Читать книгу Über den Wolken - Penelope Williamson - Страница 4
KAPITEL 1
ОглавлениеKingly, Virginia, Februar 1919
Sie saß in ihrem Pilotensitz, aller Fesseln ledig, die sie auf der Erde einengten, sie fühlte sich frei. Hoch und immer höher stieg sie, der Sonne entgegen, hinein in den Äther. Laut lachte sie auf. Dafür lebte sie, dafür riskierte sie zu sterben. Den Himmel zu berühren ... und fliegen zu können.
Der Steuerknüppel in ihrer Hand vibrierte, der Takt des Motors und ihr Pulsschlag schienen eins zu werden. Das Flugzeug war nicht länger ein Gebilde aus Holz, Draht und Stoff; es war zu einem Teil von ihr geworden. Cassandra Jones hatte ihre Flügel ausgebreitet.
Sie brachte die Maschine ein wenig in Schräglage und beugte sich hinaus, um auf die Erde sehen zu können, die sie unter sich gelassen hatte. Ein kalter Luftstrom blies ihr ins Gesicht und machte ihre Wangen gefühllos. Erneut lachte sie auf.
Tausend Meter unter ihr wand sich ein Fluß, der breite James River, der aus dieser Höhe wie ein blaßblaues Stoffband wirkte, durch die Tabakfelder, vorbei an Pfirsichhainen und den ausgedehnten grünen Rasenflächen der Plantage der Farrells. Das Wasserband schimmerte in der ungewöhnlich hellen Februarsonne, als wäre es lebendig. Aber das Land, ein Flickenteppich aus Wintergrün und Grau, wirkte eigenartig verlassen.
So ist die Welt am schönsten, dachte Cassie; man sollte sie immer nur von hier oben betrachten.
Cassie bemerkte einen dunklen Schatten, wie von einem riesigen Vogel mit doppelten Schwingen, der unter ihr über die Erde zog. Sie begriff nicht sofort, daß es sich nicht um den Schatten ihres eigenen Flugzeugs handelte, sondern um den einer anderen Maschine, die etwas tiefer rechts von ihr flog. Ihre stille, gehobene Stimmung war im Nu verschwunden.
Sie nahm Tempo weg und ging tiefer, um den Eindringling besser sehen zu können. Es handelte sich um eine zweisitzige de Havilland, einen Doppeldecker britischer Bauart. Im offenen Cockpit konnte Cassie zwei Köpfe hintereinander erkennen. Auf den olivfarbenen Stoff am Rumpf war mit frischer schwarzer Farbe der Name Betsy gepinselt worden. Was für ein alberner Name für ein Flugzeug, dachte Cassie verächtlich. Sie hatte ihr Flugzeug Pegasus getauft, nach dem geflügelten Pferd in der griechischen Sage. Betsy war vermutlich der Name des Pilotenfrauchens im Flugzeug.
Der Pilot mußte Cassie entdeckt haben, denn er wackelte ihr mit den Tragflächen den traditionellen Fliegergruß zu. Cassie erwiderte die Geste nicht.
»Verdammt noch mal!« schrie sie. Das war nicht fair! Ihr Onkel Quigly und sie mußten sich das nötige Geld für den Treibstoff und die Wartung ihres kostspieligen Fluggeräts durch Kunstflugvorstellungen und Passagierrundflüge verdienen, und das war in letzter Zeit schwer genug gewesen. Während des Sommers führten sie deshalb eine Art Zigeunerleben und zogen mit dem Flugzeug an der Ostküste von einem Ort zum anderen; die Wintermonate verbrachten sie hier in Kingly. Bis jetzt gab es so gut wie keine anderen Flugzeuge in Virginia außer ihrem. Es hatte nie an Neugierigen und Erlebnishungrigen gemangelt, die bereit waren, Eintrittsgeld zu bezahlen, wenn eine Pilotin mit ihrer fliegenden Kiste die unglaublichsten Kunststücke vorführte. Einige Zuschauer besaßen sogar genügend Mut und getrauten sich mitzufliegen. Es gab nur einen kleinen Kreis von Männern und ganz wenigen Frauen, die es wagten, die neueste, ja geradezu sensationellste Erfindung der Menschheit selbst zu steuern; und diese Männer und Frauen nannten ihre mutigen Fluggäste »Hopper«. Cassie betrachtete Kingly und Umgebung als ihr Revier; es waren ihre Hopper. Sie wollte sich ihren Kundenstamm von niemandem streitig machen lassen.
Cassie warf einen bösen, frustrierten Blick auf die andere Maschine. Plötzlich kam ihr ein Einfall, und sie mußte lächeln. Sie würde sich so verhalten, wie sich jedes Tier verhielt, dessen Revier bedroht wurde. Sie würde dem Eindringling Angst einjagen und ihn vertreiben.
Wie ein Habicht stieß Cassie aus dem hellen Winterhimmel in die Tiefe.
