Abnahme eines Schuhs und Verbergen desselben hinter der Box der Schulsprechanlage (Dušek und Ehrenberger),
heimliches Ersetzen des Pausenbrotes in der Serviette durch eine tote Ratte (mit der Besorgung und Durchführung betraut: Šefrna),
in der Turnstunde Dresche mit dem Medizinball beim Gruppenspiel (alle),
während der Turnstunde sogenanntes gordisches Verknoten sämtlicher Wäsche- und Kleidungsstücke (Javůrková),
auf dem Heimweg geschickte Anbringung eines Zettels mit der Aufschrift »Achtung, böser Hund« auf dem Rücken (Tikal),
und schließlich, ins Schülerbuch eingeschmuggelt, das Hauptmann Urban täglich aufmerksam studierte, die Fotografie eines Korporals mit der gefälschten Widmung: »Věra, das war eine Sünde! Dein Karli« (ebenfalls Tikal).
Das reichhaltige Programm blieb auf den Kassensturz beschränkt. Kaum hatte sich der an der Tür lauernde Brož ihrer Schultasche bemächtigt und im Laufschritt deren Inhalt längs des Podiums bis zum Fenster verstreut, während Ehrenberger, von Dušek abgeschirmt, versuchte, ihr einen Schuh abzustreifen, kreischte die Verräterin Urbanová schrill:
– Laßt mich in Ruhe, und ich verrate euch was!
Jahrhundertealter Schülerinstinkt zwang alle, der Information Gehör zu schenken, mochte es sich auch nur um eine Finte handeln. Sie hielten die Urbanová jedoch sicherheitshalber fest; die Slámová, die ihr laut Programm scheinbar zu Hilfe eilen sollte, wickelte den echten, hausgemachten Ruß aus.
– Rück heraus damit!
rief Tikal.
– Statt Turnen schreiben wir eine neue Mathe-Arbeit!
Die Klasse erstarrte zu Stein.
– Was quasselst du da ...
fuhr Tikal sie an, aber in seinem Inneren tickte der Instinkt wie ein Wecker und sagte ihm, daß es stimmte.
Brož warf der Urbanová ihre leere Tasche zu, Ehrenberger den Schuh. Sie stoben in ihre Bänke, um den Zustand ihrer Spickzettel zu überprüfen; dann dämmerte ihnen, daß sie statt derer heute Turnhosen und -leibchen mitgebracht hatten. Bis auf Bašus wurden alle von Panik erfaßt.
– Jesusmaria,
jammerte die Batková, womit sie die Stimmung der überwältigenden Mehrheit ausdrückte,
– na, das gibt ein Waterkloo!
In dem Moment betrat die Zimová die Klasse. Tikal bemerkte sie als erster.
– Klárka!
schrie er auf, wobei er unbewußt, ähnlich wie gestern abend vor dem Einschlafen im Geiste, zum erstenmal laut eine Koseform ihres Namens verwendete,
– der Pythagoras läßt die Arbeit wiederholen!
– Ich weiß,
antwortete sie, begrüßte freundlich die Urbanová, hockte sich neben sie und half ihr beim Aufklauben der verstreuten Schulausrüstung.
– Hör mal,
Tikal beugte sich, einer Eingebung folgend, zu ihr herab,
– du hast nicht zufällig das Buch da?
– Doch, hab ich.
– Und könntest du nicht mal kurz reinschauen? Vielleicht fällt dir wieder ein, was er uns aufgibt ...
Die Urbanová schnauzte er an:
– Glaub nur nicht, daß die Sache für dich erledigt ist!
Voll Abscheu kickte er das Bleistiftetui weg, nach dem sie eben die Hand ausstreckte, und schaltete wieder auf Klára um.
– Wie haben wir’s? Probierst du’s? Keine Angst, wenn’s schiefgeht, nehm ich’s auf meine Kappe!
fügte er gentlemanlike hinzu.
Klára zuckte die schmalen Schultern.
– Warum nicht? Der Genosse Direktor hat’s mir erlaubt.
– Was??
