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KAPITEL 4
ОглавлениеDer alte, verstaubte Ford hielt vor dem schmiedeeisernen Friedhofstor. »Ich brauche nicht lange«, rief Cassie, als sie auf der Beifahrerseite ausstieg.
Quigly blinzelte kurzsichtig in die Nachmittagssonne. »Laß dir Zeit. Ich fahre in der Zwischenzeit zur Bahnstation und sehe mich um, wie es mit dem Verladen steht. Wenn diese Idioten auch nur eine einzige Kiste fallen lassen ...«
Cassie lachte, beugte sich zu ihm und strich ihm über sein schütteres Haar. »Das würden sie nicht wagen. Nicht nachdem du ihnen gedroht hast, sie in Rizinusöl zu kochen, wenn die Pegasus auch nur einen Kratzer abbekommt.«
Es war endlich Frühling geworden. Quigly und Cassie hatten die Pegasus zerlegt und für den Bahntransport nach Kalifornien in Kisten verpackt; dort sollte der von Bean’s Cola veranstaltete Flugwettbewerb quer durch die Vereinigten Staaten bald beginnen. Cassie und Quigly planten, die Pegasus am nächsten Morgen im Güterwagen des Zuges zu begleiten.
Cassie winkte Quigly nach, als dieser den Gang einlegte und das alte Auto wieder anfuhr. Ihre Hand lag bereits auf der Klinke des Friedhoftors, als Räder über den Kies knirschten. Sie drehte sich nochmals um. Eine altmodische Limousine kam auf Cassie zu und fuhr so knapp an ihr vorbei, daß sie zurücktreten mußte. Hinter der gelblichen Scheibe aus Hausenblase erkannte Cassie im Inneren des Wagens die dunklen Augen des alten Mannes. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er sie sah. Cassie erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
Der Mann zog mit seiner blassen, gepflegten Hand den Vorhang am Fenster zu. Die Limousine fuhr durch eine mit Steinsäulen markierte Einfahrt neben dem Friedhof und verschwand auf der gewundenen Auffahrt.
Cassie starrte dem Wagen lange nach. Der Haß, den sie für den Mann in der Limousine empfand, stand ihr deutlich im Gesicht geschrieben.
Dann betrat sie den Friedhof und ging auf dem kiesbestreuten Pfad zu einer Grabstelle, die wie ein Miniaturtempel im griechischen Stil ausgeführt war, mit rundlichen Engelsstatuen und gerieften Säulen, um die sich Weinreben aus Marmor rankten. Auf der blinden Tür des Tempelchens standen die Worte:
SARA, DIE GELIEBTE FRAU VON
LAWRENCE KINGLY
1880 – 1913
Cassie kniete nieder und legte einen Strauß Maßliebchen auf das Grab, um die sie ein gelbes Band geschlungen hatte. Maßliebchen waren die Lieblingsblumen ihrer Mutter gewesen – Maßliebchen und Butterblumen. Jemand anders mußte vor kurzem am Grab der Mutter gewesen sein, denn auf dem Dach des Tempels stand eine große Milchglasvase mit einem Strauß teurer Treibhausrosen.
Zuerst war Cassie verwundert; wer außer ihr besuchte noch das Grab ihrer Mutter? Dann begriff sie und wurde zornig. Wie konnte er es wagen! Wie konnte er es wagen, jetzt Trauer um ihre Mutter zu mimen, während er sie zu ihren Lebzeiten so schändlich behandelt hatte!
Cassie sprang auf und starrte hinüber zu dem großen, alten Haus, das hinter den Ranken von Wildem Wein und Ailanthus-Bäumen undeutlich zu sehen war. Von hier aus konnte man eigentlich nur einen Giebelturm mit grauem Schieferdach und einem einzigen Fenster, in dem sich das Sonnenlicht spiegelte, erkennen. Aber Cassie wußte, daß Lawrence Kingly sie von dort aus beobachten konnte und wahrscheinlich gerade da stand. Cassie zitterte vor Haß.
In Wirklichkeit war es Edward Farrell, der in diesem Augenblick aus dem Turmfenster auf den benachbarten Friedhof blickte. In dem Augenblick, da Cassie Jones aufstand, sich umdrehte und in seine Richtung sah, machte er automatisch einen Schritt zurück, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Dann mußte er über sich selbst lachen. Sie konnte ihn von dort unten unmöglich sehen, und es würde auch keine Rolle spielen, falls sie ihn tatsächlich bemerkte.
Die Tür hinter ihm ging auf, und Edward trat vom Fenster zurück. Schwer auf seinen Stock gestützt, betrat Lawrence Kingly den Raum. Seine ergrauten Haare lagen in dünnen Strähnen über dem runden Schädel, und die blasse Haut spannte sich straff über die ausgezehrten Backenknochen. Seine schwarzen Augen saßen tief in den Augenhöhlen und funkelten; sie waren das einzige an ihm, das noch lebendig wirkte.
»Wie geht es dir, Onkel?« fragte Edward und streckte die Hand zum Gruß aus.
»Was zum Teufel willst du hier?« brummte Kingly und übersah die ausgestreckte Hand. Er hob den Schoß seines altmodischen Gehrocks und setzte sich steif hinter einen raumbeherrschenden, schönen alten Schreibtisch aus Kirschholz.
»Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
»Du meinst wohl, du wolltest sehen, um wieviel näher ich dem Tod bin.«
»Du weißt, daß das nicht stimmt.«
Kingly warf ihm einen ironischen Blick zu. »Alles unverändert. Ich sterbe langsam.« Er stieß ein bellendes Lachen aus, dann stöhnte er vor Schmerz. »Gieß mir einen Whisky ein.«
Edward trat zu einem Teewagen, auf dem unzählige geschmuggelte Schnapsflaschen standen, die meisten davon leer. Er goß einen kräftigen Schluck in ein schweres Whiskyglas, das er Kingly in dessen zitternde Hand drückte. »Ich verstehe nicht, warum ich dich nicht einfach nur besuchen kann.«
»Ach zum Teufel! Du wartest nur darauf, daß ich sterbe, damit du mein Geld in deine schmutzigen Hände bekommst. Ich rieche förmlich deine Geldgier; sie verpestet das Zimmer! Aber laß dir Zeit, mein Junge. Sei nicht unhöflich. Ich habe noch höchstens sechs Monate, sagt der Arzt. Du bekommst also meine Millionen früh genug.« Er hielt inne und lächelte wölfisch. »Vielleicht hinterlasse ich dir alles. Vielleicht. Wenn du dich hübsch bescheiden beträgst.«
Edward konnte die hochmütige Entgegnung, die er auf der Zunge hatte, gerade noch unterdrücken und drehte sich wieder zum Fenster um. Als einziger Sohn von Kinglys einziger Schwester war er der einzige Erbe des Vermögens seines Onkels. Sonst gab es niemanden. Natürlich war da noch Melodie, aber der alte Mann hatte seine Nichte immer für eine »hohle« Nuß gehalten. Und dann gab es noch Cassie ...
Edward kehrte sich wieder seinem Onkel zu, der finster in das mittlerweile geleerte Whiskyglas starrte. Nein, dachte Ward und schüttelte den Kopf. Nein, Lawrence Kingly würde sein Geld lieber einem Tierheim für Hunde überlassen als Cassie. Oder vielleicht doch nicht?
Edwards Blick schweifte finster über den Friedhof hinunter. Cassie schritt mit hocherhobenem Kopf auf das Friedhofstor zu.
»Ist sie immer noch unten?« fragte Kingly barsch.
Edward drehte sich langsam um und sah seinen Onkel nachdenklich an. »Es stört dich, daß Cassie das Grab ihrer Mutter besucht?«
Es war nicht klar zu erkennen, was Kingly dabei empfand, als er antwortete: »Es ist mir vollkommen gleichgültig, was der Bastard meiner Frau tut, solange sie mir vom Leib bleibt.«
»Tut sie das? Ich meine, hält sie sich von dir fern?«
Lawrence Kingly verzog den Mund und entblößte dabei seine gelben Zähne. »Sie haßt mich. Sie hat mich immer gehaßt.«
»Und was empfindest du für sie, Onkel Lawrence? Für das Kind deiner Sara? Bedauerst du vielleicht jetzt, wo der Tod vor der Tür steht, daß ...«
»Halt den Mund! Ich will darüber nicht reden, und über sie auch nicht.« Der alte Mann blinzelte heftig, dann faßte er Edward starr ins Auge und lachte krächzend. »Ich könnte immer noch alles Cassie hinterlassen! Ist es das, was du denkst, Junge? Ich wette, du machst dir in die Hosen vor Sorge, ob ich am Ende doch noch bereue und alles diesem Hurenkind meiner Frau hinterlasse anstatt dir.«
Edward gab sich Mühe, seine Gefühle nicht zu zeigen. Er wollte sich von der leeren Drohung seines Onkels nicht angst machen lassen. Denn es war eine leere Drohung; es mußte so sein!
»Wie es dir beliebt, Onkel Lawrence«, antwortete Ward. »Schließlich ist es dein Geld.«
Lawrence Kingly lachte wieder. »Wahrlich, da hast du recht. Du tust gut daran, das nicht zu vergessen. Warum hörst du nicht endlich mit dem Herumgerede auf und sagst mir, wieviel du diesmal willst?«
Edward wandte sich ab; er konnte dem durchdringenden Blick seines Onkels nicht standhalten.
»Glaub ja nicht, daß ich nicht weiß, warum du wirklich gekommen bist. Du brauchst wieder Geld«, sagte Kingly spöttisch. »Wieviel?«
Edward fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und begann mit seiner vorbereiteten Rede. »Demnächst soll ein Flugwettbewerb quer durch Amerika stattfinden. Das Preisgeld beträgt fünfzigtausend Dollar. Ich könnte daran teilnehmen, aber ich brauche dafür ...«
»Schon gut.« Kingly zog eine Schreibtischlade auf und nahm ein ledergebundenes Scheckheft heraus. »Wieviel?«
»Ich dachte an ... zweitausend?«
Die Feder kratzte über das Papier; Kingly füllte den Scheck aus. Er trocknete die Tinte und schwenkte den Scheck vor Edwards Nase herum. »Jetzt nimm das verdammte Ding und geh mir aus den Augen.«
Edward nahm seinem Onkel den Scheck aus der Hand und ging rückwärts zur Tür; dabei bedankte er sich murmelnd, aber Kingly winkte ihn unwillig hinaus.
Die Tür schloß sich hinter seinem Neffen. Lawrence Kingly saß, allein geblieben, an seinem großen Schreibtisch. Es herrschte lastende Stille im Raum. Vor zweihundert Jahren war der erste Kingly als zwangsverpflichteter Bediensteter aus einem Londoner Gefängnis in dieses Land gekommen. Er hatte sich seine Freiheit erarbeitet und schließlich diese Stadt gegründet. Generationen von Kinglys waren hinter diesem Schreibtisch gesessen, sein Vater und vor ihm sein Großvater. Aber er selbst hatte keinen Sohn, der ungeduldig hinter ihm stand, so wie er einst ungeduldig darauf gewartet hatte, den Platz seines Vaters einzunehmen. Nur sein Neffe, sein habgieriger, liederlicher Neffe, wartete darauf, alles zu erben.