Erst knapp über der anderen Maschine fing sie den Sturzflug ab und zog in einer Kurve steil nach oben, so daß die äußerste Spitze ihrer unteren linken Tragfläche den sich drehenden anderen Propeller nur um Zentimeter verfehlte. Cassie erhaschte einen kurzen Blick auf das bleiche Gesicht einer Frau, deren Mund zum Schrei geöffnet war, danach sah sie nichts als den weiten, wolkenlosen Himmel. Cassie blickte sich noch einmal kurz um: Das andere Flugzeug schaukelte wild im Luftwirbel ihres Propellers.
Plötzlich spürte sie Schweiß an ihren Händen in den fliesgefütterten Handschuhen, und sie mußte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen fahren. Um Himmels willen! Mit ihrem gefährlichen Flugmanöver hätte sie beinahe zwei Menschen getötet und womöglich auch sich selbst. Wenn das den Behörden zu Ohren kam, bedeutete das vermutlich Flugverbot für den Rest ihres Lebens. Die Strafe hätte sie aber auch verdient.
Ihre Fingerspitzen kribbelten, weil sie den Steuerknüppel so fest umklammert gehalten hatte, daß die Hände gefühllos geworden waren. Cassie bewegte die Finger und holte tief Luft.
Sie flog eine große Schleife und ging langsam tiefer. Dabei konzentrierte sie sich ganz auf den mechanischen Ablauf ihrer Bewegungen und die vertraute Umgebung unter ihr. Aus der Tabakfabrik und dem Textilwerk, den beiden wichtigsten Industrieanlagen in Kingly, stieg heller Rauch auf. Ein Zug, der wie eine Spielzeugeisenbahn wirkte, schob sich über winzige, silbrig glänzende Schienen in Richtung Lynchburg, der nächstgrößeren Stadt. In der Ferne erhob sich der mächtige blauschimmernde Gebirgsrücken der Blue Ridge Mountains.
Die schrägen Schatten des späten Nachmittags fielen über das brachliegende Weideland, das sie und ihr Onkel als Landebahn benutzten. Sie flog im Tiefflug über die Weide. Wie befürchtet, war das andere Flugzeug vor ihr gelandet. Der Pilot, ein großer, schlanker Mann in Cordhose, kniehohen Stiefeln und einer braunen Lederjacke, stand mit auf die Hüften gestemmten Fäusten da und schaute nach oben. Sie konnte die Wut des Mannes geradezu körperlich spüren.
Eine Frau in einem grell orangefarbenen Mantel stand vornübergebeugt am Rand des Feldes und schien in das wuchernde Unkraut im Graben zu starren. Ein kleiner braun-weißer Hund sprang um sie herum. Sogar aus dieser Entfernung kam Cassie die Frau bekannt vor. Cassie überlegte, was an dem Graben so interessant sein mochte, daß sich die Frau so aufmerksam dafür interessierte, und dann mußte Cassie plötzlich lachen. Das konnte nur die verwöhnte Melodie Farrell sein, die Tochter der reichen Plantagenbesitzer, die sich so erschreckt hatte, daß sie ihr Mittagessen von sich geben mußte!
Als Cassie zur letzten Kurve vor dem Anflug auf die Piste ansetzte, schaltete sie den Motor ab. Sie stellte die Maschine etwas schräg, um den Boden sehen zu können. Danach richtete sie die Nase wieder hoch, der Boden entschwand ihrem Blick, und sie ließ langsam das Höhenruder nach. Die Räder setzten sanft auf, und sie kam am entgegengesetzten Ende des Feldes zum Stehen, so weit wie möglich von dem anderen Flugzeug entfernt. Zumindest hatte sie sich nicht durch eine verpatzte Landung noch einmal lächerlich gemacht.
Cassie nahm ihre Schutzbrille ab und ließ sie um den Hals baumeln. Dann zerrte sie mit den Zähnen die Handschuhe von den Fingern. Argwöhnisch beobachtete sie den fremden Piloten, der auf sie zukam; jeder Schritt zeugte davon, wie zornig der Mann war. Cassie schluckte, schwang sich aus dem Cockpit und sprang auf den Boden. Sie wischte die schweißnassen Hände am Hinterteil des ölverschmierten Overalls ab und drehte sich genau in dem Augenblick um, als der Mann vor ihr stehenblieb.
»Sie sind wohl von allen guten Geistern verlassen!« brüllte er – und verpaßte ihr einen Kinnhaken.
Jemand zog ihr behutsam die Lederkappe vom Kopf und strich ihr die Haare aus der Stirn. Etwas Rauhes, Feuchtes fuhr ihr über die Wange, dann erklang schrilles Hundegekläff.
»Meine Güte, Patches!« sagte eine männliche Stimme mit unterdrücktem Lachen. »Glaubst du nicht, daß wir schon genügend Unheil angerichtet haben? Mußt du sie noch vollsabbern und bellen, daß ihr das Trommelfell platzt?«
Cassie öffnete die Augen und blickte verwirrt in das über sie gebeugte Gesicht. Ein äußerst attraktiver Anblick: ausgeprägte Wangenknochen, blitzblaue Augen, glatte gebräunte Haut und ein breiter Mund mit vollen Lippen. Aber im Gegensatz zum Mund wirkten die Augen traurig. Aus ihnen sprachen Schmerz und bittere Enttäuschung. Eigenartigerweise verspürte Cassie das Bedürfnis, den Mann zu trösten, und strich ihm lächelnd zart über die Wange.