Das war ihnen eindeutig zu hoch, aber der Zeitdruck gestattete nicht, sich jetzt damit aufzuhalten.
– Also, mach schon!
Sie setzte sich aufs Podium, griff in die Schultasche und kramte das Rechenbuch hervor. Ringsum schloß sich hermetisch der Kreis ihrer angespannt schnaufenden Mitschüler. Sie schlug die Seiten mit den Beispielen auf.
– Fünfzehn,
verkündete sie.
– Jemand muß mitschreiben!
befahl Tikal.
– Warte!
rief die Slámová. Sie grapschte nach einem Bleistift und einem zusammengefalteten Papier, aus dem in einem dünnen Rinnsal der Ruß herausrieselte.
– So, jetzt!
– Fünfzehn ...
– Hab ich!
– Zweiunddreißig ...
– Weiter!
– Los, Klára!
– Einundfünfzig ...
– Hör mal, weißt du das genau?
– Sei still, du störst!!
– Wie kann sie das wissen??
– Stopft ihm das Maul!!
– Au, loslassen ...
– Rasch, Klára!
– Fünfundsechzig ...
– Leute, dabei wird mir ganz ...
– Ruhe, verdammt noch mal!! Klára, noch eins ...
– ... und neunundneunzig.
Stille trat ein. Kláras ruhige Gewißheit wirkte so ansteckend, daß niemand mehr seine Zweifel laut werden ließ; die Illusion von Zauberei wurde sofort von der nüchternen Erwägung verdrängt, daß Klára das alles doch nur direkt von Brunát erfahren haben konnte.
Tikal nahm die Organisation in die Hand.
– Bašus, mach schon, ich steh Schmiere! Was du jetzt nicht schaffst, erledigst du nach Geo!
Er bezog am Türspalt Posten, während Bašus nach dem Lehrbuch und der Kreide griff. Gewandt schrieb er das erste Beispiel an die Tafel. Vierzig Augenpaare diktierten es den Händen, die Zahlenreihen, Zahlenkolonnen und Vorzeichen auf Papierschnitzel kleinstmöglichen Ausmaßes kritzelten.
Die Urbanová verfrachtete ihr Eigentum in die Bank und schloß sich nach kurzem Zögern an. Aber Tikal hatte die Augen überall.
– Urbanová! Du drehst dich um und schaust dir Bildchen an! Und wenn du wieder quasselst, flüstern wir deinem Alten, daß du dich mit diesem Korporal herumtreibst!
– Mit was für einem Korporal?
kreischte die Urbanová,
– ich kennen keinen Korporal!!
– Aber bevor das heraus ist, prügelt er dich windelweich!
Sie mußte ihm recht geben. Also drehte sie sich lieber um und starrte hinter Tränen auf die vergilbte Tafel mit der Darstellung anorganischer Kristalle.
Nachdem Schulwart Coufal, Zigarre im Mund, um 10.35 Uhr die große Pause abgeklingelt und die Schülerschaft Hof und Korridore geräumt hatte, verließ das Lehrerzimmer als letzter Professor Brunát, abermals den unheilverkündenden Stapel Schulaufgabenhefte unterm Arm, begleitet von Direktor Plavec persönlich, der ihm auf dem Weg treppauf halblaut keuchend die letzten Instruktionen erteilte.
– Hauptsächlich müssen Sie jedweden Kontakt unterbinden. Keiner darf sich auch nur räuspern. Schließen Sie die Fenster, damit niemand etwas hinauswirft. Ich möchte wetten, die haben sich das Märchen nur ausgedacht, um irgendeinen bärtigen Trick zu kaschieren. Ich, zum Beispiel, hatte –
sagte er vertraulich
– immer, wenn eine Mathe-Arbeit geschrieben wurde, meinen Bruder, der schon Ingenieur war, auf dem Lokus versteckt. Einer von uns hat’s ihm hingebracht, und ein anderer hat’s nach einer Weile zurückgebracht –
noch nach einem halben Jahrhundert grinste er triumphierend
– auf Spickzetteln. Und wie war’s bei Ihnen, Kollege?