Die Leute in der Stadt – das heißt, die wichtigen Leute in der Textilfabrik, der Tabakfabrik und im Steinbruch, sahen in seinem Neffen selbstverständlich den Erben. Lawrence Kingly konnte bei dem Gedanken daran nur lachen. Die Beziehungen zwischen ihm und der Stadt waren nie besonders freundschaftlich gewesen, warum also sollte er einen Gedanken daran verschwenden, was nach seinem Tod mit der Stadt geschah? Wenn er wirklich alles an Edward Farrell vererbte, dann würde der Stadt zweifellos recht geschehen.
Kingly zog eine goldene Jagduhr aus der Westentasche, öffnete sie aber nicht, um nach der Zeit zu sehen. Er tastete vielmehr nach dem Schlüssel am Ende der Uhrkette und steckte ihn in das Schloß der obersten Schreibtischlade. Er zog die Lade auf; sie war leer, bis auf eine einzige Fotografie.
Er legte das Foto auf den Tisch. Eine junge dunkelhaarige Frau mit sanften Augen blickte ihm entgegen. Er empfand genau das gleiche, wie damals vor zwanzig Jahren – Zorn, Bitterkeit, tiefe Enttäuschung.
»Hure«, sagte er laut. Das voll Haß ausgesprochene Wort hallte durch den Raum.
Sie war ein Niemand gewesen, ein kleines Nichts aus dem Armenviertel am anderen Flußufer. Er hatte sie aus der Hütte geholt, die sie mit ihrem halbverrückten Bruder bewohnte, und sie in sein Haus gebracht, hatte ihr Pelze und Schmuck gekauft und sie geheiratet. Sie hatte es ihm vergolten, indem sie für den erstbesten Mann, der ihr zublinzelte, die Beine breitgemacht hatte. Vor der ganzen Stadt hatte sie ihn zum Narren gemacht. Die selbstgerechten Bewohner von Kingly hatten sich hinter vorgehaltener Hand kichernd erzählt, daß der große, mächtige Lawrence Kingly seine junge, hübsche Frau schon nach kaum einem Jahr Ehe nicht mehr befriedigen konnte. Er hätte Sara am liebsten umgebracht, als er davon erfahren hatte; um ein Haar hätte er sie auch tatsächlich getötet.
Er lachte leise und verbittert. Aber zu guter Letzt hatte seine Frau, seine Hure, den Sieg davongetragen. Sie hatte die volle Wucht seines Zorns zu fühlen bekommen, hatte ihn jedoch am Ende besiegt, als sie das Kind ihrer Hurerei zur Welt gebracht hatte. Das blonde Haar und die grauen Augen ihrer Tochter standen ihm immer als lebendiger Beweis vor Augen, daß Sara ihn betrogen hatte. Er hatte sie verehrt und vergöttert, doch sie hatte ihn nie geliebt, nie!
Er fuhr mit den Fingern über das Gesicht auf dem Foto, als könnte er das spöttische Lachen, das er in den sanften, dunklen Augen zu sehen glaubte, fortwischen.
»Warum?« flüsterte er. »Ach Sara, Sara ... warum hast du das getan?«
Zwei Wochen später und fast fünftausend Kilometer weit entfernt fand in dem noblen Ferienort Santa Monica an der kalifornischen Pazifikküste die größte Luftfahrtschau seit dem Ersten Weltkrieg statt. Der Flugplatz lag auf den flachen Wiesen nahe am Strand. Leroy Irving Bean hatte ihn für das für zwei Wochen anberaumte Fest der Luftfahrt in Beschlag genommen; Bean’s Cola war dabei natürlich nicht zu übersehen.
Die Haupttribüne war mit Fahnen, Wimpeln und riesigen Transparenten in Form von Colaflaschen geschmückt, auf denen das bekannte blau-gelbe Logo von Bean’s Cola aufgedruckt war. Ein Mann in rot-weiß gestreifter Jacke mit einem Megaphon in der Hand versuchte Stimmung zu machen, indem er mit dramatischen Worten die zu erwartenden Kunstflugvorführungen beschrieb.
Cassie und Quigly standen innerhalb der Einzäunung für die Piloten und beobachteten Linc Camerons vortrefflich ausgeführte Rollen, hochgezogene Kehrtkurven und sein Trudeln. Er hatte soeben fünf Loopings hintereinander vollführt – »Eine beachtliche Leistung!« brüllte der Mann in der gestreiften Jacke.
So beachtlich auch wieder nicht, dachte Cassie, mußte aber zugeben, daß sie noch nie schönere Loopings gesehen hatte. Sie legte den Kopf in den Nacken und beobachtete gebannt, wie Linc zuerst in einen leichten Sturzflug ging und die Maschine danach mit voller Kraft hochzog, bis er schließlich im Rückenflug flog. Anstatt den Motor am Wendepunkt des Kreises zu drosseln, in einen Sturzflug überzugehen und so neuerlich ein Looping zu vollenden, flog er mit voller Kraft weiter, rollte eine halbe Umdrehung nach links und flog –nun wieder in normaler Lage – weiter: ein perfekter Immelmann-Turn.
Ein Mann, der neben Cassie und Quigly stand, stieß einen begeisterten Schrei aus. »Große Klasse! Haben Sie das gesehen?«
Cassie und ihr Onkel sahen den Mann an.
Quigly lächelte höflich. »Der Kerl versteht etwas vom Fliegen!«
Cassie rümpfte die Nase. »Ach komm! Ich habe schon bessere Immelmanns gesehen.« Sie verschwieg dabei, daß sie das Manöver ein einziges Mal versucht hatte, dabei war ihr die Maschine abgeschmiert, und sie war zu Tode erschrocken.
Der Fremde neben ihnen grinste, sein Blick glitt prüfend über Cassie, ihren Overall und das Männerhemd aus Flanell.