Er erwiderte ihr Lächeln und strahlte über das ganze Gesicht.
»Hallo«, grüßte er.
Ein Schatten fiel zwischen sie. »Das kann nur Cassie Jones sein«, ließ sich Melodie Farrell mit ihrem gedehnten Südstaatenakzent vernehmen. »Schämen Sie sich, Linc Cameron! Eine Frau schlägt man nicht!«
Cassies Hand lag immer noch auf der Wange des Fremden, aber als sie sich wieder daran erinnerte, was geschehen war, zog sie sie zurück. Erst jetzt spürte sie den stechenden Schmerz in der linken Gesichtshälfte.
Sie überwand ihre Benommenheit und wollte sich aufsetzen. Der Pilot faßte sie am Arm und versuchte ihr aufzuhelfen, aber Cassie schüttelte ihn sofort ab. »Ich brauche Ihre Hilfe nicht.«
»Wie Sie wollen.« Er hatte neben ihr gekniet, erhob sich aber jetzt mit einem Ruck und ließ sie am Boden liegen.
Cassie hob den Kopf und funkelte ihn böse an. Der Schmerz hinter den Augen ließ sie zusammenzucken. Trotzdem fielen ihr die in der Nachmittagssonne aufschimmernden Strähnen in seinen braunen Haaren auf. »Sind Sie wahnsinnig? Sie haben mir beinahe den Kopf abgeschlagen!«
Sein Blick verdüsterte sich. »Die Wahnsinnige sind wohl Sie! Wir wären um ein Haar kollidiert!«
Cassie erhob sich schwankend. Er sah ihr finster dabei zu, machte aber keine Anstalten, ihr zu helfen.
»Sie waren nie in Gefahr.« Cassie gab sich Mühe, ihre Lüge glaubhaft klingen zu lassen. »Es war ein simpler Sturzflug, und ich hatte die Maschine die ganze Zeit unter Kontrolle.«
»Einen Teufel hatten Sie! Sie haben sie viel zu spät wieder abgefangen.«
Er sprach keineswegs zornig, sondern gab nüchtern seine Beobachtung wieder, und das ärgerte Cassie, denn sie wußte, daß er recht hatte. Sie war den Tränen nahe, und das ärgerte sie noch mehr.
Sie bückte sich nach der Kappe, damit sie den Fremden nicht ansehen mußte. »Deshalb haben Sie noch lange nicht das Recht, mich zu schlagen. Oder ist das so Ihre Art, auf wehrlose Frauen einzuschlagen?«
»Ich wußte nicht, daß Sie es waren. Ich meine, ich wußte nicht, daß ... ach verdammt!« Er biß die Zähne zusammen und preßte hervor: »Außerdem machen Sie gar nicht so einen wehrlosen Eindruck, wie Sie vorgeben.«
Sehr zu Cassies Mißfallen, hatte Melodie Farrell den Fremden bewundernd angesehen und kicherte plötzlich: »Wenn du dich nicht wie ein Junge benehmen würdest, dann würde man dich auch nicht so behandeln, Cassie.«
Cassie drehte sich zu ihr um. »Daß man in dir natürlich immer nur ein anlehnungsbedürftiges, hilfloses Weibchen sehen kann, das ist klar, Melodie Farrell.«
Cassie dachte verächtlich daran, wie sehr Melodie ihre Weiblichkeit durch modische, teure Extravaganzen zu betonen pflegte, aber unwillkürlich beneidete sie sie auch ein wenig. Heute trug Melodie einen weiten Mantel aus orangefarbener Wolle mit Pelzbesatz. Er ging ihr, wie es der neuesten Mode entsprach, bis zehn Zentimeter über die Knöchel, so daß man die geknöpften Stiefeletten aus marineblauem Wildleder sehen konnte. Wie lächerlich mußte sie selbst in ihrem schmutzigen, geflickten Overall und der viel zu großen Tweedjacke in den Augen des Fremden aussehen!
Melodie spürte Cassies Unbehagen und lächelte zuckersüß. »Männer lieben es nun einmal, wenn Frauen hübsch aussehen. Auf diese Idee bist du wahrscheinlich noch nicht gekommen, denn ich habe nicht den Eindruck, daß bei dir die Männer Schlange stehen.«
»Ha! Zumindest bin ich nicht einundzwanzig und noch immer unverheiratet!«
Melodie blies die Wangen auf und wurde rot. »Es ist gemein, wenn du so etwas sagst! Dabei weißt du doch genau, daß Monte und ich heiraten wollten, ehe er im Krieg fiel. Nur weil du erst neunzehn bist, übrigens auch schon fast zwanzig, ist damit noch lange nicht gesagt, daß du jemals ... «
»Daß ich je heiraten werde«, beendete Cassie den Satz mit unverhohlenem Spott. »Nein, denn ich werde mich auf keinen Fall jemandem unterordnen, der ... «
»Das reicht!« Die beiden Mädchen erschraken; Cassie sah den Piloten böse an, während Melodie schmollte. »Ich habe den Eindruck, daß ihr euch nicht das erste Mal über dieses Thema streitet, und offen gestanden, ich finde das Ganze ziemlich langweilig.«
Der arrogante, überhebliche Gesichtsausdruck des Fremden war aufreizender als seine Worte. Cassie war derart empört, daß ihr der Zorn förmlich aus den Ohren rauchte. Er war offenbar einer jener Männer, für die Frauen nichts weiter als ein dämlich lächelnder Aufputz waren, deren einzige Daseinsberechtigung darin bestand am Arm eines Mannes zu erscheinen, ihn zu bewundern und hübsch zu sein, um ihm so »zur Ehre zu gereichen«. Der Gedanke machte sie so wütend, daß sie am liebsten losgebrüllt hätte.