Sie waren schon fast an der Tür der 8 a angelangt, aber dennoch hielt der Mathematiklehrer baß erstaunt inne. Er starrte den Direktor mit einem Blick an, in dem sich Subordination und Verachtung miteinander vermengten.
– Ganz normal, Genosse Direktor,
sagte er würdig,
– ich habe alles ausgerechnet ...
– Aha,
machte der Direktor und wechselte rasch das Thema,
– dann Hals- und Beinbruch. Ich halte hier Wache.
Er bezog die Position im Türrahmen der Knabentoilette.
Zweiundvierzig Leiber schnellten zum Gruß empor. Brunát gewährte nickend Sitzerlaubnis und wartete schweigend, bis die Hefte verteilt waren. Zufrieden gewahrte er aus den Augenwinkeln, daß auch bekannte Größen à la Tikal, Brož, Dušek und Ehrenberger noch nie dagewesene Nervosität an den Tag legten. Allein Klára Zimová beobachtete er nicht einmal aus den Augenwinkeln. Die Verteilung war beendet. In der Klasse machte sich Grabesstille breit. So, forderte er den unbekannten Widersacher auf, nun zeig, was du kannst! Laut indes gebot er:
– Fenster schließen! Wer sich umdreht oder wispert, gibt sein Heft bei mir ab und erhält ein Ungenügend. Bašus! Kommen Sie her und nehmen Sie die Brille ab!
Bašus erhob sich entgeistert, trat aufs Podium und wandte ein:
– Ohne Brille sehe ich nichts ...
– Darum geht’s ja!
sagte der Mathematiklehrer und legte die Brille des Schülers aufs Katheder,
– eben darum geht es. Und jetzt greifen Sie mir in die Tasche!
Bašus erstarrte, und nicht als einziger.
– Genosse Professor ...
– Nur unverzagt, Bašus. Was Sie darin finden, ist für Sie. Also, was wird es wohl sein, nun?
Endlich tastete Bašus nach der Sakkotasche des Pädagogen und fingerte schüchtern darin herum. Unsicher sagte er:
– Blättchen ...
– Oho,
sprach Brunát ironisch,
– nun sagen Sie bloß noch, ich hätte Insekten darin!
Bašus hatte sich endlich zurechtgefunden.
– Papierschnitzel ...
– Richtig. Und wieviel mögen es wohl sein, was meinen Sie?
– Ich weiß nicht.
– Dann denken Sie nach, zerbrechen Sie sich, Bašus, ein bißchen den Kopf. Mathematik ist keine Milchmädchenrechnung, sondern vor allem Logik!
– Ich weiß es nicht ...
– Dann will ich’s Ihnen sagen. Es sind genau einhundertundzwanzig, ebensoviel wie Beispiele in unserem Lehrbuch. Sie ziehen jetzt fünf davon brav heraus, dann setzen Sie sich die Brille auf und lesen uns die Nummern vor. So ist es am gerechtesten, was meinen Sie?
Die Klasse starrte ihn mit stummem Grauen an. Einzig Tikal vermochte den Blick von ihm zu wenden und auf die dritte Bank zu heften. Klára lächelte scheu vor sich hin, aus Verlegenheit, wie ihm schien. Er spürte, wie die Luft im Klassenzimmer sich mit Unwillen schwängerte, und dachte ans Ende der Unterrichtsstunde: Wer stellt ihr als erster ein Bein? Brož? Dušek? Ehrenberger? Oder Šefrna? Und wie verhält sich ein Häuptling, der ihr sein Wort verpfändet hat? Sein Wort einem Mädchen? Schon vernahm er das Huronengelächter, aber schon stürzte er sich auch auf sie, um ihnen zu zeigen, wer hier das Sagen hatte, allein gegen vier und doch überlegen, nämlich im Bewußtsein des Rechts, und hauptsächlich unter dem bewundernden Blick der mandelförmigen ...
– Nun, frisch drauflos! Es ist ja ohnehin egal!
Tikal war mit einem Ruck wieder wach.