Plötzlich mußte er lächeln. »Ich finde, Miss, daß der Junge dort oben nicht nur einfach ein Flugzeug fliegt, sondern er paßt in sein Flugzeug wie ein Gentleman in seinen maßgeschneiderten Anzug.«
»Dann kennen Sie also Mr. Cameron?« fragte Cassie gleichgültig.
»Wir flogen zusammen bei der Lafayette-Staffel.« Er hatte sich mit seiner Antwort an Quigly gewandt, als könnte nur ein Mann das starke Band der Kameradschaft verstehen, das der Krieg schmiedete. »Und nachdem ich dann das hier bekam«, er klopfte mit den Fingern an seinen Unterschenkel, und es klang hohl und hölzern, »wurde ich sein Chefmechaniker. Der Junge hatte immer mehr Mut als Verstand. Er flog damals eine Spad, und wenn er die Maschine zurückbrachte, sah sie aus wie eine Ente voll mit Schrot, so zerlöchert war sie.«
Quigly war beeindruckt; Cassie gab sich völlig gleichgültig.
Der Mann nahm die Mütze vom Kopf, fuhr sich mit den Fingern durch den dünnen, rotblonden Haarschopf und setzte die Mütze wieder auf, daß sie ihm auf den Ohren saß. Mit der linken Hand nahm er die Zigarette aus dem Mund und streckte Quigly die rechte Hand entgegen. »Mein Name ist Pete Striker.«
Quigly stellte sich und Cassie vor, und danach unterhielten sich die Männer über den Wettbewerb. Auf der Tribüne hinter ihnen schnappten die Zuschauer lautstark nach Luft, als Linc Cameron in einer langen, kontrollierten Spirale abwärts flog. Cassie vermutete, daß Pete Striker Lincs Kopilot im Rennen sein würde. Es war bestimmt ein Nachteil, einen Kopiloten mit nur einem Bein zu haben; etwas übertrieben, eine Freundschaft so weit zu treiben. Dann mußte sie lachen. Die meisten Leute hielten es vermutlich für einen noch größeren Nachteil, mit einem weiblichen Kopiloten zu fliegen.
Linc trudelte zu lange. Die beiden Männer neben Cassie hatten aufgehört zu reden. Cassie grub die Fingernägel in die Handflächen, um ihre Unruhe nicht zu zeigen.
»Er trudelt zu lange«, ließ sich Quigly jetzt vernehmen und sprach damit genau Cassies Befürchtung aus.
Der rotblonde Mann sah nicht einmal auf, als könnte er dem Manöver die Gefährlichkeit nehmen, indem er sie einfach nicht zur Kenntnis nahm. »Er trudelt immer bis zur allerletzten Sekunde.«
Aber Linc trudelte immer noch, und es blieben ihm nur noch ganz wenige Sekunden! Er brauchte zumindest siebzig Meter Höhe über dem Boden, um die Maschine wieder abfangen zu können. Das Flugzeug war jetzt bereits so tief, daß Cassie Lincs Kopf sehen konnte; sie konnte bereits deutlich die braune Lederkappe von dem blassen Oval seines Gesichts unterscheiden. Das laute Dröhnen des Motors schmerzte in den Ohren.
Hör auf, rief sie ihm im stillen zu und preßte die Augen zusammen, da sie nicht mehr länger hinsehen konnte. Lieber Gott, laß ihn aufhören, bitte, jetzt ... Linc, bitte!
Plötzlich änderte sich die Tonlage des Motorengeräusches. Quigly stieß einen erleichterten Seufzer aus, und Cassie öffnete die Augen. Die Nase der Betsy zeigte himmelwärts, während die Tragflächen durch das lange Gras auf dem Flugfeld zu kämmen schienen.
Cassie wandte sich zu Pete Striker um. Sie war so erschrocken, daß sie nicht wußte, ob sie schreien oder weinen sollte. »Das war ... das war einfach dumm von ihm! Er hätte sich umbringen können!«
Striker sah blaß aus, und sein Lächeln war nicht ganz echt. »In Frankreich hat er es auf mindestens ein halbes Dutzend Bruchlandungen gebracht. Dabei hat er nie viel mehr als einen Kratzer abbekommen. Mit der Gefahr wird es mit der Zeit wie mit einem Gewürz, entweder man gewöhnt sich daran, oder man kann nicht mehr ohne sie leben, vielleicht ist es auch beides.«
»Ich für meinen Teil kann sehr gut ohne diese Würze leben!« Cassie war zornig und ging davon; aber Quigly war der verdächtige Glanz in ihren Augen nicht entgangen, als sie die Tränen zurückhielt.
Striker fragte ihn etwas über die Pegasus, aber Quigly hörte nicht richtig hin. Bisher war er der Meinung gewesen, daß Edward Farrell der Grund für das Gespräch gewesen war, das er und Cassie damals im Februar über das Thema Liebe geführt hatten. Jetzt war er nicht mehr so überzeugt davon. Quigly war immer sehr darauf bedacht gewesen, Cassie ihre Unabhängigkeit und ihr Privatleben zu lassen, und er wollte sich auch jetzt nicht einmischen. Aber es konnte nicht schaden, diesen Linc Cameron kennenzulernen und sich selbst ein Urteil zu bilden.
Der Mann mit der rot-weiß gestreiften Jacke hatte wieder zum Megaphon gegriffen und wandte sich jetzt erneut an die Zuschauer auf der Tribüne. »Meine Damen und Herren, als nächstes werden Sie jetzt Miss Cassandra Jones sehen, Amerikas hübscheste Pilotin. Die Kunststücke, die sie vorführen wird, sind so wagemutig, daß Sie Ihren Augen nicht trauen werden. Miss Jones wird sich über die Schwerkraft hinwegsetzen und aufrecht auf der oberen Tragfläche des Flugzeugs stehen, während ihr Pilot ein Looping nach dem anderen dreht. Kein sichtbares Hilfsmittel wird sie mit dem Flugzeug verbinden.