Statt dessen schlug sie die Augen auf und klimperte mit den Wimpern. »Verzeihen Sie, daß wir Sie gelangweilt haben, Mister ...«
»Linc Cameron. Und der Köter heißt Patches«, stellte der Fremde sich und den kleinen Hund zu seinen Füßen vor, der Cassie mit heraushängender Zunge anblickte.
Während Cassie noch nach einer passenden Replik suchte, grinste der Fremde sie breit an.
»Wir freuen uns, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss ... Jones, nicht wahr?«
Er hatte wirklich ein wunderbares Lächeln, dachte sie – wenn er nicht gerade auf diese überhebliche, spöttische Art grinste. Vermutlich wußte er genau, wie sein Lächeln auf Frauen wirkte. Nun, er würde sehr bald herausfinden, daß es auf sie keinen Eindruck machte.
Mit süffisantem Grinsen antwortete sie: »Um Ihnen die Langeweile zu vertreiben, Mr. Cameron, schlage ich vor, daß Sie und Miss Farrell von hier verschwinden. Sie befinden sich auf Privatbesitz, und ich gebe Ihnen genau eine Stunde, dann sind Sie und Ihre Schrottkiste« – sie deutete auf die Betsy – »von meinem Flugfeld verschwunden.«
Cassie stapfte davon, überzeugt, daß ihm seine Selbstzufriedenheit damit vergangen war.
Unglücklicherweise verdarb ihr der dämliche Hund den Abgang. Patches jagte hinter ihr her, sauste voraus, pflanzte sich direkt vor ihr auf und bellte sie aufgeregt an.
»Verschwinde«, flüsterte sie.
Der Hund sah flehentlich zu ihr auf, legte den Kopf schief, und Cassie wäre beinahe schwach geworden. Er war ein so häßliches, kleines Ding, daß er schon fast wieder süß war, mit seinem Mopsgesicht und dem dunkelbraunen Fleck über dem einen Auge, wie ein einäugiger Pirat. Der Name paßte zu ihm, denn sein stämmiger Körper war mit diesen braunen Flecken übersät.
»Komm zurück, Köter!« rief der Fremde lachend. »Ich glaube, die Dame schätzt deine Gesellschaft nicht.«
Der Hund zögerte einen Augenblick, winselte leise und gehorchte schließlich seinem Herrn. Cassie mußte sich zwingen, sich nicht nach ihm umzudrehen.
Aber Linc Cameron ließ Cassie nicht aus den Augen, als sie auf den baufälligen Schuppen am Rande des Flugfeldes zuging. Der unförmige Overall konnte zwar den weiblichen Schwung ihrer Hüften nicht ganz verbergen, aber sie sah darin trotzdem aus wie ein Zirkusclown. Die runden grauen Augen waren viel zu groß für das spitze Koboldgesicht. Ihr Haar war lang und lockig, eine wirre Mähne, doch von einem so warmen Goldton, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Allerdings war sie ungefähr so umgänglich wie eine Sumpfnatter.
»Was ist denn los mit ihr?« fragte Linc.
»Ach, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf; so ist Cassie Jones eben.« Melodie Farrell schob ihren Arm unter den seinen und lehnte sich an ihn. »In Kingly halten sie alle für verrückt. Sie beteiligt sich an diesen dummen Protestmärschen, bei denen die Frauen das Wahlrecht fordern. Als ob es für uns Frauen nichts Wichtigeres gäbe! Sie war deswegen sogar schon einmal im Gefängnis. Und dann die Fliegerei! Warum müht sich ein Mädchen mit diesen schmutzigen Maschinenungeheuern ab? Einmal habe ich sie gesehen. Sie werden es nicht glauben, Linc, aber sie war von Kopf bis Fuß mit Öl verschmiert, als hätte sie sich darin gewälzt. Wie ein Schwein in der Suhle!«
Melodie lachte, aber Linc konnte nicht einmal lächeln. Melodies Lachen erstarb sehr schnell, und sie bat fröstelnd: »Fahren wir doch zurück ins Haus, Linc, mir ist kalt bis auf die Knochen.«
Endlich wandte Linc den Blick von Cassie und widmete sich wieder Melodie. »In Ordnung. Ich muß nur noch die Betsy vertäuen.« An der Frontseite des Schuppens, der Cassie als Hangar für das Flugzeug und ihrem Onkel Quigly als Werkstätte diente, hing ein ramponiertes Transparent mit der verblichenen roten Aufschrift AEROPLANFLÜGE. Eine mit Blech gedeckte Holzhütte lehnte an der Seite des Schuppens, als wäre sie schon zu alt und zu müde, um allein stehen zu können.