In Bašusens kurzsichtigen Augen spiegelte sich die Anstrengung, mit der er die zusammengefalteten Zettel aus der Tasche fischte. Schließlich war er beim fünften angelangt.
– Legen Sie alle aufs Katheder,
rief Brunát; im Bewußtsein seiner erdrückenden Vormachtstellung war er nun die Liebenswürdigkeit selbst.
Bašus brachte dies erst nach einmaligem Verfehlen des Katheders zustande. Dann setzte er sich die Brille auf und schaute abermals den Mathematiklehrer an, um sich zu vergewissern, daß dieser nicht scherzte.
– Nur zu,
ermunterte ihn der Professor,
– wie Sie sie betten, so werden sie liegen. Wer etwas gelernt hat, wird Ihnen sicher nicht böse sein.
Bašus faltete also den ersten Zettel auseinander und las vor:
– Fünfundsechzig ...
Die Klasse stöhnte. Brunát hielt es für schiere Verzweiflung. Mit geradezu bösartiger Wonne, die ihn überraschte, die er jedoch der Ungeheuerlichkeit des Betrugs anlastete, nahm er Bašus den Zettel ab und hielt ihn den Vorderbänklern vor die Nase wie der Conferencier einer Fernsehlotterie.
– Fünfundsechzig!
wiederholte er schadenfroh,
– zufrieden? Also, was haben wir als nächstes?
– Zweiunddreißig ...
las Bašus vor.
Die Klasse ächzte.
– Zweiunddreißig, jeder sieht es! Weiter?
– Einundfünfzig ...
Die Klasse schnappte nach Luft.
– Bitte sehr,
demonstrierte der Professor,
– einundfünfzig. Weiter!
– Fünfzehn ... Die Klasse hielt die Luft
an.
– Fünfzehn,
verkündete Brunát marktschreierisch,
– wenn’s beliebt! Und schließlich? Na?
– Sechsundsechzig,
las Bašus vor.
Der Klasse blieb die Luft weg. Verzweifelt vorwurfsvolle Blicke zuckten zur Zimová.
O Gloria, dein wahrer Name ist Wankelmut! Was zählt’s, dies Feuerwerk erfüllter Prophezeiungen, wird es am Schluß von eines Irrtums schnödem Furz entweiht?
Das herrliche Wunder erhielt den nüchternen Anstrich des Zufalls. Schade, bedauerte auch Tikal, es hätte den Alten so schön auf die Palme bringen können ... Aber gleich darauf tat ihm Klárka leid, und er sandte ihr einen aufmunternden Blick hinüber.
– Zufrieden?
ergötzte sich Brunát und nahm Bašus den letzten Zettel aus der Hand,
– sechsunds ...
Da stutzte er und reichte Bašus das weiße Quadrat zurück.
– Warum ist da wohl ein Punkt, Bašus?
– Was für ein ...
Bašus starrte das Quadrat verständnislos aus der Nähe an.
– Nehmen wir an,
sagte Brunát großmütig,
– Sie hätten ihn übersehen, denn sonst müßte ich meinen, sogar Sie, Bašus, fürchten das Beispiel Nummer – wieviel?
Er stellte den Zettel auf den Kopf und zeigte ihn der Klasse.
– Neunundneunzig!
rief die Klasse in begeistertem Unisono.
Klick. Direktor Plavec hob den Kopf. Der Zeiger der elektrischen Uhr am Treppenaufgang informierte ihn, daß seit dem Beginn der Unterrichtsstunde neunundzwanzig Minuten verstrichen waren. Die anfängliche Spannung war einer wohligen Schläfrigkeit gewichen. Na bitte, dachte er, es verläuft normal. Brunát verteilt Zweier, Dreier und Vierer, würzt das Ganze mit einem sporadischen Einser oder Fünfer, und das Rätselraten hat ein Ende. Beim Abendessen mit Fuchs ergibt das eine gelungene Anekdote. Warum haben wir uns damit überhaupt so abgeplagt? Jede Woche errät irgend jemand irgendwo sämtliche Richtigen im Lotto oder Toto.