»He! Sind damit nicht Sie gemeint?« fragte Pete Striker.
»Was? Ach ja, ich gehe jetzt besser.« Quigly schüttelte Pete Striker die Hand. »Ich würde später am Nachmittag gern ein Bier mit Ihnen und Mr. Cameron trinken; glauben Sie, daß das möglich sein wird?«
Pete entzündete auf der Sitzfläche seiner Hose ein Streichholz und steckte sich eine neue Zigarette zwischen die Zähne. »Das machen wir gern! Danke.« Er grinste Quigly an.
Quigly fand Cassie bei der Pegasus, wo sie auf und ab ging und auf ihn wartete. Er studierte eingehend ihr Gesicht, entdeckte aber keine Spur mehr von der heftigen Erregung von vorhin. Er begann routinehaft mit der Inspektion des Flugzeugs, obwohl Cassie das gleiche schon getan hatte. Als er nach oben griff und die Spannung der Drähte kontrollierte, wurde ihm plötzlich schwindlig, als hätte er den Kopf unter Wasser. Quigly wurde schwarz vor den Augen, es wurde ihm übel, und er fiel auf die Knie.
Jemand packte ihn an den Schultern. »Quigly!« Er sah auf und blickte in Cassies verschwommenes Gesicht. »Was ist los?« fragte sie besorgt.
»Nichts. Ich habe mich nur zu schnell aufgerichtet«, log er. »Ich hatte eine plötzliche Blutleere im Kopf und wurde schwindlig.«
»Vielleicht sollten wir nicht fliegen?«
»Nein, nein. Ich bin schon in Ordnung.«
Quigly stand vorsichtig auf und zwang sich zu einem Lächeln; es überraschte ihn, daß es ihm gelang. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten, und der kalte Schweiß rann ihm über den Rücken. Er hatte schon öfter unter Luftkrankheit gelitten, aber das war das erste Mal, daß ihm übel wurde, bevor er noch in der Luft war. Er sah Cassies besorgtes Gesicht und dachte daran, wie wichtig dieser Flugwettbewerb für sie und ihre gemeinsame Zukunft war; es hing soviel davon ab. Quigly hoffte nur, daß er die Nerven behielt.
Die Pegasus rollte über die Startbahn, und Cassie schloß den Kinnriemen ihres Lederhelms. Sie saß im vorderen Cockpit, Quigly im hinteren. Quigly flog die Maschine, während sie das wagemutige Kunststück vollführte.
Der Steuerknüppel bewegte sich zwischen ihren Beinen, als Quigly ihn zurückzog und die Maschine sanft vom Boden abhob. Sie flogen im Tiefflug über die Zuschauer auf der Tribüne hinweg. Es war ein bunter Anblick, der sich ihnen von oben bot – die Fahnen und Wimpel und das Meer der nach oben gewandten Gesichter vermengten sich zu einem fröhlichwirkenden Farbgemisch.
Quigly brachte die Maschine in Schräglage, setzte eine Kurve an und ging dabei in Steigflug; Cassie entdeckte eine vertraute Gestalt in einer braunen Lederjacke, die neben der Tribüne mit einem kleineren Mann sprach. Als die Pegasus über ihren Köpfen flog, sahen beide Männer auf. Cassie winkte spontan; der kleinere Mann winkte zurück, aber der größere mit der braunen Lederjacke nicht.
Cassie stellte sich sein finsteres Gesicht vor und mußte lächeln. Sie würde Linc Cameron zeigen, wie man der Menge Gänsehaut bereitete.
In ungefähr dreihundert Meter Höhe beendete Quigly den Steigflug, und der Motor lief ruhig und gleichmäßig. Als sie die für die Öffentlichkeit gesperrten Hangars überflogen, drehte sich Cassie um und gab Quigly das Signal mit den nach oben gekehrten Daumen. Er nickte bestätigend. Das Motorgeräusch war so laut, daß sich ihre Verständigung auf Handzeichen und Einfühlungsvermögen beschränken mußte. Außerdem hatten sie das Manöver schon unzählige Male gemeinsam gemacht.
Cassie stand langsam auf und kletterte aus dem Cockpit auf die Tragfläche. Durch die Ledersohlen ihrer Schuhe spürte sie auf dem gespannten Segeltuch der Tragfläche das Vibrieren des Motors. Wie jedesmal empfand sie eisiges Entsetzen. Für einen Augenblick schloß sie die Augen, holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Jetzt verließ sie das Cockpit und trat hinaus auf die Tragfläche.
Quigly hielt die Pegasus vollkommen ruhig. Cassie stand mit gespreizten Beinen in der Mitte der Tragfläche, und allmählich schwand ihre Angst; eine unheimliche Ruhe kam über sie. Rechts von ihr waren in der Ferne die Berge zu erkennen. Links von ihr dehnte sich der graue Ozean. Über ihr dehnte sich der leere, endlose Himmel.
Cassie sah Quigly an und lächelte über das ganze Gesicht. Sie kniete kurz nieder und zog zwei Kabel unter der dicken Wolljacke hervor. Die Kabel waren an einem Sicherheitsgurt unter Cassies Jacke befestigt, und Cassie hakte die Metallseile in zwei Ösen am Ansatz der Tragflächenverstrebung ein. Auch an den Fußgelenken befestigte sie Bänder und schnallte diese an der Tragfläche fest. Danach richtete sich Cassie wieder auf und winkte Quigly zu, zum Zeichen, daß sie fertig war. Er flog eine weite Kurve und näherte sich wieder der Tribüne. Als er die gewünschte Höhe erreicht hatte, sah Quigly fragend zu Cassie hinüber. Sie nickte.