Cassie stieg die ausgetretene Treppe an der Vorderseite des Hauses hoch, blieb aber an der Tür stehen und drehte sich gegen ihren Willen noch einmal um. Der Fremde begleitete Melodie zu dem teilweise chromglänzenden grünen Sportwagen der Farrells, der am Rand des Schotterweges zum Flugfeld geparkt war. Der Pilot hatte den Arm um Melodies Taille gelegt; sie lehnte sich an ihn, legte den Kopf in den Nacken und lachte über etwas, das er sagte.
Cassie strich sich die Haare aus den Augen und sah ihnen nach. Sie redete sich ein, daß sie um nichts in der Welt mit Melodie Farrell tauschen wollte. Melodies Bruder mochte der größte Tabakpflanzer der Gegend sein, aber Melodie hatte nicht gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie hatte nichts anderes im Kopf, als sich einen Mann einzufangen, irgendeinen Mann. Jahr um Jahr verging, und die Suche nach einem Mann wurde immer verzweifelter. Aber vielleicht hatte der Fremde, dieser Linc Cameron, nichts dagegen, sich einfangen zu lassen.
Cameron half Melodie in den Beifahrersitz des Sportwagens und behandelte sie dabei so vorsichtig wie ein rohes Ei. Dann schwang er sich mit einem betont sportlichen Satz hinter das Steuer. Cassie schnaubte verächtlich und höchst undamenhaft. Sie war froh, daß sie ihm gesagt hatte, er solle mit seiner Maschine vom Flugfeld verschwinden. Da die hilflose kleine Melodie nicht Auto fahren konnte, mußte er sie nach Hause auf die Plantage fahren und danach zu Fuß zum Flugzeug zurückkommen. Etwas umständlich, aber es geschah ihm recht.
Cassie wartete darauf, daß er das Auto rasant auf die Straße lenkte, daß die Steine nur so hochsprangen, statt dessen wandte er den Kopf in ihre Richtung und pfiff. Sie wunderte sich einen Augenblick, ob das Pfeifen ihr galt, aber dann bemerkte sie, daß Patches, der Hund, auf halbem Weg zwischen dem Auto und dem Haus mitten auf der Erde saß und sich unsicher nach Cassie umsah. Als sein Herrchen pfiff, wanderte sein Blick zwischen den beiden hin und her. Dann sauste er auf den Sportwagen zu und sprang auf den Notsitz.
»Blöder Hund«, murmelte Cassie, drehte sich um und ging ins Haus.
Sie zog ihre schwere Jacke aus und hängte sie zusammen mit der Lederkappe und der Schutzbrille an einen Haken neben der Küchentür. In der Küche war es kalt, und sie legte ein paar Stücke Kohle in den Kanonenofen. Danach nahm sie die abgeschlagene emaillierte Kaffeekanne vom Herd und füllte sie an der altmodischen Handpumpe neben dem Spülbecken mit Wasser. Dabei fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster. Auf der Nase saß ein schmutziger Ölfleck, und sie wischte ihn verärgert ab. Wahrscheinlich war der Fleck schon die ganze Zeit da gewesen, auch als sie den Piloten vom Flugfeld gewiesen hatte. Er und Melodie lachten sich vermutlich krumm darüber.
Cassie füllte zwei Eimer mit Wasser und leerte sie in die Blechwanne hinter dem Papierwandschirm in einer Ecke der Küche. Dann ging sie zum Spülbecken zurück und füllte die Eimer aufs neue.
Viermal mußte sie noch gehen, dann war die Wanne halbvoll. Sie zog den Overall aus, schlüpfte aus dem abgetragenen Flanellhemd, das sie darunter trug, und schob beides mit dem Fuß beiseite. Was machte es aus, wenn sie in ihren Kleidern lächerlich aussah; beim Fliegen war sie gern warm und bequem angezogen. Wenn Linc Cameron tatsächlich der gute Pilot war, für den er sich hielt, dann müßte er wissen, daß es nicht sehr praktisch war, wenn man beim Fliegen angezogen war, als wäre man soeben einem Modejournal entstiegen.
Cassie lächelte, als sie daran dachte, wie sich Melodie im Gebüsch übergeben hatte – sehr undamenhaft. Das hatte bestimmt keinen guten Eindruck auf den Mann gemacht. Und was das gute Aussehen anging: Jemand sollte Melodie wohlmeinend darauf aufmerksam machen, wie dick sie in dem unförmigen orangefarbenen Mantel aussah. Bei dieser Gelegenheit könnte man ihr gleich sagen, daß ihr Geschmack ganz allgemein manchmal zu wünschen übrigließ. Plötzlich wunderte sich Cassie, warum sie auf einmal ihre Zeit mit Gedanken an Melodie Farrell verschwendete.