Die Zimová kam ihm in den Sinn. So ein phantastischer Zufall, und begegnete einem Backfisch bei einer dämlichen Rechenaufgabe! Warum lachte das Glück niemals, nicht einmal von fern, ihm, der sich so um Schule und Stadt verdient gemacht hatte? Mit ein bißchen Glück hätten er und Puppilein längst in der Kreisstadt ansässig sein können, und sie hätte nicht immer wie ein Schulmädel hinfahren müssen, zu ihrer Mutter ... Er vermeinte wieder zu hören, wie sie den neuen Sekretär einen Seladon nannte, und ihm wurde warm ums Herz. Er bekam Lust, sie anzurufen und ihr ein paar nette Worte zu sagen. Abermals blickte er auf die Uhr: Wenn sie hätten schummeln wollen, hätten sie viel früher damit anfangen müssen.
Aber er harrte aus. Jahrhundertealter Instinkt ist kein Vorrecht der Schüler, er ist auch Pädagogen zu eigen. Gleich darauf wurde er belohnt: Langsam bewegte sich die Klinke der 8 a. Mit einer Behendigkeit, die man ihm niemals zugetraut hätte, verschwand Direktor Plavec in der Knabentoilette.
Aus dem Klassenzimmer kam Tikal und schlenderte lässigen Schritts ebendorthin. Er betrat das Reich der porzellanenen Wandschüsseln, begann vor sich hin zu pfeifen und öffnete den Reißverschluß.
– Halt!
dröhnte es da hinter seinem Rücken.
Er brach vor Schreck fast zusammen.
– Umdrehen!
Er drehte sich um, die Hand im Reißverschluß.
– Los, herzeigen!
– Was ...
– Na, was du da hast!
Tikal wurde knallrot. Der Direktor wurde zum Glück gleich darauf deutlicher.
– Also, her mit den Beispielen!
– Mit welchen Beispielen?
Der halbgeöffnete Hosenlatz legte für Tikal Zeugnis ab. Der Direktor stutzte, aber er gab sich nicht geschlagen.
– Und wem hast du da gepfiffen?
– Niemandem ...
– Niemandem? Na, dann wollen wir doch mal nachsehen, wie so ein Niemand aussieht!
Er fing an, eine Tür nach der anderen aufzureißen und aus einer Kabine in die andere zu rennen. Zum Schluß öffnete er, seiner Jugenderinnerungen eingedenk, auch noch das enge Fenster und beugte sich über den Sims hinaus, als könnte darunter, zwei Stockwerke über dem Gehsteig, jemandes Ingenieur-Bruder hängen. Tikal fand mittlerweile Zeit, sich in Ordnung zu bringen, und beobachtete ihn, stumm vor Verblüffung. Schließlich kam der Direktor zum Stillstand und fauchte wütend:
– Also, was machst du hier?
– Bitte, ich mußte mal ...
– Hast du denn so viel Zeit?
– Ich bin schon fertig ...
Direktor Plavec ließ ihn stehen, durcheilte den Korridor und platzte, ohne anzuklopfen, ins Klassenzimmer. Das erste, was er sah, war der Stoß Schulaufgabenhefte auf dem Katheder. Die Klasse sprang mit Gerumpel auf. Der Direktor winkte, als verscheuchte er eine Fliege. Die Klasse blieb stehen. Kollege Brunát hatte den wilden Blick des Wachpostens, dem man den Munitionszug geklaut hat.
– Fertig?
erkundigte sich Plavec mit erstickter Stimme.
Der Mathematiklehrer brachte nur ein Nicken zustande.
– Alle?
hauchte der Direktor.
Brunát räusperte sich, aber die Stimme versagte ihm gleichwohl.
– Haben alle abgegeben?
krächzte er.
– Nein!
ertönte eine unbekannte Knabensolostimme.
Der Direktor witterte einen Rettungsring.
– Wer hat nicht abgegeben?
fragte er hoffnungsvoll.
Alle Köpfe wandten sich zur dritten Bank. Dort, neben der mitleidsvoll-machtlosen Klára Zimová, rechnete, strich und, vor allem, flennte die arme Verräterin Urbanová.