Die Pegasus ging in Sturzflug.
Ihr war, als ob ihr Magen in die Beine sauste. Der Wind brauste ihr entgegen und preßte ihren Mund in ein maskenhaftes Grinsen. Der Himmel glitt blau verschwommen an ihr vorüber; das Blut rauschte Cassie im Kopf. Als Quigly mit der Pegasus eine größere Kurve zog, spannten sich die Riemen des Sicherheitsgurts. Die Erde drehte sich, und der Horizont tauchte vor ihren Augen auf.
Sie wußte genau, daß sich die Menge mittlerweile unter Stöhnen den Kopf darüber zerbrach, wie sie aufrecht auf der Tragfläche stehen konnte, während das Flugzeug verkehrt herum dahinsauste. Sie spürte natürlich, wie sich die Manschetten in ihre Fußgelenke gruben, wenn die Schwerkraft unerbittlich nach unten zog.
Die Pegasus stieg wie ein Pfeil steil in den Himmel, schien einen Augenblick lang stillzustehen, stürzte in die Tiefe und drehte ein Looping. Cassie lachte laut auf; sie fühlte sich frei wie ein Vogel, der durch die Lüfte segelte.
Nach der Landung bemerkte Cassie, wie blaß Quigly war; Schweißperlen standen auf seinem Gesicht, und sie schickte ihn zurück in den großen Hangar, damit er sich hinlegte. Er widersprach nicht, und das war für Cassie der beste Beweis, daß er sich wirklich krank fühlte.
Besorgt an der Unterlippe kauend, ging Cassie um die Pegasus herum und blieb wie angewurzelt stehen.
Linc Cameron lehnte lässig an der Verstrebung und hielt einen Sicherheitsgurt und ein Drahtseil in der Hand. Im Schatten des Flugzeugs lag Patches, die Nase zwischen den Vorderpfoten vergraben. Zur Begrüßung schlug er mit dem Schwanz auf den Boden.
Linc hatte seine Lederjacke ausgezogen, und das dünne Baumwollhemd legte sich im Wind eng an die muskulöse Brust. Eine Haarsträhne war ihm quer über die Stirn gefallen. Als Cassie in seine blauen Augen blickte, geschah etwas Seltsames mit ihren Beinen: Sie begannen zu zittern, und die Knie fühlten sich an wie Pudding.
Cassie und Linc sahen einander an, und die Spannung zwischen ihnen war förmlich mit Händen greifbar.
Cassie ertrug es kaum. Als Patches angelaufen kam, nützte sie die Gelegenheit und kniete neben ihm nieder. Vor zwei Monaten war Linc Cameron im wahrsten Sinn des Wortes in ihr Leben geflogen, hatte sie zweimal geküßt und war wieder verschwunden. Sie hatte sich zwar – beinahe mit Erfolg – eingeredet, daß er ihr gleichgültig war, dennoch war etwas zurückgeblieben – wie eine leere Stelle. Vielleicht hatte ihr jene körperliche Anziehung gefehlt, die bei jedem ihrer Zusammentreffen sofort zu spüren war und der sie sich jedesmal sehnsuchtsvoll hingegegeben hatte.
Das Gras raschelte, und sein Schatten fiel über sie, aber Cassie hielt den Kopf gesenkt, auch als Linc bereits dicht vor ihr stand.
Während der vergangenen drei Monate hatte sie sich oft überlegt, was sie sagen würde, wenn sie einander hier in Kalifornien wieder begegneten. Es waren ihr mehrere bissige Bemerkungen eingefallen. Jetzt, da sie ihm Auge in Auge gegenüberstand, war alles wie ausradiert.
Er schwang die Kabelrolle vor ihrer Nase herum. »Ist das nicht Betrug?«
Zornig sprang Cassie auf. »Der Mann hat von sichtbaren Halterungen gesprochen. Das hier«, und damit riß sie ihm das Kabel und den Gurt aus der Hand und warf beides ins Cockpit der Maschine, »ist vom Boden her nicht sichtbar. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich das Manöver ohne Sicherung machen würde!« Sie sah ihn abschätzig an. »Im Gegensatz zu anderen Leuten, habe ich nicht das unbedingte Bedürfnis, unnötige Risiken einzugehen. Der arme Patches wäre heute fast zum Waisen geworden.«
Patches winselte mitleiderregend.
Linc warf ihm einen finsteren Blick zu. »Wer hat denn dich um deine Meinung gefragt?«
»Lassen Sie Ihre schlechte Laune nicht an dem armen Hund aus. Nur weil Sie ein ...«
»Ich will keineswegs sterben!« Lincs Anwort kam so schnell, daß Cassie vermutete, Pete Striker hatte Linc ähnliche Vorhaltungen gemacht, während sie und Quigly in der Luft waren.
»Ach zum Teufel!« schrie sie ihn an. »Nur Sekunden fehlten, und Sie wären vor allen Leuten auf das Flugfeld geknallt, vor Leuten, die Sie gern haben, wie Ihr Freund Pete. Leuten wie ...« Sie brach gerade noch rechtzeitig ab.
Linc holte tief Luft. Sie sahen einander zornig an.
Dann lächelte er ironisch und lachte schließlich sogar lauthals. »Eines muß man Ihnen lassen, Cassie Jones. Sie sind von herzerfrischender Offenheit.« Sein Lächeln war gleich wieder verschwunden. »Manchmal zu offen.« Mit seinen Fingern berührte er sie zart am Kinn. »Vielleicht ist es an der Zeit, daß ich genauso offen bin. Vielleicht sollte ich Ihnen sagen, was ich gern mit Ihnen machen möchte ...« Er beugte den Kopf näher. Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Vielleicht sollte ich es Ihnen gar nicht sagen. Vielleicht sollte ich es einfach tun ...«
Cassie glaubte, er würde sie küssen und öffnete in atemloser Erwartung leicht den Mund.