Weil du eifersüchtig bist, stichelte eine innere Stimme.
»Bin ich nicht!« verteidigte sie sich.
Cassie zog das Baumwollmieder und die Unterhose aus und stieg in die Wanne. Sie setzte sich und verzog das Gesicht, als das kalte Wasser den Bauch berührte. Die Wanne war so klein, daß sie die Beine bis an das Kinn ziehen mußte.
»Linc Cameron.« Sie sprach den Namen laut aus. Wie gut er Melodie Farrell wohl kennen mochte?
Hoffentlich erzählte er nicht in ganz Kingly groß herum, wie sie ihn mit der Spitze der Tragfläche beinahe gestreift hatte. Quigly erfuhr besser nichts davon, daß sie durch ihre Unvorsichtigkeit um ein Haar einen Zusammenstoß verursacht hätte. Quigly würde nicht böse sein – er wurde nie böse. Aber er wäre sehr enttäuscht darüber, daß sie absichtlich ein anderes Flugzeug gefährdet hatte. Fliegen war auch ohne unnötige Risiken gefährlich genug. Quigly machte ihr ständig Vorhaltungen, daß sie zu impulsiv reagierte, sobald sie die Hände am Steuerknüppel hatte.
Was machte Linc Cameron überhaupt hier in Kingly? Cassie dachte angestrengt darüber nach. In einem kleinen Ort wie Kingly gab es nicht genügend Fluggäste für zwei Flugzeuge. Andererseits war Ward Farrell, Melodies Bruder, im Krieg Kampfflieger gewesen; vielleicht hatten sich die beiden Männer in Frankreich kennengelernt? Vielleicht war Linc Cameron zu Besuch bei Ward? Vielleicht war er gekommen, um Melodie den Hof zu machen?
Bei dem Gedanken daran verfinsterte sich Cassies Miene unwillkürlich.
Plötzlich fröstelte sie in der Badewanne. Sie wusch sich rasch im kalten Wasser und stieg triefend naß aus der Wanne. Mit einem dünnen Handtuch trocknete sie sich ab und wickelte es danach um die nassen Haare. Noch nackt tappte sie über den Linoleumboden in ihr Zimmer. Als sie am Tag nach dem Tod ihrer Mutter vor der Tür ihres Onkels erschienen war, hatte es in diesem Haus nur zwei Zimmer gegeben. Nach einiger Zeit waren sie und Quigly übereingekommen, daß Cassie bleiben würde; damals hatte Quigly ein drittes Zimmer angebaut, damit sie einen eigenen Raum hatte.
Cassie griff gerade nach einem Hausmantel, als jemand energisch an der Haustür klopfte. Sie nahm an, daß es Wilhelmina Wright war, die Eier zu verkaufen hatte. Wilhelmina war die Frau eines Pächters, der in der Nähe ein Stück Land der Farrells bewirtschaftete; Wilhelmina hielt Hühner und trug damit auch etwas zum mageren Einkommen ihres Mannes bei.
Cassie schlüpfte in den Morgenmantel und band den Gürtel um die Taille. Sie ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Vom Fenster aus konnte sie nicht zur Veranda hinübersehen, aber wenn sie laut genug rief, dann mußte Wilhelmina sie hören.
»Komm herein, Willie! Ich bin gleich soweit!« schrie sie. Gleich darauf quietschte die Haustür, und Cassie schloß das Fenster.
»Auf dem Ofen steht Kaffee«, sagte Cassie laut, damit man sie auch im Nebenzimmer noch verstand. »Bediene dich!« Sie riß sich das Handtuch vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Es gab keinen Grund für Cassie, sich weiter anzukleiden; Willie würde das nicht stören.
»Hast du dir Kaffee genommen, Willie? Du wirst staunen, wenn ich dir von dem großartigen Mann erzähle, den ich heute kennengelernt habe ...«
Cassie blieb wie angewurzelt in der Tür stehen. Sie war so beschämt, daß ihr die Luft wegblieb. Der Fremde lehnte an der Spüle und hielt eine Tasse mit dampfendem Kaffee in der Hand. Der gefleckte Hund lag zusammengerollt auf dem Teppich vor dem Ofen und fühlte sich offenbar wie zu Hause.
»Guten Tag, Miss Jones«, grüßte Linc Cameron und lächelte sie strahlend an.
Cassie stemmte die Hände auf die Hüften und ging wütend auf Linc zu, der sie belustigt beobachtete. Der dünne Hausmantel klaffte von der Taille abwärts auseinander und enthüllte ihre wohlgeformten Beine. Am Oberkörper schmiegte sich der Stoff eng an die feuchte Haut, und der tiefe Ausschnitt gewährte einen vielversprechenden Einblick. Im Overall und mit der dicken Jacke hatte Cassie ziemlich dürr gewirkt. Aber jetzt mußte Linc feststellen, daß sie dort, wo es darauf ankam, keineswegs knochig war.
Es schien sie auch nicht aus der Fassung zu bringen, daß sie, nur mit einem dünnen Baumwollmantel bekleidet, einem Fremden in ihrer Küche gegenüberstand. Sie blieb vor ihm stehen, so nahe, daß er sie hätte berühren können. Er verkniff sich ein Lächeln und konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Sie wirkte keineswegs erfreut.
»Kommen Sie immer ungeladen in fremde Häuser und nehmen sich Kaffee?« fragte sie wütend.
»Aber ich wurde doch hereingebeten! Ich habe deutlich gehört, daß Sie sagten, ich möge hereinkommen.«
»Ich sagte: Willie! Heißen Sie Willie?«
»Man verwechselt mich oft mit Willie. Wir gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Wir sind wie zwei Pflaumen vom selben Baum. Wir sind wie ...«
»Wie Zwillinge? Nur ist Willies Hautfarbe zufällig kohlrabenschwarz, und sie wiegt keine fünfzig Kilogramm.«
Linc lachte herzlich, und Cassie legte die Hand auf den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. Es war eine kindliche Geste, die ihm vor Augen führte, wie jung sie war. Dann fuhr sie kurz und bündig fort: »Was wollen Sie hier?« Der Ton ihrer Stimme machte ihm unmißverständlich klar, daß es ihr, trotz ihrer Jugend, nicht an dem Mut und der Entschlossenheit mangelte, die man zum Fliegen brauchte.
»Ich muß innerhalb einer Stunde mit meiner Maschine von hier fort sein, erinnern Sie sich?«
Cassie sah sich mit übertriebenem Erstaunen in der Küche um. »Ich sehe sie nirgends.«
Er lächelte und strich zart über Cassies geschwollene Kinnbacke, die sich bereits verfärbte. »Ich wollte nur wissen, was aus Ihrem Gesicht geworden ist.«
Cassie zitterte am ganzen Körper, als er sie berührte, aber sie wehrte sich nicht. »Was glauben Sie wohl, was mit meinem Gesicht ist? Es tut weh.«
»Sie müssen mir glauben. Miss Jones, ich war zwar wütend, aber ich hätte Sie nie geschlagen, hätte ich gewußt ...«
»Daß ich eine Frau bin und kein Mann, wie Sie glaubten.«
»So ähnlich, ja. Obwohl Ihr Manöver ziemlich dumm war ...«
»Wer sind Sie?«
Linc wollte antworten, aber noch ehe er etwas sagen konnte, fuhr sie unvermittelt fort: »Ich meine, woher kommen Sie? Was machen Sie in Kingly?«
»Woher ich komme, tut nichts zur Sache. Ich bin nach Kingly gekommen, weil morgen der Grundstein für ein Ehrenmal für einen gefallenen Fliegerkameraden, mit dem ich im Krieg in Frankreich im Einsatz war, gelegt wird. Vielleicht kannten Sie ihn, sein Name war Monte Lane?«
»In Kingly kennt jeder jeden.«
»Natürlich ... morgen wird also der Grundstein für das Denkmal gelegt. Reden werden gehalten, eine Kapelle soll spielen, und ich weiß nicht, was noch alles. Für Monte ändert das nichts; er ist tot. Aber ich wurde eingeladen, um herumzustehen und mich als Kriegsheld bewundern zu lassen. Dieses Heldengetue geht jetzt schon seit zwei Jahren. Dabei würde ich viel lieber nie mehr ...« Er brach ab, weil ihm die Bitterkeit in seiner Stimme unangenehm war.
Cassie tat so, als hätte sie den bitteren Ton gar nicht bemerkt. Aus irgendeinem Grund war sie über seine Antwort erleichtert. »Haben Sie es schon gesehen?« fragte sie lächelnd.
Sie hatte ein entzückendes Lächeln, stellte Linc insgeheim fest. »Was gesehen?« fragte er.
»Das Modell für das Denkmal.« In ihren Augenwinkeln bildeten sich kleine Falten, als würde sie sich über etwas lustig machen. »Es wird eines von diesen spitzen ägyptischen Dingen. Ausgesprochen häßlich.«
Linc lachte. »Ein Obelisk? Der hätte Monte vermutlich gefallen. Kommen Sie auch zu der Feier?«
Sie lächelte wieder. »Ich werde dort sein.«
Sie schwiegen beide eine Weile. Cassie hatte den Blick abgewandt, mußte Linc aber schließlich wieder ansehen.
Linc betrachtete hingerissen das durchdringende Graublau ihrer Augen. »Cassie ...« flüsterte er tonlos.
Sie zuckte zusammen und wandte sich ruckartig von ihm ab. Sie hob einen Arm und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Dabei schob sich der weite Ärmel des Hausmantels nach oben, und der dünne Stoff spannte sich über ihrer Brust.
»Wollen Sie noch etwas Kaffee?« fragte sie unvermittelt.
Linc atmete geräuschvoll aus und warf einen Blick auf seine noch immer volle Tasse. Ohne es zu wollen, verzog er den Mund. »Äh ... nein, vielen Dank.«
Ihr Lachen überraschte ihn. »Sie müssen nicht höflich sein. Ich mache den schlechtesten Kaffee von ganz Virginia. Quigly meint, ich könnte ihn als Unkrautvernichter verkaufen und damit ein Vermögen verdienen.«
»Wer ist Quigly?«
Cassie antwortete nicht. Statt dessen trat sie näher zu ihm, nahm die Tasse aus seiner Hand und goß den Kaffee in die Spüle. Dabei streiften ihre Finger einen Augenblick lang seine.