Aber Linc wandte sich ab. Doch plötzlich drehte er sich blitzschnell wieder um und packte sie so fest am Oberarm, daß sich seine Finger tief in ihre Muskeln gruben. »Ich hätte wissen sollen, daß Sie hier auftauchen werden. Was, zum Teufel, bezwecken Sie? Außer, daß Sie Probleme machen und mir den ... und für mich die Dinge verkomplizieren?«
Cassie starrte auf seine Hand, bis Linc sie schließlich losließ. »Sie haben ja eine sehr hohe Meinung von sich, wenn Sie glauben, daß Quigly und ich den weiten Weg nach Kalifornien gekommen sind, nur um zu sehen, wie Sie die Leute hier mit Ihren todesmutigen Flugmanövern in Erstaunen versetzen. Zufällig haben wir die Absicht...«
»Nein, sagen Sie es nicht!« Er lächelte so verächtlich, daß Cassie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. »Sie und Ihr verrückter Onkel werden am Wettfliegen teilnehmen. Du lieber Himmel! Sie haben keine Vorstellung, wie schwierig es werden wird. Wie es derzeit aussieht, wird keiner von uns bis zum Ende durchhalten.«
»Quigly und ich schon. Wir werden die ersten in New York sein.«
»Tatsächlich?« Linc warf einen Blick auf die Pegasus und verzog verächtlich den Mund. »Dazu müssen Sie erst mich und meine Betsy über den Haufen fliegen.« Noch ehe ihm Cassie ihre Meinung über ihn und seine blöde Betsy sagen konnte, trollte er sich.
Linc Cameron konnte einen wirklich wütend machen, so wütend, wie es bisher noch kein Mann bei Cassie geschafft hatte. Sie hatte außerdem den Eindruck, daß ihre Begegnung diesmal etwas anders verlaufen war als alle bisherigen. Plötzlich wußte sie, was es war.
Diesmal hatte er das Gespräch nicht mit einem Kuß beendet.
Im Hangar war es ungemein laut. Motoren liefen dröhnend im Leerlauf, die Bogenlichtlampen zischten, und Männer lachten. Es roch nach frischen Sägespänen und Kaffee. Cassie saß auf einem leeren Ölfaß und goß Benzin durch einen Lederlappen, um Unreinheiten herauszufiltern.
»Das hier ist unsere schärfste Konkurrenz«, sagte jemand hinter ihr.
Cassie drehte sich überrascht um und hätte dabei beinahe den Kanister umgeworfen. »Ward! Was machst du hier?« Voller Erstaunen bemerkte sie, wie er angezogen war: maßgeschneiderter Flanelloverall, Stulpenstiefel, Lederjacke mit Fuchsfellfutter. »Du siehst... toll aus.«
Edward Farrell streckte die Arme seitlich weg. »Gefällt es dir? Ich möchte wie ein Luftfahrtheld aussehen, wenn ich in New York meinen Preis in Empfang nehme. Du hast doch nicht geglaubt, daß ich widerstehen kann, wenn fünfzigtausend Dollar auf dem Spiel stehen?« Er deutete auf den jungen Mann neben ihm. »Ich möchte dich mit Gregory Pearce bekanntmachen. Er wird mein Kopilot sein. Greg, das ist Cassie Jones. Sie ist fähiger als jeder andere Flieger, den ich kenne.«
Cassie lächelte dem Mann zu, der sie nur abschätzig von oben bis unten musterte; damit schien sie für ihn erledigt zu sein. Er war sehr schlank, hatte große, abstehende Ohren und einen auffallend großen Adamsapfel, der wie der Schwimmer einer Angel auf- und abhüpfte.
»Aber was machst du hier?« fragte Cassie Ward nochmals. »Du hast immer felsenfest behauptet, daß du nicht die Absicht hättest, an dem Wettbewerb teilzunehmen.«
Er lachte. »Darf man nicht seine Meinung ändern?«
»Aber warum hast du mir nichts davon erzählt, bevor wir Virginia verließen?«
»Es war wirklich eine Entscheidung in allerletzter Minute, und ich war nicht sicher, ob ich es schaffe. Ich mußte ein Flugzeug beschaffen und danach Greg überreden, als Kopilot mitzukommen.« Ward sah sich im Hangar um. »Eine Menge Leute, was? Wo ist dein Onkel?«
»Er hat sich hingelegt. Er fühlt sich nicht gut, das sagt er zumindest. Aber ich glaube, er wollte einfach ein Schläfchen machen.« Cassie lachte, um ihre Besorgnis zu verbergen. Sie hatte bereits den ganzen Nachmittag versucht, Quigly dazu zu überreden, zum Arzt zu gehen, aber er behauptete steif und fest, daß er nur müde wäre.
»Dein Freund, Mr. Cameron, ist auch hier«, erzählte Cassie mürrisch.
Ward grinste sie an. »Ich weiß. Ich bin ihm bereits über den Weg gelaufen.«
»Ist ... Melodie auch mitgekommen?« Cassie hatte Angst vor der Antwort. Sie wußte nicht genau, warum es ihr so wichtig war, aber das war es eben.
Ward sah sich neuerlich im Hangar um. »Ja, sie ist mitgekommen. Im Augenblick scheint sie allerdings verlorengegangen zu sein.«
Als Melodies Name fiel, spitzte Gregory Pearce die Ohren wie ein Hund, der einen Fasan witterte. »Sie wissen nicht zufällig, wo sie sein könnte?« fragte er Cassie.
Cassie schüttelte den Kopf und gab sich Mühe, ihre hinterhältigen Gefühle nicht zu verraten. Sie hätte ihren Anteil am Preisgeld darauf gewettet, daß sie genau wußte, wo sich Melodie Farrell aufhielt; und es paßte ihr nicht im geringsten, sie dort zu vermuten.
Pete Striker und Patches hatten bereits eine ganze Weile zugesehen, wie sich die in rosarote Seide gekleidete junge Frau vorsichtig einen Weg durch den Hangar bahnte. Schließlich dämmerte es Pete, daß sie auf die Betsy zusteuerte. Patches schien der gleichen Meinung zu sein, denn er knurrte warnend.
»Äh, Linc ...« begann Pete, da Linc ihm den Rücken zukehrte. Linc stand auf einer kleinen Leiter über den Motor gebeugt und tauschte einen defekten Zylinder aus.
Der Schraubenschlüssel fiel Linc aus der Hand, und er schürfte sich die Hand an der Kurbelwelle auf. Genau in dem Augenblick, als das Mädchen auf sie zu kam, fluchte Linc lautstark und ordinär, doch zum Glück auf französisch. Strikers ohnehin schon gerötetes Gesicht wurde noch eine Spur röter.
»He, Linc ...« begann Pete noch einmal.
»Was ist, zum Teufel?« fuhr Linc ihn diesmal auf englisch an. Er drehte sich um, richtete sich auf und hätte sich beinahe den Kopf an der Motorabdeckung angeschlagen. Als er Melodie erblickte, verfinsterte sich seine Miene noch mehr. »Was machen denn Sie hier, Miss Farrell?«
Melodie schmollte und klimperte mit den Wimpern. »Ach du liebe Zeit! Und ich habe geglaubt, Sie würden sich freuen, mich zu sehen.« Patches kam näher und beschnupperte Melodies Rock. Sie verscheuchte ihn und meinte dann kichernd: »Ward hat sich doch noch entschlossen, am Wettfliegen teilzunehmen, und ich werde ihn auf dem Boden unterstützen. Ist das nicht schrecklich aufregend?«
Pete beobachtete mit vielsagend hochgezogenen Brauen, wie Linc elegant von der Leiter sprang. Einige Teams schickten eine sogenannte Vorhut voraus, die an verschiedenen Punkten der Strecke mit zusätzlichen Öl- und Benzinvorräten sowie Ersatzteilen im Fall von Defekten warten sollten. Pete war jedoch der Meinung, daß Melodie Farrell eher ein Ballast als eine Hilfe sein würde, falls sie sich beteiligte.
Die Quasten, die von Melodies Netzumhang baumelten, faszinierten Patches. Er schnappte nach einer, bekam sie mit den Zähnen zu fassen, und Melodie kreischte auf. Pete, der sich soeben eine Zigarette anzündete, erschrak und ließ das brennende Streichholz auf den mit Sägespänen bedeckten Boden fallen. Rasch trat er mit seinem künstlichen Fuß darauf. Linc hatte ihm schon oft Vorwürfe gemacht; es war sehr gefährlich, in der Nähe des Flugzeugs zu rauchen. Bei der schlechten Laune, die Linc in letzter Zeit an den Tag legte, hätte er Pete bestimmt den Kopf abgerissen, wenn er gesehen hätte, wie Pete das Streichholz fallen ließ.
»Sieh doch mal, Linc!« jammerte Melodie so laut, daß Pete zusammenzuckte, »dein schrecklicher Hund frißt mein Kleid auf!«
»Hör auf, Patches!« befahl Linc.
»Ach verdammt!« rief Melodie wieder. »Nun sieh dir das an! Ich habe einen riesigen Fettfleck auf meinem neuen Kleid. So kann ich doch nicht unter Leute gehen! Ich muß ins Hotel zurück und mich umziehen.« Sie lächelte Linc an und strich ihm mit den Fingerspitzen zart über die Wange. »Dieser Mann von Bean’s Cola hat gesagt, am Freitag abend vor dem Beginn des Wettfliegens findet eine große Party statt. Wenn Sie besonders nett zu mir sind, Linc, dann reserviere ich Ihnen einen Tanz.«
Linc lächelte. »Es wird mir eine Ehre sein, Miss Farrell.«
»Melodie, bitte. Sie haben versprochen, mich Melodie zu nennen.«
Er lächelte wieder. »Melodie.«
Bereits im Gehen begriffen, schenkte sie Linc noch ein strahlendes Lächeln. Dann bahnte sie sich einen Weg zwischen Flugzeugen, Werkzeugkisten und Bergen von Ausrüstungsgegenständen. Hinter ihr blieb allen Männern der Mund offenstehen, und jeder wandte den Kopf nach ihr.
Pete sah ihr nach, wie sie hinter der Tragfläche einer Avro verschwand. »Vergiß sie, Linc«, meinte er. »Frauen wie sie taugen nichts. Du solltest dich lieber für eine Frau wie diese Cassie Jones interessieren. Cassie hat mehr Grips in ihrem kleinen Finger als ...«
Linc wischte sich gerade die Hände an einem Lappen sauber und hob zornig den Kopf. »Wer hat dich gefragt?«
Pete zuckte die Achseln. »Patches mag das dämliche Fräulein auch nicht.«
»So? Ich bin aber durchaus fähig, mir meine Frauen selbst auszusuchen. Ich brauche weder dich noch Patches dafür. Und mit Cassie Jones brauchst du mich schon gar nicht zu verkuppeln. Sie macht nichts als Probleme. Das letzte, was ich in meinem Leben im Augenblick brauche, sind Probleme.«