Du lieber Himmel, schoß es Linc durch den Kopf, das ist doch verrückt. Man verliebt sich doch nicht von einer Sekunde auf die andere.
Cassie stand so nahe vor Linc, daß er den Duft des Seifenparfüms auf ihrer Haut wahrnahm. Er betrachtete ihr Profil. Sie hatte markante Backenknochen, eine kleine Nase und einen vollen Mund mit einer etwas vorstehenden Oberlippe. Ihr Mund zeugte von einer Verletzlichkeit, die nicht zu ihrem herben Auftreten paßte. Sie würde wahrscheinlich nie zugeben, daß sie jemanden brauchte oder daß ihr etwas fehlte, aber ihr Mund verriet ihm etwas anderes.
Eine blonde feuchte Lockensträhne klebte an Cassies Stirn, und ohne nachzudenken, streckte Linc die Hand aus und schob ihr die Haare mit den Fingerspitzen hinter das Ohr. Cassie schien nicht überrascht zu sein, sondern wandte Linc langsam ihr Gesicht zu, als wäre das, was kommen sollte, unvermeidlich. Sie öffnete die Lippen, und er beugte sich über sie.
Cassie erwiderte den Kuß mit bezaubernder Unbeholfenheit und machte ihre Unsicherheit durch die Bereitschaft, rasch zu lernen, wett. Linc preßte den Mund an ihren, und sie erwiderte den Druck mit einem tiefen Seufzer. Linc war so von ihren Lippen verzaubert, daß er gar nicht bemerkte, wie stocksteif sie anfangs vor ihm stand und wie sie sich erst allmählich entspannte. Cassie seufzte noch einmal und schmiegte sich an ihn; Linc schob den dünnen Stoff des Morgenmantels zur Seite und ließ seine Hand über ihre Haut gleiten.
Cassie hielt hörbar den Atem an und entwand sich seinen Armen. Linc wartete auf die unvermeidliche Ohrfeige – die hätte er seiner Meinung nach verdient. Nachdem er aus Frankreich zurückgekehrt war, hatte er feststellen müssen, daß sich die amerikanischen Mädchen um einiges gelöster und freizügiger verhielten als vor dem Krieg. Aber dieser Kuß, das wußte er, war zu schnell gewesen und zu weit gegangen, auch für eine moderne amerikanische junge Frau.
Doch die Ohrfeige blieb aus. Cassie zog nur den Hausmantel fester zusammen, trat zurück und ging um den Küchentisch herum, so daß der Tisch trennend zwischen ihr und Linc stand.
»Du liebe Zeit...« Zitternd legte sie eine Hand auf den Mund.
»Cassie.«
»Du liebe Zeit ...« sagte sie noch einmal. »Bitte keine ... gehen Sie einfach. Bitte.«
Er wollte nicht gehen, nicht so. Nicht ohne Erklärung für den Kuß, und nicht ohne die Gewißheit, sie wiederzusehen.
»Hören Sie mir zu«, bat er leise, »Sie dürfen nicht glauben ... ich möchte ... Ach zum Teufel! Ich mache alles falsch!« Linc holte tief Luft. »Ich weiß, was Sie jetzt von mir denken, Miss Jones. Zuerst schlage ich Sie, dann platze ich ungebeten hier herein und versuche ... versuche Sie zu küssen.« Er lächelte zaghaft.
Cassie schwieg und sah ihn mit ihren großen grauen Augen verschreckt an.
»Cassie ... Ich werde morgen bei der Feier nach Ihnen Ausschau halten. Vielleicht können wir nachher eine Tasse Kaffee trinken?«
»Nein! Ich meine, nein danke. Ich kann nicht.«
Linc zuckte mit den Achseln. Er schnippte mit den Fingern nach Patches, der sein Herrchen vorwurfsvoll ansah, bevor er sich langsam erhob und zur Tür kam. Linc hatte die Hand bereits am Türknauf, als er noch einmal innehielt und sich umdrehte. Cassie stand noch genauso da wie zuvor.
»Es tut mir leid«, versuchte er es erneut.
Cassie hob schnell den Kopf. »Also gut! Es tut Ihnen leid. Aber jetzt gehen Sie endlich!«
Leise fiel die Tür hinter Linc ins Schloß. Cassie hörte das Poltern seiner Stiefel auf der Treppe und das Knirschen der Kieselsteine auf der Auffahrt. Minutenlang stand sie still; nichts war zu hören. Dann sprang zögernd ein Motor an.
Cassie lief zur Tür, riß sie auf und stürzte hinaus auf die Treppe. »Warten Sie! Kommen Sie zurück! Ich habe es nicht so gemeint! « rief sie, während das Flugzeug immer rascher über die Wiese rollte. »Ich habe es nicht so gemeint!«